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600068444W
/
VORTRlaE
UND
ABHANDLüNGElSr.
ZWEITE SAMMLUNG.
VORTRÄGE
UND
ABHANDLUNGEK
VON
EDUARD ZELLER.
^Kls
i
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LEIPZIG,
FUES'S VERLAG (R. REISLAND).
1877.
21s .
Ji5i .
Vorwort.
Schon vor zwei Jahren habe ich in der VoiTede zu der
neu aufgelegten ersten Sammlung meiner „Vorträge und
Abhandlungen" eine zweite in Aussicht gestellt, die ich nun-
mehr der Oeffentlichkeit übergebe. Im Vergleich mit der
ersten zeigt dieselbe eine grössere Mannigfaltigkeit ihres In-
halts. Jene beschränkte sich auf Darstellungen, welche der
Religionsgeschichte und der Geschichte der Philosophie an-
gehören, und auf die Besprechung einiger wichtigen neueren
Forschungen auf diesem Gebiet und der Männer, von denen
sie ausgiengen. In der gegenwärtigen Zusammenstellung ist
diese Seite meiner schriftstellerischen Thätigkeit zwar gleich-
falls reichlich vertreten: Nr. 2 — 9, die volle Hälfte des Ban-
des, gehören ihr an. Diesen historischen, literargeschichtlichen
und biographischen Arbeiten habe ich aber unter Nr. 10 — 12
einige rechtsphilosophisch - politische Betrachtungen, unter Nr. 1
eine ausführliche religionsphilosophische Erörtemng , unter
Nr. 13 und 14 zwei Vorträge über die Aufgabe und Bedeu-
tung der Philosophie, und in den letzten Stücken dieser Samm-
lung zwei philosophische Untersuchungen angereiht, von denen
sich die eine mit den Grundzügen der Erkenntnisstheorie, die
andere mit einer in unsere ganze Weltanschauung tief ein-
greifenden metaphysischen Frage beschäftigt. Ich habe mich
nun zwar bemüht, selbst in den rein philosophischen unter
VI Vorwort.
diesen Dai-stellungen die Schulterminologie zu vermeiden, so
weit diess irgend ohne Nachtheil für die Schärfe und Kürze
des Ausdmcks geschehen konnte; allein es liegt in der Natur
der Sache, dass sich hier nicht das gleiche Mass von Gemeinver-
ständlichkeit erreichen lässt, wie da, wo man es mit Begriffen
und Thatsachen zu thun hat, die jedem Gebildeten wenigstens
in ihren allgemeinen Voraussetzungen geläufig zu sein pflegen.
Musste ich mir aber auch sagen, dass diese Theile der vor-
liegenden Sammlung vielleicht nicht für alle meine Leser zu-
gänglich genug sein werden, um ihr Interesse zu gewinnen, so
wollte ich doch um so weniger darauf verzichten, sie ihr ein-
zuverleiben, da die Gegenstände, auf welche sie sich beziehen,
eben jetzt zu den dringendsten Aufgaben des Denkens ge-
hören. Im übrigen habe ich das wenige, was ich zur Erläu-
terung einzelner von den hier vei'einigten Arbeiten zu sagen
hatte, jeder von ihnen an seinem Ort beigefügt.
Berlin, 21. Juli 1877.
Der Verfasser.
Inhaltsverzeicliniss.
Seite
I. Ueber Ursprung und Wesen der Religion. (1877.) 1
II. Religion und Philosophie bei den Römern. (1865.) .... 93
III. Eine Arbeitseinstellung in Rom. Zur Charakteristik römischer
Volkssagen. (1865.) 136
IV. Alexander und Peregrinus. Ein Betrüger und ein Schwärmer.
(1877.) 154
V. Römische und griechische ürtheile über das Christenthum.
(1876.) 189
VI. Die Sage von Petrus als römischem Bischof. (1875) . . . 215
VII. Der Process Galilei's. (1876.) 252
VTII. Lessing als Theolog. (1870.) 283
IX. Drei deutsche Gelehrte , ... 328
1. Albert Schwegler. (1858.) 329
2. Theodor Waitz. (1864.) 363
3. Georg Gottfried Gervinus. (1871.) 372
X. Die Politik in ihrem Verhältniss zum Recht. (1868.) ... 380
XI. Das Recht der Nationalität und die freie Selbstbestimmung
der Völker. (1870.) 399
XII. NationaUtät und Humanität. (1873.) 433
XIU. Ueber die Aufgabe der Philosophie und ihre Stellung zu den
übrigen Wissenschaften. (1868.) 445
XIV. Ueber die gegenwärtige Stellung und Aufgabe der deutschen
Philosophie. (1872.) 467
XV. Ueber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnisstheorie. (1862.) 479
Zusätze. (iSll.) 496
XVI. Ueber teleologische und mechanische Naturerklärung in ihrer
Anwendung auf das Weltganze. (1876.) 527
9r«ekfehl«r.
Y dO • :^ 7 ^fieaasB. ^ deren.
. f74 ^ ^ 7 ^<iis$ x&iML'^ &» sckoa das.
b
L
üeber Ursprung und Wesen der Religion.
(1877.)
1.
Nichts entzieht sich leichter unserem Nachdenken, als
das, was uns täglich umgibt und von Klein auf umgeben hat:
die Dinge, die unseres Wissens immer vorhanden wären, die
Vorgänge, die sich, so weit die Erinnerung reicht, in gleicher
Weise wiederholten, die Annahmen, die seit unvordenklicher
Zeit gegolten haben, die Gebräuche und Uebungen, mit denen
es stets so gehalten wurde. Alles derartige erscheint als et-
was selbstverständliches, das gar nicht anders sein könne;
ebendamit als ein solches, das seine Nothwendigkeit in sich
selbst trage, keiner Rechtfertigung und keiner Erklärung be-
dürfe. Es ist daher immer ein grosser Schritt auf dem Weg
zur Erkenntniss, wenn man es unternimmt, dieses Selbstver-
ständliche zu erklären, oder wenn man wenigstens das Bedürf-
niss seiner Erklärung empfindet. Alle Fortbildung unserer Be-
griffe, alle Aufklämng unseres Verstandes ist nichts anderes,
als ein fortgesetzter Versuch, dasjenige aus seinen Giilnden
zu begreifen, was man zuerst als etwas gegebenes hingenom-
men hatte, ohne nach seinen Ursachen, seinem Wesen und
seiner eigentlichen Bedeutung zu fragen. Dieser Fortschritt
vollzieht sich aber regelmässig in der Art, dass zunächst die
Wahrheit dessen in Frage gestellt wird, was bisher einfach
Zeller, Vorträge und Abbandl. 1
2 lieber Ursprung und Wesen
auf Grund der Gewohnheit und der Auktorität angenommen
, wurde. Alle wissenschaftliche Foi-schung fangt damit an, dass
man in Annahmen und Erscheinungen Schwierigkeiten entdeckt,
in denen man bis dahin keine gefunden hatte. Jedeimann
sieht die Sonne Tag für Tag über den Himmel hinziehen,
Nacht für Nacht das Himmelsgewölbe selbst mit allen seinen
Steinen sich um die Erde drehen: Aristarch und Copemicus
fragen, ob diess denkbar sei. Jedermann sieht, dass der Him-
mel blau und das Gras grün ist, jedeimann empfindet die Hitze
des Feuers und die Kälte des Eises : Demokrit wii-ft die Frage
auf, ob diese Eigenschaften iü den Dingen selbst oder nur in
unserer Empfindung ihren Sitz haben. Jedermann glaubt zu
wissen, was seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden erzählt,
von zahllosen Zeugen wiederholt wird : die wirkliche Geschichts-
forschung beginnt ei'st mit dem Zweifel an der Glaubwürdig-
keit der üeberlieferung, mit der Frage nach den Quellen, aus
denen sie hei-stammt, nach der Möglichkeit und Wahrechein-
lichkeit dessen, was sie berichtet Jedermann hat während
unbestimmbar langer Zeiträume unzählige Voi-stellungen getheilt,
welche die bessere Einsicht der Folgezeit einfach als Aber-
glauben über Bord warf; wenn sie als , solcher erkannt wur-
den, war diess nur dadurch möglich, dass einzelne bahn-
brechende Geister in Zweifel zogen, was allgemein geglaubt
wurde, und durch diesen Zweifel zur richtigen Auffassung und
Erklärung der Erscheinungen, zur Beseitigung jener erdichteten
Thatsachen und jener erträumten Zusammenhänge den Anstoss
gaben, in deren Ei*findung die abergläubische Phantasie sich
ergeht. Immer und überall ist es der Zweifel, der zur Unter-
suchung der Thatsachen und zum Nachdenken über ihre Ur-
sachen nöthigt. Und diess gilt nicht blos von den Fällen, in
denen es sich um die Berichtigung eines täuschenden Sinnen-
scheins, die Widerlegung von Vorurtheilen und leeren Einbil-
dungen handelt; sondern auch solche Thatsachen, die der
voraussetzungslosesten Piüfung, auch solche Ueberzeugungen,
die der schärfsten Kritik Stand halten, sind doch in der Regel
erst in Folge der Anginffe, die sie erfuhren, näher untei'sucht
der Religion. 3
und zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung ge-
macht worden. Wenn niemand zweifelt, empfindet auch nie-
mand das Bedürfhiss, über die Berechtigung einer Annahme
nachzudenken ; sobald dagegen die Wirklichkeit oder die Mög-
lichkeit einer Sache bestritten wird , ist man gezwungen , sich
darüber zu besinnen, was sich als thatsächlich erweisen und
wie dieses Thatsächliche sich erklären lässt.
Nicht anders verhält es sich auch mit der Religion. Die
Menschheit ist, so weit wir wissen, nie ohne Religion gewesen.
Die rohesten und entlegensten, von dem Strome der mensch-
lichen Geistesentwickelung am wenigsten beiilhilen Volks-
stämme kennen doch alle noch höhere Wesen, die sie in ihi*er
Weise verehren; die entferntesten Stimmen, die aus dem Dun-
kel voi-geschichtlicher Zeiträume zu uns heiilbei-tönen , haben
von den Göttern und ihrem Verkehr mit den Menschen zu
erzählen. Aber gierade desshalb ist uns über die erste Ent-
stehung der Religion weder aus geschichtlicher Erinnerung et-
was überliefert, noch war in der Urzeit ein Bedürfhiss vor-
handen, darüber nachzudenken. Sondern erst als man anfieng,
den Götterglauben zu bezweifeln, erst als bei den Griechen
der tiefsinnige Xenophanes dem Polytheismus und den Anthro-
pomoiphismen der Volksreligion die Lehi*e von der Einheit,
der Vollkommenheit, der Geistigkeit Gottes entgegenstellte, als
jene kühnen Aufklärer, die man mit dem Namen der Sophisten
zu bezeichnen pflegt, das Dasein der Götter in Zweifel zogen
und die Götterverehrung zu den menschlichen Satzungen rech-
neten, mit denen es die einen so halten, die anderen anders
— da eret begann man zu fragen, wie denn wohl die Menschen
urspiünglich zu dieser Einrichtung gekommen seien und was
mit derselben eigentlich bezweckt werde. Aehnlich sind in
der neueren Zeit tief^rgehende üntei*suchungen über den Ur-
sprung und das Wesen der Religion theils durch die Angi-iflfe
hervorgenifen worden, welche sich bald im Namen der Natur-
und Vemunftreligion gegen die positive, bald im Namen der
Philosophie gegen die Religion überhaupt gerichtet hatten;
theils durch die Nothwendigkeit, sich über das Verhältniss
4 üeber Ursprang und Wesen
der Wissenschaft zur Religion zu verständigen. Das letztere
Verhältniss war e§ z. B., das erst zu Spinoza's, in der Folge
zu Schleiermachers epochemachenden Bestimmungen über das
Wesen der Religion den Anstoss gab. Auch dieses Verhält-
niss fühi-t aber auf den zuerst berührten Punkt zurück. So
lange für die Menschen alle höhere Wahrheit in der Religion
beschlossen war, hatte man keine Veranlassung, nach dem
Eigenthümlichen zu fragen, wodurch sich diese von anderen
Weisen, jene Wahrheit zu ergreifen, unterscheide; erst als die
Philosophie auf eine selbständige, von der Religion unabhängige
Erkenntniss dei-selben Anspruch machte, erhob sich die Frage,
wozu man der Religion noch bedürfe, wenn beide überein-
stimmen, wenn somit die Wissenschaft den wesentlichen In-
halt der Religion auch allein zu finden im Stande sei, wie
andererseits, wenn sie nicht übereinstimmen, auf wissenschaft-
lichem Standpunkt der Religion überhaupt noch eine eigen-
thümliche Bedeutung zuerkannt werden könne. Auch hier
handelt es sich daher schliesslich um die Entscheidung einer
Frage, die sich dem Nachdenken dadurch aufdrängte, dass
die frühere Alleinherrschaft der Religion durch das Auftreten
einer Nebenbuhlerin bedroht wurde, welche auch in dem Ma-
teriellen ihrer Ergebnisse oft genug mit ihr in Streit kam,
welche aber auch da, wo diess nicht der Fall war, schon dess-
halb mit ihr unvermeidlich in Spannung gerathen musste, weil
jede von beiden auf ihrem Gebiete die höchste Jurisdiktion
für sich in Anspmch zu nehmen genöthigt ist, wähi'end doch
die Gebiete beider nicht blos in einander eingi-eifen, sondern
auf weiten Strecken, wie man annimmt, vollständig zusammen-
fallen.
Gerade in unserer Zeit hat diese Spannung, wie sich
nicht verkennen lässt, wieder einen ungewöhnlich hohen Grad
erreicht. Um so nöthiger ist es, dass man sich über das
Wesen der Ei-scheinung, um die es sich dabei handelt, gi-und-
sätzlich und giilndlich verständige; um so mehr wird aber
auch diese Aufgabe durch die Einmischung von Interessen er-
schwert, deren Einfluss die Unbefangenheit der Wissenschaft-
der Religion. 5
liehen Betrachtung zu trüben droht : bei dem einen Neigung,
bei dem anderen Abneigung; dort der stille Wunsch, üeber-
zeugungen zu retten, deren man für das eigene Gemttthsleben
nicht zu entrathen weiss, hier, oft nicht weniger wirksam, der
Trieb, ein Band ganz zu zerreissen, das man vielleicht lange
Zeit als eine Fessel für das Denken empfunden hat. In der
richtigen Stimmung für eine derai-tige üntersuchuDg befindet
man sich nur dann, wenn man zwar das volle Interesse an
dem Gegenstand mitbringt, um sich in denselben zu vertiefen,
aber auch so viel Vertrauen zur Wahrheit, dass man sie unter
allen Umständen, wie sie auch laute, für einen Gewinn hält,
und desshalb mit jedem Ergebniss zum voraus befriedigt ist,
das aus richtigen Beobachtungen und Schlüssen hervorgeht.
2.
Wenn man nach dem Ui-sprung der Religion fragt, so
kann diese Frage einen doppelten Sinn haben: man wünscht
entweder zu erfahren, wie eine bestimmte Religion ent-
standen ist, oder wie die Religion überhaupt entstanden
ist. Die ei-ste Frage hat die Religionsge schichte zu beant-
worten, die zweite die Religionsphilosophie. Auch über
die Entstehung der besonderen Religionen fehlt es uns zwar
in der Regel ftn einer glaubwürdigen Ueberliefeining ; nur von
den wenigsten wissen wir in dieser Beziehung so viel, wie
vom Christenthunf und vom Muhamedanismus. Aber eine
historische Frage bleibt die Frage nach ihrer Entstehung doch
immer, auch wenn sie sich nur durch Vennuthungen beant-
worten lässt; denn diese Vennuthungen haben von bestimmten
geschichtlichen Voraussetzungen auszugehen, sie müssen sich
auf dasjenige gründen, was uns über die spätere Gestalt und
Geschichte der betreffenden Religionen, über die Zustände der
Völker, unter denen sie entstanden sind, über ihr Verhältniss
zu vei'wandten Religionsformen u. s. w. auf geschichtlichem
Wege bekannt geworden ist. Soll dag^en der Ursprung des
religiösen Lebens als solcher erfoi*scht werden, so steht etwas
in Frage, worüber es der Natur der Sache nach gar keine
6 lieber Ursprung und Wesen
Ueberliefeiiing geben kann, weil es sich dabei nicht um eine
bestimmte Thatsache oder eine Reihe solcher Thatsachen han-
delt, sondern um die allgemeinen GiUnde, aus denen sie alle
zu erklären sind. Selbst wenn wir von allen einzelnen Reli-
gionen genau wüssten, wie es bei ihrer Entstehung zugieng,
hätten wir damit ei*st ein Material, aus dem wir uns die
Gründe und Gesetze abstrahiren könnten, welche den Ur-
sprung der Religion als solcher erklären. Wir sind aber frei-
lich von diesem Wissen so weit entfernt, dass uns vielmehr
bei keiner einzigen Religion, die nicht schon aus einer älteren
hervorgieng, über die Geschichte ihrer Entstehung nur da&
mindeste bekannt ist; dass wir mithin über die erste Ent-
stehung des religiösen Lebens absolut keine geschichtliche
Kunde besitzen. Hier bleibt uns daher nur der Weg der
Hypothese. Wir können einei-seits fragen, wie unter den in-
neren und äusseren Bedingungen der menschlichen Geistes-
entwickelung in der Urzeit Religionen entstehen konnten ; und
andererseits, welche Vorstellungen über die erste Entstehung
der Religion sich durch einen Rückschluss aus der Eigenthüm-
lichkeit der ältesten uns bekannten Religionen gewinnen lassen.
Dagegen kann an eine direkte Ueberlieferung über diese Vor-
gänge aus einem doppelten Gmnde nicht gedacht werden:
theils weil sie sich schon ui*sprünglich , wie wir später noch
finden werden, in ihrem psychologischen Verlaufe, also gerade
in der Hauptsache, der Selbstbeobachtung Entzogen, theils weil
sie einer Zeit angehören, in welche kein Lichtstrahl einer
historischen Erinueiiing hinaufreicht.
Eben diese Umstände haben nun die Annahme veranlasst,
die Religion sei gar nicht aus der eigenen Thätigkeit und Ent-
wickelung des menschlichen Geistes abzuleiten^ sondern sie sei
ihm vor derselben oder unabhängig von derselben gegeben:
sei es nun innerlich, in angeborenen Ideen, oder von aussen
her, durch eine positive Offenbarung. Allein auf dem letzteren
Wege kann die Religion als solche — auch abgesehen von der
allgemeineren Frage über die Möglichkeit und geschichtliche
Nachweisbarkeit einer übernatürlichen Oflfenbai-ung — schon
der Religion. 7
desshalb nicht entstanden sein, weil eine derartige ausdrück-
liche Mittheilung der Gottheit in jeder Beziehung wahr sein
OTüsste ; weil mithin aus ihr nur eine einzige, von keinem Aber-
glauben und keinem Iiilhum vei-unreinigte Religion entsprungen
sein könnte, aber nicht jene zahllosen, über die wichtigsten
Fragen mit einander im Streit liegenden, mit reineren Be-
giiffen über die Gottheit grossentheils so wenig übereinstim-
menden Religionen, die wir in der Welt finden. Diese müssten
daher alle für blosse Entartungen der ui-spi-ünglichen, von der
Gottheit geoflfenbarten Religion gehalten werden. Aber wie
vertiüge sich diese Annahme mit der Thatsache, dass die
GottesverehruDg um so barbarischer, die Vorstellungen von
der Gottheit um so unvollkommener zu sein pflegen, je höher
wir in das Alterthum hinaufsteigen, und dass alle reineren
Glaubens- und Kultusfoiinen, so weit irgend die geschichtliche
Kunde reicht, aus niedrigeren und roheren hervorgiengen ?
während unter jener Voraussetzung das gerade Gegentheil
stattfinden, das religiöse Leben um so reiner und vollkom-
mener sein müsste, je näher es seinem göttlichen Ursprung
steht. Wie kann man überhaupt von einer positiven Offen-
bamng, von einem einzelnen geschichtlichen Vorgang oder
einer beschränkten Anzahl solcher Vorgänge etwas herleiten,
was sich bei allen Stämmen und Völkem, und auch bei sol-
chen findet, von denen sich schlechterdings nicht absehen lässt,
wie die religiösen üeberlieferungen in der Urzeit von den
einen zu den anderen gekommen sein könnten? Eine so all-
gemeine Erscheinung lässt sich auch nur aus allgemeinen Ur-
sachen erklären: ihre Gillnde können nicht in dieser oder
jener geschichtlichen Thatsache, sondern nur in den gemein-
samen Gesetzen und Entwickelungsbedingungen der mensch-
lichen Natur gesucht wei-den.
Nur darf man diess nicht so verstehen, als ob nun die re-
ligiösen Ueberzeugungen und Gefühle, oder irgend ein Theil
dieser Ueberzeugungen, dem Menschen angeboren, ihm ohne
sein eigenes Zuthun unmittelbar von der Natur gegeben wären.
Diess ist gerade so unmöglich, als es angeborene Ideen über-
8 üeber Unpning und Wesen
haupt sind. Es kann ja kein Inhalt auf einem anderen Wege
in unser Bewusstsein kommen, als durch unsere eigene Geistes-
thätigkeit, keine Vorstellung anders, als dadurch, dass wir
sie bilden, kein jGrlaube anders, als dadurch, dass wir salbst
uns irgendwie von seiner Wahrheit überzeugen. Beim Beginn
unseres Daseins können wir keine Vorstellung in dasselbe mit-
bringen, weil wir vor diesem Zeitpunkt die Thätigkeiten nicht
ausüben konnten, durch die wir sie allein hätten gewinnen
können; und auch nach demselben besitzen wir immer nui*
die Vorstellungen, zu deren Erwerb unsere Fähigkeiten und
Hülfsmittel ausi*eichen. Alles geistige Eigenthum der Mensch-
heit ist ein selbsterworbenes ; und auch der Antheil jedes Ein-
zelnen an demselben ist nicht blos kein angeborener Besitz,
sondern strenggenommen auch kein ererbter; denn wie gross
auch die Schätze sein mögen, die unsei-e Vorfahren uns hinter-
lassen haben, wie bedeutend die Beihülfe, die wir fremder Be-
lehrung verdanken : was davon in unseren eigenen Besitz über-
geht, hängt doch in letzter Beziehung immer von dem Um-
fang und der Stärke der Thätigkeit ab, mit der wii* die uns
dargebotenen Stoffe uns aneignen. Auch auf dem religiösen
Gebiete verhält es sich nicht anders. Was die Menschheit
von religiöser Wahrheit und religiösem Leben besitzt, musste
sie selbst sich erarbeiten; was sich von Irrthum und Aber-
glauben damn angesetzt hat, das hat sie selbst ei'zeugt. Ist
nun auch weder das eine noch das andere ein zufälliges Er-
zeugniss, so ist doch jenes wie dieses ihr eigenes Werk; und
eben weil es diess ist, konnte sich die Religion, wie alles
Menschenwerk, nur allmählich aus rohen und düiftigen An-
fängen zu einer edleren und geläuterteren Gestalt emporarbeiten.
Wenn daher der Ui-sprung der Religion untersucht werden
soll, so heisst diess : es soll untersucht werden, wie es kommt,
dass im Laufe der menschlichen Geistesentwickelung in allen
Theilen der Menschheit sich der Glaube an göttliche Mächte
gebildet hat, welche Gestalt fenier dieser Glaube nach den
Bedingungen seiner Entstehung anfangs gehabt , und auf wel-
der Religion. 9
cbem Wege er in der Folge diese seine anfängliche Gestalt
mit einer vollkommeneren vertauscht hat.
Als allgemeine Richtschnur für diese Untersuchung wird
uns ein Satz dienen können, dessen nähere Begründung eine
von den Aufgaben der philosophischen Erkenntnisstheorie ist.
Wenn wir keinen geistigen Besitz in's Leben mitbringen, son-
dern allen ohne Ausnahme erst im Laufe desselben uns er-
werben, so folgt, dass die Erfahiiing die einzige Grundlage
unserer Ueberzeugungen ist. Sie alle drücken in letzter Be-
ziehung nur das aus, was uns in der Wahrnehmung gegeben
ist, oder was von uns selbst aus ihr abgeleitet wird; mag sich
nun jene Wahrnehmung auf Dinge und Vorgänge ausser uns
oder auf unsere eigenen Thätigkeiten und Zustände beziehen,
und mag diese Ableitung in Combinationen unserer Phantasie
oder in Schlüssen unseres Verstandes bestehen. Auch die re-
ligiösen Ueberzeugungen bilden keine Ausnahme von dieser
Regel. Der Glaube an Einen Gott so gut, wie der Glaube an
viele Götter, muss schliesslich aus Vorstellungen herstammen,
die unsere innere und äussere Erfahrung uns liefert; und da
nun alle Religion an diesen Glauben geknüpft ist, können wir
auch für die Religion keinen anderen Urspiung annehmen.
Nun findet sich freilich die Voi-stellung der Gottheit unmittel-
bar als solche weder in unserer inneren noch in unserer
Äusseren Erfahrung; denn jene unterrichtet uns nur über un-
sere eigenen Thätigkeiten und Zustände, diese zeigt uns in
der Köi-perwelt, auf die sie beschränkt ist, nicht allein den
wahren Gott nicht, sondeni auch nicht die falschen und von
Menschen ei-sonnenen Götter ; denn wenn auch manche von den
Wesen, die für Götter gehalten worden sind, der Sinnen weit
angehören, so kann doch das, was sie zu Götteni macht, die
höhere Natur und Wirksamkeit, die der Glaube ihnen zu-
schreibt, nicht mit den Sinnen wahrgenommen, sondern nur
zu dem Wahrgenommenen, als Grund desselben, hinzugedacht
werden. Ist aber der Glaube an die Gottheit auch nicht un-
mittelbar in der Erfahmng gegeben, so ist er nur um so ge-
wisser mittelbar aus dei-selben entspmngen. Eben diess ist
rfiiw!r Hfianlnfir irvoTtüMie^h wrrfmsauL mä jl ^«ekccr Weiss
Ihm .fiKzüert^ ^ar ioxl :ia lilsememeiL mr iaönrcä nide:-
;i<*h. i«m nan rie L'i^ftcriuRL ier ErsrhPfmmgBH. inBocäceL lisa
mi^h Sdilibwe Ton »»n WirkmuEEn lax oe Vrem^hRm^ War
an vi^ «iörter jixObr. ier -iCttresnt ;erteai timi jbbesl ct. ä-
-^rifiotf^t W-:rkinuBS«ehiet: zu. -»r lefcer jcewise Dinee ind Vtjr-
^i^fure 7on ihm her: mit er )iidet iscii lb@r iim. iiei6iiie£5a.
Vor^tHlmuren . «»r .esc imn de^enigen SiizssisehadEs. bei. jeos
ienen er üe Wlrtnnusea -erklären, za 'Äimta. .danbr. tie toh
ihm herareiertet . jehotft «irter zefftrchier ■▼ercLBa. W*ar nnr aa
Einen Gott tjUmbt. •t^' ienkr ^n Jm ais de üische aües
Wirklichen ohne Ausnahme; und ^aaxsx Jm ifr^gtiaih mir ^er
(U>T Vollkommenbeit aas. 'üe »»r besitzen unsg. wemi ^ek aUesy
4ie <7ejg(i4re ^ erat, wie 'tie ELi^rpeanreit. ais ias Wisk äemes
?(ehAfrferwehen Willens. 3«iier weitrosieieiuien * jore mui Weis-
heit betrachten lasa^i »IL Aber der eine wie «ior andere
kann nur durch das , was ihm in «ior Er&hnmg ;zeeeben ist»
den Antrieb erhaltai, nach eirwas m äagrai. was aber aOe
Rrfabmng hinausgeht. Dom so weni^ »iie Wisseoädiaffc cm
Recht bat, jenseita der Eryhetnmigswelt anderes anzHaduneii,
fün solches, dessen sie zur Erklärung der Eischeinnngai be-
darf, so wenig hat die Rdigion eine Veranlassung, dieses m
thun. ie aossehliessKcher es Tieimebr. wie wir finden werden,
das Wohl nnd Wehe des Mensdien ist, in dem ihr ganzes In-
teresse sieh zasannnendrängt , um so weniger lasst sieh an-
nehnien , dass sie bei der Bfldung d^ Yorstelhingen Ober die
Gottheit von etwas anderem ausgehe, als Ton den AiKsehan-
ungen und Bedtiirfnissen, welche seine Erfahrung d^n Maaschen
an die Hand gibt. Aber wenn auch beide, die Wissenschaft
tind die Religion, ihre Vorstellungen von der Gottheit in letzter
fWffiiehung aus der Erfahrung ableiten, so gehen sie doch hie-
brt in ^hr rersehiedener Weise zu Werke.
der Religion. 11
3.
Die Wissenschaft hat nur einen einzigen Weg, auf dem sie
den Begiiff der Gottheit finden, das Dasein Gottes erweisen kann :
den Schluss von dem Weltganzen auf seinen letzten Grund.
Und gerade die Einheit der Welt, der Zusammenhang und die
Zusammengehörigkeit aller ihrer Theile ist es, worauf bei
diesem Schluss alles ankommt. Die Wahrnehmung zeigt uns
zunächst eine unbestimmbar gi'osse Menge von einzelnen Dingen
und Vorgängen. Unser Vei-stand erkennt in dieser Mannig-
faltigkeit eine feste Ordnung; die Erscheinungen vertheilen
sich ihm theils nach ihrer Gleichartigkeit, theils nach ihrer
regelmässigen Verbindung in gewisse Gruppen, die aber bei
aller ihrer Verechiedenheit doch auch wieder räumlich, zeitlich
und begrifflich mit einander verknüpft sind; er bemerkt, dass
nach unveränderlichen Gesetzen unter den gleichen Bedingungen
immer die gleichen Erfolge eintreten; und wenn er über den
Grund dieser Regelmässigkeit nachdenkt, kann er ihn nur in
dem Vorhandensein von Ursachen finden, aus deren Zusammen-
wirken die Dinge mit Naturnoth wendigkeit hervorgehen. Dieser
Zusammenhang alles Seins findet auch nirgends, so weit unsere
Beobachtung oder unser Gedanke reicht, eine Grenze. Die
fernsten Weltkörper sind mit unserem Planeten durch die An-
Ziehungskraft verbunden , deren Wirkung von jenen zu diesein
und von diesem zu jenen herüberreicht; sie stehen mit ihm
nicht blos unter dem gleichen Gesetz, sondern sie sind auch
Theile diBsselben allumfassenden Systems. Von den Nebel-
flecken, die sich unter dem stärksten Teleskop nicht auflösen,
pflanzen sich Lichtschwingungen derselben Art in derselben
Weise zu unserem Auge fort, wie von der Lampe, die unseren
Tisch erhellt. Die Linien, welche die Strahlen der Sonne und
der Gestirne im Spectrum einzeichnen, verrathen dem Geiste
des Forschers die Gleichartigkeit der Stoffe, aus denen jene
Himmelskörper bestehen, und der irdischen Elemente. Der
gegenwärtige Zustand unserer Erde ist die Folge aller der
Veränderungen, denen sie seit ihrer Bildung unterworfen
12 lieber Ursprung und Wesen
war; die Kohle, die unsere Maschinen heizt, das Eisen, aus
dem wir sie bauen, sind das Erbtheil von Jahrtausenden, deren
Zahl zu bestimmen die gewagteste Schätzung kaum unterneh-
men kann; und die ei'ste Entstehung des Erdköipers selbst
ist nur ein Glied jener Kette von kosmischen Vorgängen, die
unser ganzes Sonnensystem in's Dasein gerufen haben. Mögen
wir im Räume noch so weit hinausgieifen , in der Zeit noch
so weit zurückgehen : wir stossen doch immer wieder auf einen
Zusammenhang, der das entfeniteste mit dem nächsten ver-
knüpft, auf allgemein gültige, durchgi-eifende Gesetze, durch
die alles, was ist und was war, sich zu Einem Weltganzen
zusammenschliesst. Auch unser geistiges Leben macht davon
keine Ausnahme. Wir können dasselbe allerdings nicht aus
blos materiellen Ui-sachen ableiten; aber wir werden desshalb
die Thatsache nicht verkennen, dass es mit unserem körper-
lichen Organismus, und durch diesen mit der gesammten Kör-
perwelt, in dem engsten Zusammenhang, der stetigsten und
folgenreichstien Beziehung steht, wie man diese nun immer zu
erklären vei-suchen mag. Und es ist nicht blos unsere Beob-
achtung, welche uns diesen Zusammenhang alles Seins zeigt,
sondern auch unserem Denken ist es unmöglich, sich irgend
etwas voi'zustellen , das von demselben ausgenommen wäre.
Denn es wäre ein Widerspruch, etwas als wirklich zu setzen,
für das die allgemeinen Bedingungen des Daseins nicht gelten,
auf das die Bestimmungen keine Anwendung finden sollten,
imter denen Gegenstände allein gedacht werden können. Es
ist unmöglich, dass es Dinge gebe, in denen widersprechende
Eigenschaften zusammen sein, oder in denen Veränderungen
eintreten könnten, die keinerlei Ginmd haben; dass es Köi*per
gebe, die keinen Raum einnehmen, den allgemeinen mathema-
tischen und mechanischen Gesetzen nicht unterworfen sind,
u. s. w. Man wird daher jedenfalls einräumen müssen , dass
alles Wirkliche ohne Ausnahme unter gewissen gemeinsamen
Gesetzen stehe. Wenn aber dieses, so muss auch alles von
gemeinsamen Ursachen oder von Einer gemeinsamen Ursache
abhängen; denn die Gleichföimigkeit des Geschehens, deren
der Religion. 13
Ausdruck das Gesetz ist, lässt sich, wie sogleich näher gezeigt
werden soll, nur daraus erklären, dass es in der Natur der
wirkenden Ursachen liegt, immer in dieser bestimmten Weise
zu wirken. Ist aber alles Sein und Geschehen in letzter Be-
ziehung auf die gleichen Ursa<ihen zui-tickzuführen, so ist auch
alles durch dieselben zu Einem Ganzen verknüpft; und selbst
wenn wir annehmen . wollten, es gebe mehrere mit einander in
keiner direkten Wechselwirkung stehende Weltsysteme, von
denen das unsrige, bis zu den äussei*sten Grenzen des Ster*
nenhimmels, nur ein einzelner Theil sei — selbst in diesem
Fall hätten wir kein Recht, von mehrei*en Welten zu sprechen.
Denn alle jene Systeme zusammen würden doch nur das Ganze
der Wirkungen darstellen, die aus der Gesammtheit der Ur-
sachen mit Nothwendigkeit hervorgehen, jedes von ihnen wäre
daher ein integi*ii*ender Bestandtheil dieses Ganzen, und als
solcher in seiner Eigenthümlichkeit schon desshalb durch alle
anderen bedingt, weil jedes nur aus den StoiSfen bestehen
könnte, die nicht für die anderen verbraucht wären. Wir
haben aber freilich zu jener Annahme nicht die geringste that-
sächliche Veranlassung, und können sie nie haben; denn jede
Beobachtung, welche uns die Spuren einer anderen Welt,
ausser der unsrigen, zeigte, würde unmittelbar durch sich
selbst die Voraussetzung widerlegen, als ob diese Welt von
der unsrigen schlechthin getrennt sei und nicht auf sie ein-
wirke. Wenn vielmehr die Kraft der Anziehung und Ab-
stossung mit Recht als die Grundeigenschaft alles Stoffes be-
trachtet wird, so ist schon dadurch die Voi-stellung ausgeschlossen,
dass es Systeme von Köi-pern geben könne, die mit einander
in keinem Verhältniss gegenseitiger Einwirkung stehen, und
alle die Welten, die man etwa annehmen möchte, schliessen
sich zu Einer Welt zusammen.
Bildet aber die Gesammtheit aller Dinge Ein Ganzes, so
kann sie auch in letzter Beziehung nur auf dieselbe einheit-
liche Ursache zui-ückgeführt werden.
Wenn wir an einer grösseren oder kleineren Reihe von
Erscheinungen gewisse gemeinsame Eigenschaften wahrnehmen.
14 lieber Ursprung und Wesen
oder wenn wir bemerken, dass unter den gleichen Umständen
immer die gleichen Erfolge eintreten, so suchen wir den Grund
für diese Gleichförmigkeit des Seins und Geschehens in den
Gesetzen der betreffenden Gebiete, und je weiter dieselbe
sich ausdehnt, um so mehr erweitem sich uns diese Gesetze
zu allgemeinen Natur- und Weltgesetzen. Was wollen wir
aber mit diesem Begriff ausdrücken? Wollen wir damit nicht
mehr aussprechen, als die Thatsacbe, dass uns eine ausnahms-
lose Erfahrung in allen bisher beobachteten Fällen diese be-
stimmte Verknüpfung der Erscheinungen, diese bestimmte Art
ihres Zusammenseins oder ihrer Aufeinanderfolge gezeigt habe ?
Unsere Meinung ist diess nicht. Wie vielmehr das Rechts-
gesetz nicht blos aussagt, wie die Menschen in rechtlicher
Beziehung thatsächlich handeln, sondeni wie sie handeln
sollen, so wollen auch die Naturgesetze nicht blos angeben,
was unter gewissen Voraussetzungen geschieht, sondern mit
diesem Gedanken verknüpft sich der weitere von der Noth-
wendigkeit dieses Geschehens, die Behauptung, dass unter den
gegebenen Bedingungen diese Erfolge und keine anderen haben
eintreten müssen, und dass sie daher immer und überall
«intreten werden, wo die gleichen Bedingungen vorhanden sind
und ihre Wirkung nicht durch anderweitige Momente gestört
wird. Zu dieser Annahme nöthigt uns die Natur unseres Den-
kens, welche uns zwingt, unsere Gedanken in dem Verhältniss
des Grundes und der Folge zu verknüpfen, und daher auch
die Dinge und Vorgänge, auf die sie sich beziehen, nicht nur
in das äussere Verhältniss der Gleichzeitigkeit oder der Auf-
einanderfolge, sondeni auch in das innere, der sinnlichen Wahr-
nehmung als solcher unzugängliche, einer nothwendigen Ver-
knüpfung, eines wirklichen Zusammenhangs (im Unterschied
vom blossen Zusammensein) zu setzen. Wiewohl uns daher
nur die Erfahmng zur Kenntniss der Naturgesetze führt, geht
doch der Begriff dei-selben über die blosse Erfahi-ung, über
das, was unmittelbar in ihr gegeben ist, hinaus: er wird nur
dadurch gewonnen, dass wir dieses Gegebene vennöge einer
Allgemeinen , apriorischen Nothwendigkeit unseres Denkens
der ReUgion. 15
durch die Voi*8tellung seines inneren Zusammenhangs ei*gänzen.
Dass aber diese Ergänzung keine willkürliche ist, dass nicht
blos wir es sind, die den Gedanken eines solchen Zusammen-
hangs in die Welt hineintragen, sondern die Theile dei-selben
und die in ihr vorkommenden Veränderungen auch an sich
selbst im Zusammenhang stehen, wird uns wieder durch die
Probe der Erfahrung bewiesen. Fände zwischen ihnen kein
solcher Zusammenhang statt, so würden die Berechnungen,
Erwartungen und Versuche, die von der Voraussetzung seines
Vorhandenseins ausgehen, durch die Thatsachen fortwährend
•ebenso widerlegt werden, wie jene inigen Annahmen, jene aber-
gläubischen Träumereien von einem Zusammenhange zwischen
Dingen, die in Wahrheit nichts mit einander zu thun haben ; die
Berechnung des Mechanikei-s über die Leistung einer Maschine
würde sich thatsächlich nicht besser bewähren, als die Weissagung
des Astrologen iiber den Einfluss der Gestirne auf den Lebens-
gang des Neugeborenen, das ürtheil des Arates über den Gesund-
heitszustand eines Menschen nicht besser, als die Besorgniss des
Abergläubischen, der mit ihm zu Dreizehn am Tische gesessen
hat. Bestätigt statt dessen die Erfahrung die Erwartungen,
welche wir aus richtig erfoi-schten Naturgesetzen ableiten, —
treffen z. B. die Sonnen- und Mondfinsteniisse immer genau
ZM der Zeit und in der Art ein, wie der Astronom sie voraus-
sagt, — so beweist diess augenscheinlich, dass sie in der
Natur der Dinge als solcher begiündet sind, dass jene Gesetze
nicht blos einen vermeinten, sondern einen wirklichen Zusam-
menhang derselben ausdrücken.
Jeder Zusammenhang ist aber ein Causalverhältniss ; wenn
zwei Erscheinungen mit einander in Zusammenhang stehen, so
heisst diess f es sind gewisse Ui-sachen vorhanden, welche be-
wirken, dass mit der einen von ihnen immer auch die andere
gegeben ist, dass diesem Ding immer auch jenes, diesem Vor-
gang auch jener entweder vorangeht oder nachfolgt, oder mit
ihm zugleich ist, dass dieser bestimmten Veränderung in der
einen Erscheinung diese bestimmte Verändenmg in der anderen
entspricht. Die nähere Beschaffenheit dieses Causalzusammen-
16 Ueber Ursprang und Wesen
hasgs lägst die verschiedensten Modificationen zu: ein Ding
oder Vorgang kann die unmittelbare Ui-sache eines zweiten
sein, oder sie können nur durch ihre gemeinsame Abhängigkeit
von einem Dritten zusammenhängen; die Ursache kann femer
eine innere oder eine äussere, eine immanente oder transeunte
sein, d. h. sie kann die bleibende Bedingung für den Bestand
des von ihr Gewirkten ausmachen, oder sie kann nur zu seiner
Entstehung oder seiner Verändei-ung den Anstoss gegeben
haben; die Wirkung kann endlich mit der Ursache in einem
näheren oder einem entfernteren Zusammenhang stehen; sie
kann ganz oder nur theilweise von ihr hervorgebmcht sein;
sie kann von ihr direkt erzeugt, oder nur indirekt, durch die
Entfernung der Hindeniisse herbeigeführt sein, welche der
Thätigkeit anderer Ursachen im Wege standen. Aber irgend
eine Art der Causalität muss immer angenommen werden, we
uns jene regelmässige Verknüpfung der Erscheinungen begegnet,
auf die alle Naturgesetze sich beziehen, und auf deren Wahr-
nehmung die Annahme solcher Gesetze beruht. Denn wenn
alles in der Welt seinen Gmnd haben muss, so muss auch
diese Regelmässigkeit des Naturlaufes ihren Grund haben ; und
diesen Grund können wir nur in Ursachen suchen, deren Natur
es mit sich bringt, dass sie immer in dieser bestimmten Weise
wirken. Jedes Naturgesetz weist daher auf gewisse Ursachen,
die mit innerer Nothwendigkeit und ebendesshalb auch mit
jener Regelmässigkeit wirken, welche die Erfahrung uns zeigt:
der gesetzmässige Verlauf der Erscheinungen lässt sich nur
aus der Beschaffenheit dessen ableiten, dessen Erzeugniss diese
, Ei'scheinungen sind.
Diese Ui-sachen stellen sich nun zunächst als eine Viel-
heit besonderer StoflFe und Kräfte dar. So vielerlei Körper
sich finden, die in gewissen Eigenschaften mit einander über-
einkommen und sich von allen anderen unterscheiden, so vie-
lerlei Stoffe nimmt man an; wo sich andererseits gewisse
eigenthümliehe und gleichmässig wiederkehrende Wirkungen
zeigen, betrachtet man sie als Aeussei-ungen einer Kraft, deren
Wesen diese Art des Wirkens mit sich bringe; mag man sich
der Religion. 17
nun diese Kraft dem Stoffe selbst inwohnend, oder als etwas
für sich bestehendes und unköiperliches denken. Aber alle
diese Stoffe und Kräfte stehen doch mit einander in Zusam-
menhang; sie wirken auf einander nach bestimmten Gesetzen,
und aus diesem ihrem Zusammenwirken geht ein geordnetes
Ganzes hei-vor, das eine unendliche Fülle von Wesen, einen
unei'schöpflichen Reichthum von Leben, Geist und Vemünftig-
keit umschliesst Wie soll man sich diese Thatsache erklären ?
Sollen wir als das Ei-ste und Ui-spiünglichste eine Mehrheit
von Elementaretoffen setzen, von denen jeder seine eigenthüm-
liche Wirkuugsart habe, ohne dass sie aus einer tiefer liegen-
den gemeinsamen Quelle herstammen? Oder ist es besser,
di^e Quelle in der Materie als solcher zu suchen, der nur die
gemeinsamen Eigenschaften aller Köiper zukommen? wobei dann
die besonderen Stoffe und die qualitativen Unterschiede, unter
denen sie sich unserer Empfindung darstellen, daraus erklärt
werden müssen, dass die kleinsten Theile der Materie, die
Atome, sich in der verschiedensten Weise, in verschiedenen,
nach festen Gesetzen geordneten Verhältnissen, mit einander
verbinden. Dürfen wir vielleicht hoffen, die Ei-scheinungen,
insbesondere die Bewegungsvorgänge und den Zusammenhang
des köiTperlichen Lebens mit dem geistigen, vollständiger zu be-
greifen, wenn wir annehmen, die Materie als solche sei gleich-
falls blosse Erscheinung, das Reale dagegen, was ihr zu Gnmde
liegt, seien einfache, unköiperliche Wesen, aus deren Verbin-
dung und Wechselwirkung sich der Raum und der raum-
erfüllende Stoff erst ei-zeuge? Welcher von diesen Annahmen
man auch den Vorzug geben, wie man sie näher ausführen,
oder durch welche andere man sie ersetzen möchte: so lange
man von einer Vielheit ursprünglicher Wesen ausgeht, ent-
steht immer die Frage, wie denn diese vielen Urwesen, diese
Elemente, diese Atome, diese Monaden, mit einander in Zu-
sammenhang gekommen sein sollen, wenn sie nicht von An-
fang an schon in Zusammenhang standen, wie aus ihnen eine
Welt, und diese unsere Welt, entstehen konnte, wenn sie nicht
aus Einem und demselben Gnind entspiomgen sind, von Einer
Zeller, Vorträge und Abhandl. 2
18 Ueber Ursprung und Wesen
und derselben Kraft zusammengehalten und gelenkt werden.
Man verweist auf die Naturgesetze, denen sie alle folgen und
nach denen alle die Einzel Wirkungen sieh richten, deren Ge-
sammtergebniss die Welt ist. Aber damit ist die Frage nicht
beantwortet, sondern nur um einen Schritt weiter zurück-
geschoben. Das lässt sich ja freilich nicht bezweifeln, dass die
Gesammtheit der Erscheinungen aus der Gesammtheit ihrer
Ursachen mit Nothwendigkeit hervorgeht, und dass jemand,
dem alle Elemente der Dinge und alle Eigenschaften und
Wirkungsgesetze dieser Elemente vollständig bekannt wären,
wenn er zugleich alle möglichen Combinationen dieser Elemente
zu berechnen vermöchte, die ganze Welt als ein Naturerzeug-
niss begreifen, alles Körperliche mechanisch, alles Wirkliche
überhaupt natürlich erklären könnte. Allein die Frage ist
eben die, wie sich die Zusammenstimmung aller Naturgesetze
und das Zusammenwirken aller Kräfte begreifen lässt ; und auf
diese Frage gibt es keine Antwort, als die oben angedeutete.
Schon im allgemeinen lässt sich nicht einsehen, wie Dinge
auf einander einwirken könnten, die gar nichts mit einander
gemein hätten, da es ja in diesem Fall keine Berührungspunkte
zwischen ihnen gäbe, und kein Gnind vorläge, wesshalb die
Verändeiamg des einen eine Veränderung in dem anderen nach
sich ziehen sollte. Haben sie aber etwas mit einander gemein,
durch das ihre Wechselwirkung bedingt ist, so bildet eben
dieses Gemeinsame ihr Wesen, das Substrat oder die Substanz,
durch deren nähere Bestimmung die Dinge als diese besonderen
entstehen. Wenn daher alle Theile der Welt in Wechselwir-
kung stehen, so setzt diess voraus, dass auch alle, so durch-
gi*eifend sie sich im übrigen von einander untei*scheiden mögen,
doch zugleich in gewisser Hinsicht von einerlei Wesen seien«
und diess lässt sich seinerseits nur daraus erklären, dass sie
in letzter Beziehung von Einer und derselben Ursache her-
stammen. Noch einleuchtender wird diess aber, wenn man
sich erinneil, dass es sich im vorliegenden Fall nicht blos
überhaupt um eine Wechselwirkung handelt, sondern um ein
geordnetes, bis in's einzelste durch unveränderliche Gesetze
der Beligion. 19
bestimmtes Zusammenwirken aller Wesen ; um ein Zusammen-
wirken, aus welchem dieses unendlich reiche, wohlgegliederte
und vollkommene Ganze heiTorgeht, das wir die Welt nennen.
Bestände das, was den letzten Giimd der Welt bildet, aus
einer Mehrheit oder gar aus einer unendlichen Vielheit von
Elementai*stoffen oder Kräften, von Atomen oder Monaden,
die in keiner ursprünglichen Verbindung mit einander stän-
den, und von keiner dritten Ursache gemeinsam abhiengen,
so lässt sich zwar, wie bemerkt, überhaupt nicht absehen, wie
dieselben in Wechselwirkung treten könnten; wollten wir diess
aber auch zugeben, so könnte doch durch diese ihre Einwir-
kung auf einander unmöglich ein einheitliches Ganzes ent-
stehen. Denn da jedes von jenen Grundwesen nur seiner eigenen
Natur gemäss wirkte, die Beschaffenheit der letzteren aber
durch ihr Verhältniss zu den anderen in keiner Beziehung
bedingt wäre, so wäre es rein zufällig, ob und wie weit sich
die Wirkungen der einen mit denen der anderen beillhrten
oder an ihnen vorbeigiengen , sie ergänzten oder sie nutzlos
wiederholten, fordernd oder störend in sie eingi-iflfen. Wenn
wir statt dessen finden, dass alle in der Welt wirkenden Kräfte
in einem bestimmten, sich gleich bleibenden Verhältniss, einem
urspiiinglichen und unverrückbaren Gleichgewicht stehen, und
dass ebendesshalb auch alle ihi*e Wirkungen sich zu einem
vollkommen haimonischen Ganzen zusammenschliessen, so setzt
diess voraus, sie alle seien nur die verschiedenen Aeusserungen
Einer und derselben die Gesammtheit der Dinge umfassenden
und tragenden Kraft. Denn nur dann kann jeder ihr Mass
und ihre Richtung so bestimmt sein, wie diess ihrem Verhältniss
zu allen anderen entspricht, wenn alle in ihrer Wurael zusam-
menhängen, wenn sie entweder von einer zweckthätigen Intelli-
genz auf einander berechnet, oder ohne das Dazwischentreten
einer ausdrücklichen Zweckthätigkeit , veimöge einer inneren,
absoluten Nothwendigkeit aus Einer Urkraft entsprungen sind.*)
*) Ein Dilemma, das in der letzten Abhandlung der vorliegenden Samm-
lung besprochen werden wird.
20 Ueber UrsproDg und Wesen
Diese Urkraft aber, di^en letzten Grund alles Seins,
mrd man nicht in der blossen Materie suchen können. Man
kann es nicht nur in dem Falle nicht, wenn man sich unter
der Materie eine träge, todte Masse vorstellt, welcher die
Bewegung, und ebendamit alle Untei-scheidung, Verbindung
und Gestaltung ihrer Theile, selbstvei'ständlich nur von aussen,
durch die Thätigkeit eines weltbildenden Gottes mitgetheilt
werden könnte; sondern man kann es auch dann nicht, wenn
man die Materie durch die ihr inwohnenden Kräfte von aller
Ewigkeit her bewegt sein lässt Denn diese Kräfte könnten
doch immer nur mechanische sein: sie könnten räumliche Be-
wegungen, und als Folge dereelben jene Vertheilung und An-
ordnung der Stoffe hervorbringen, auf der die ganze Mannig-
faltigkeit des äusseren Daseins beniht. Wie sie dagegen die
Ei-scheinungen des Bewusstseins erzeugen, wie mechanische
Bewegungen in unserem Gehini oder in einzelnen Theilen des-
selben sich in Voi-stellungen, Gefühle, Willensakte umsetzen,
wie unser geistiges und sittliches Leben sich in blosse Bewe-
gungsvorgänge auflösen oder aus solchen ableiten lassen könnte,
davon ist nicht allein die Möglichkeit nicht nachgewiesen, son-
dern das Gegentheil lässt sich mit aller Strenge darthun. Denn
alle Bewusstseinserscheinungen benihen darauf, dass ein Man-
nigfaltiges zur Einheit der Empfindung, des Gefühls, der Vor-
stellung, des Gedankens, des Entschlusses zusammengefasst
wird; sie alle haben zu ihrer Voraussetzung das einheitliche
Subjekt, in dem und durch das sie sich vollziehen, das Selbst
oder das Ich; wie sich diess am einleuchtendsten und un-
mittelbai-stOQ an dem Selbstbewusstsein als solchem zeigen
lässt Ein Körper dagegen, mag er noch so klein, und möchte
er selbst physikalisch untheilbar sein, wie Demokrit's Atome,
besteht immer noch aus vielen, räumlich aussereinanderliegen-
den Theilen, die ihrei-seits wieder aus solchen Theilen bestehen,
und sofort in's. unendliche; ein solcher kann daher seiner Natur
nach nicht das Subjekt von Vorgängen sein, welche sich nur als
Thätigkeiten eines streng einheitlichen Wesens begreifen lassen.*)
*) Genauer bin ich hierauf gleichfalls in dem letzten Stück eingegangen.
der Religion. 21
Dem gewöhnlichen unkritischen Empirismus erscheint aller-
dings die Köi-perwelt als dasjenige, dessen Wirklichkeit am
nnbezweifelbai-sten feststehe, der köi^perliche Stoff als die un-
veiTückbare Grundlage alles Seins ; aber wenn wir uns darüber
besinnen, wie uns die Vorstellung der Materie, der raum-
61-fttllenden Masse, entsteht, so werden wir uns dem Zugeständ-
niss nicht entziehen können, dass uns in der Anschauung u n -
mittelbar nur die Erscheinung des Köiperlichen, nur die
Vorstellung desselben gegeben ist, die Materie als solche da-
gegen nur das Reale ausser uns bezeichnet, von dessen Einwir-
kung auf unsere Sinne wir diese Erscheinung herleiten; dass also
der Begriff der Materie, wissenschaftlich gespi-ochen, eine blosse
Hypothese, ein von uns selbst zur Erkläning gewisser Ei-schei-
nungen gebildeter Hülfsbegiiflf ist. Mögen wir nun auch zu
dieser Hypothese noch so vielen Grund haben, so wäre es doch
sehr übereilt, wenn wir desshalb, weil die Ei*scheinungen der
Aussenwelt zu ihr hinführen, behaupten wollten, auch die Be-
wusstseinserscheinungen müssen sich aus ihr erklären lassen;
und mögen wir noch so wenig bezweifeln, dass sich unsere
Wahrnehmungen auf Köi'per beziehen, die unabhängig von
unserer Vorstellung als etwas Wirkliches ausser uns vorhanden
sind, dass der Raum und die raumeifüllende Masse objektiv
i*eal ist, so folgt doch daraus nicht im geringsten, dass sie
das letzte Reale, und nicht selbst erst das Erzeugniss von
Uraachen sind, die weiter zurückliegen. Da vielmehr die Raum-
eifüllung selbst sich nur als eine Wirkung der Widei'stands-
kraft begi-eifen lässt, durch welche das Raumerfüllende jedem
anderen den Eintritt in seinen Raum verwehrt; da ebenso die
Anziehung der Materie eine Anziehungskraft, die Bewegung
bewegende Kräfte voraussetzt, welche gleich ursprünglich sein
müssen, wie der Stoff, dem sie inwohnen ; da es sich uns end-
lich durchaus unmöglich gezeigt hat, die Einheit des Bewusst-
seins mit der Annahme zu vereinigen, die Bewusstseinserschei-
nungen seien blosse Functionen des körperlichen Organismus,
das Einheitliche sei aus dem Zusammengesetzten entstanden,
der entgegengesetzten Annahme dagegen, der Ableitung des
22 üeber Ursprang und Wesen
Zusammengesetzten aus dem Einfachen, des Materiellen aus
dem Immateriellen, keine wissenschaftliche Unmöglichkeit im
Wege steht, so können wir nur schliessen, nicht die Materie,
sondern etwas Immaterielles sei jene letzte Ui"sache alles Seins,
welche von dem einheitlichen Zusammenhang und dem geord-
neten Ineinandergreifen aller Theile der Welt vorausgesetzt wird.
Wie nun dieses Princip näher zu denken sei, kann hier
nicht eingehender untersucht werden. Wenn es die Ui'sache
aller Dinge sein soll, so muss es die Kraft sein, die alles her-
vorbringt; wenn es ihre letzte, einheitliche Ursache sein soll,
so muss diese Kraft als eine alles umfassende und bewirkende,
eine absolute gedacht werden; wenn mit der materiellen Welt
auch die des Bewusstseins , wenn alles aus ihm herstammen
soll, was dem Leben der Menschheit einen Werth gibt, und
was wir auf anderen Punkten des uneiinesslichen Ganzen, von
dem unser Wohnort ein Atom ist. Gleichartiges vermuthen
müssen, jede Anlage zum Erkennen des Wahren und zum
Wollen des Guten, zum künstlerischen Schaffen und zum schö-
nen Empfinden, so muss sein Begiiff so bestimmt werden, dass
der Grund von allem diesem in ihm liegt, dass alle jene Wir-
kungen aus seiner unendlichen Vollkommenheit als ihre natür-
liche Folge hervorgehen. Versuchen wir es aber freilich, uns
von der letzteren eine anschauliche Voretellung zu machen, so
lässt uns die einzige Analogie, der wir hiebei folgen können,
die des menschlichen Geistes, nur zu bald im Stiche, und so
leicht es uns wird, unangemessene Vorstellungen vom BegiiflF
der Gottheit abzuwehren, so schwierig zeigt sich die Aufgabe,
sie durch solche zu ersetzen, welche nach keiner Seite hin einer
Einwendung Baum lassen.
Ueberlegungen solcher Art sind es, welche die wissen-
schaftliche Forachung zum GottesbegiiflF hinführen. In der
näheren Ausfühining lassen sich dieselben auf die mannig-
faltigste Weise modificiren und erläutern; aber ihrem all-
gemeinen Charakter nach müssen sie sich immer in der hier
bezeichneten Richtung bewegen, sobald einmal anerkannt
ist, dass wir auch zu diesem Begriff, wie zu allen unseren
der Religion. 23
BegiiflFen, nur von der Erfahning aus gelangen können. Der
Glaube an die Gottheit lässt sich wissenschaftlich immer nur
darauf gründen, dass die Welt als Ganzes eine letzte, einheit-
liche Ui-sache fordeil; und in den Begiiff derselben können
wir nur das aufiiehmen, was sich aus dieser Begründung ergibt.
4.
Ein anderer Weg ist es, auf dem der Glaube an göttliche
Mächte, und mit ihm die Religion, ui-spiünglich entstanden ist.
Der Ausgangspunkt lag hiebei freilich (wie schon S. 9 f. be-
merkt ist) gleichfalls in gewissen Erfahrungen, und das Ziel
in gewissen Vorstellungen über die Wesen, deren Wirkungen
man zu erfahren glaubte oder wünschte; und von jenen Hess
sich zu diesen gleichfalls nur mittelst eines Schlusses von der
Wirkung auf die Ursache gelangen. Aber in der Periode, in
welche die Anfänge aller Religionen hinaufreichen, musste sich
dieser Process nothwendig auf anderer Grundlage und in an-
derer Weise vollziehen, als in Zeiten, denen ein ausgebreitetes
Wissen und ein methodisch geschultes Denken zu Gebote stand.
Die Menschen der Urzeit waren ja noch auf die dürftigsten
und unvollkommensten Beobachtungen beschränkt, ihr Blick
dehnte sich nur über das engste Gebiet aus, sie waren noch
nicht gewöhnt, die Erscheinungen zu zergliedeni, das Gleich-
artige zusammenzufassen und von anders Geartetem durch
feste Merkmale zu untei-scheiden, sie hatten noch keine Ahnung
von der Gesetzmässigkeit des Naturlaufes. Welche Bedeutung
konnte da die Frage nach den Ursachen der Erscheinungen
für sie haben, in welcher Foi-m konnte sie von ihnen gestellt,
mit was für Voi-stellungen beantwortet werden, als mit solchen,
die einer fortgeschritteneren Bildung im höchsten Grade kindisch
und roh erscheinen mussten? Wer sich daher von der ersten
Entstehung des religiösen Glaubens ein Bild machen will, das
der Wahrheit, oder doch der Wahrscheinlichkeit entspricht,
der muss sich vor allem in diesen Kindheitszustand der Men-
schen vei^setzen und sich die Frage vorlegen, was dieselben in
diesem Zustand veranlassen konnte, über das unmittelbar
24 üeber Urspnmg und Wesen
Gegebene hinaus- und zu der Annahme übennenschlicher Wesen
foiizugehen , und welche Voretellungen von diesep Wesen sie
sich auf ihrem Standpunkt und mit ihren Httlfsmitteln bilden
konnten.
Was nun zunächst die erste von diesen Fragen betrifft,
so zeigen sich im allgemeinen zweierlei Veranlassungen, aus
denen der Götterglaube entspringen konnte : der Eindiiick, den
gewisse Ei-scheinungen auf den Menschen machten, und die
Bedürfnisse, welche ihn die Hülfe höherer Wesen suchen Hessen.
Einestheils nämlich sind es immer gewisse äussere, unserer
Wahniehmung sich darbietende Vorgänge, welche zuei-st das
Nachdenken wecken und schon bei den Kindeni die Frage
nach den Ursachen, nach dem Warum, hei-voniifen ; andem-
theils regt das Gefühl der Uebel, die uns dillcken, oder der
Wunsch nach Gutem, die uns fehlen, also mit Einem Wort:
das Gefühl eines Bedüifnisses , unsere Phantasie und unsei'en
Verstand an, sich eine Voretellung dessen zu bilden, was unsere
Wünsche eifüllen, unseren Bedürfnissen Abhülfe vei-schaffen
kann. So lange man nun die Erscheinungen auf natüi'liche
Uraachen zurückzuführen, seine Bedüi-fiiisse auf natürlichem
Wege, durch eigene Thätigkeit oder fremde Unterstützung zu
befriedigen im Stand ist, hat man keine Veranlassung, sich
für die einen nach übernatürlichen Gillnden, für die anderen
nach übernatürlicher Hülfe umzusehen. Wenn dagegen der
Mensch an der Grenze seines eigenen Wissens und Könnens
anlangt, werden alle die, welche von der Gesetzmässigkeit des
Naturlaufes keinen Begiiff haben, zu übeniatüilichen , von
aussen her in denselben eingreifenden Mächten ihi*e Zuflucht
nehmen. In diesem Fall befanden sich aber dije Menschen
der Ui-zeit ohne Ausnahme. Die Begelmässigkeit in dem
Wechsel und der Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen, wie
Tag und Nacht, Sommer und Winter u. s. w. , musste sich
ihnen natürlich sehi* bald aufdrängen. Aber diese Regelmässig-
keit beschränkte sich bei ihrer dürftigen Naturkenntniss auf
so wenige Fälle, den letzteren stand anscheinend so viel Un-
geordnetes und Zufälliges gegenüber, und auch wo man eine
der Religion. 25
Oleichmässigkeit des Geschehens wahrnahm, war man doch
von dem Gedanken seiner Gesetzmässigkeit, seiner Naturaoth-
wendigkeit, noch so weit entfernt, dass an einen Versuch wirk-
licher Naturerklärung noch gar nicht zu denken war; dass
daher phantastische Zusammenhänge die wirkliche Verknüpfung
der Ei-scheinungen, erträumte Ursachen die wirklichen Gründe
der Dinge ei-setzen mussten. Dass damit ein Unnatürliches
oder Uebernatürliches an die Stelle des Natürlichen gesetzt
werde, dessen konnte man sich auf diesem Standpunkt aller-
dings nicht bewusst sein ; denn wer den Gedanken der Natur-
ordnuug noch nicht hat, der kann auch den Gedanken dessen
nicht haben, was über die Naturordnung hinausgeht. Aber an
sich selbst fehlte es den Causal Vorstellungen , die im Kindes-
alter der Menschheit gebildet werden konnten, noth wendig,
wie denen unserer Kinder, an dem Merkmal, durch welches
der Begiiff natürlicher Ursachen bedingt ist, an der Bestim-
mung, dass ihre Wirkungen nach festen Gesetzen aus ihnen
hei*vorgehen ; konnte man daher auch die Ursachen, auf welche
man die Dinge zui-ückführte, noch nicht ausdrücklich als ausser-
oder übernatürliche den Natunii'sachen entgegensetzen, so waren
sie diess doch thatsächlich , da ein natürlicher, der sonstigen
Analogie der Erfahining entsprechender Zusammenhang zwischen
ihnen und ihren voraussetzlichen Wirkungen weder nachzuwei-
sen war,. noch auch nur behauptet oder gesucht wurde.
Es können nun im allgemeinen Erscheinungen und Be-
dürfnisse der vei-schiedensten Art sein, die zu dem Gedanken
der Gottheit, oder der Götter, hinführen. In den höheren
Religionsformen liegen dieselben ganz überwiegend auf dem
geistigen und sittlichen Gebiete: dem Hellenen ist Apollo zwar
auch ein Gott des sichtbaren Lichtes, aber seine höhere Bedeu-
tung besteht daiin, dass er den Geist des Menschen erleuchtet,
seinen Sinn der Schönheit aufschliesst, seinem Willen die rich-
tige Stimmung gibt; der Christ bittet zwar auch um das täg-
liche Brot, aber ungleich mehr liegt ihm die Vergebung seiner
Sünden, die Beruhigung seines Gewissens^ die Heiligung seines
Lebens am Herzen. Je tiefer dagegen der Stand der Bildung
26 üeber Ursprung und Wesen
ist, je vollständiger das Interesse des Menschen noch in der
Sorge für sein physisches Leben und für sinnlichen Genuss
aufgeht, um so ausschliesslicher wird auch die Anregung za
religiösen Vorstellungen und Empfindungen für ihn aus der
Sinnenwelt stammen, und um so schwächer werden die sitt-
lichen Gefühle bei ihnen betheiligt sein, deren ei*ste Anfänge
wir fi-eilich überall voraussetzen müssen, wo überhaupt Men-
»
sehen zusammenleben, und deren früheste Geburtsstätte wir
ebenso, wie die der Religion, in der Familie, als der ersten
Form des menschlichen Gemeinlebens, zu suchen haben.
Um aber das Nachdenken anzuregen und die Frage nach
ihren Ursachen hervorzurufen, muss eine Ei'scheinung einen
besonders lebhaften Eindnick machen, sie muss in ihrer Grösse
oder ihrer Beschaffenheit über das Mass dessen hinausgehen,
was der Mensch und die ihm gleichstehenden Wesen auch etwa
hervorbringen könnten, oder wogegen er durch Gewohnheit sa
abgestumpft ist, dass er es als selbstverständlich hinnimmt,
ohne sich darüber zu besinnen. Nur das Grosse und das Un-
gewöhnliche ist es, welches die Aufmerksamkeit auf sich zieht
und den gewohnten Voi*stellungsverlauf unterbricht, worüber
man sich verwundert ; die Verwunderung ist aber nicht blos^
wie Plato und Aristoteles sagen, der Anfang der Philosophie,
sondern noch vorher der der Mythologie. Der Wechsel vou
Licht und Dunkel, die Pracht der aufgehenden Sonne, des
Mondes und der Gestirne ; die furchtbare Gewalt der Gewitter^
der Stürme, der Erdbeben, der Vulkane; die milde Macht de&
Frühlings, der verzehrende Sonnenbrand des Hochsommei-s ;
die stille Majestät, das schreckliche Toben des Meeres ; die un-
widerstehliche Kraft der Gewässer, ob sie nun in sanftem Strome
hinziehen oder donnernd zur Tiefe stürzen, ob sie freundlich die
Fluren befruchten, oder mit wüthenden Fluthen sie verheeren —
diese und ähnliche Naturerscheinungen sind es, welche den
stärksten und unmittelbarsten Eindruck hei-vorbringen mussten,
welche wir daher in den Natun-eligionen der verschiedensten
Völker immer wieder , je nach den örtlichen und klimatischen
Verhältnissen modificirt, die Giomdlage der Mythologie bilden
der Religion. 27
sehen. Solche Natunnächte dagegen, deren Wirkung zwar
vielleicht eine noch viel durchgreifendere ist, aber Sich nicht
in gleich auffallenden Erscheinungen der sinnlichen Wahrneh-
mung ankündigt, sind theils gar nicht, theils erst in Zeiten
einer foii;geschritteneren Beobachtung und Reflexion zu Göttern
personificirt worden. Einen Gott des Raumes z. B. oder eine
Göttin der Schwere gibt es nirgends; denn dass alle Köi-per
einen Raum einnehmen , und alle Körper von einer gewissen
Dichtigkeit in der Luft fallen, schien viel zu selbstverständlich,
als dass man dafür auf das Eingreifen einer Gottheit zurück-
zugehen Anlass gehabt hätte. Aehnlich verhält es sich auch
mit den Vorgängen im Menschenleben, so weit diese überhaupt
in der ältesten Zeit die Aufmerksamkeit schon eri*egten. Wo
sich der Mensch seiner eigenen Thätigkeit als solcher bewusst
war, da fehlte ihm der Antrieb, sie auf aussermenschliche Ur-
heber zurückzuführen. Nur wo ihn eine fremde Macht zu be-
heiTSchen schien, und wo dieselbe zugleich in auffallenden
Aeusserungen oder ergreifender Massenwirkung zur Erscheinung
kam, wie im Schlachtgeschrei und im Toben des Kampfes, in
der Verzücktheit des Schamanen, der Aufregung des Tiom-
kenen, den Seltsamkeiten des Veri-ückten — nur in solchen
Vorgängen fühlte man sich anfangs von einer übermenschlichen
Gewalt foi-tgerissen , und dadurch angetrieben, sich von der-
selben eine Vorstellung zu bilden. Aus derartigen Wahrneh-
mungen sind daher wahrscheinlich die frühesten von denjenigen
Göttergestalten hervorgegangen, deren wesentliche Bedeutung
darin besteht, gewisse menschliche Thätigkeiten zu erzeugen
und zu leiten; dagegen können Kulturgottheiten, wie Athene
und Apollo, in dieser ihrer späteren Bedeutung nicht älter
sein, als die Künste und die Bildung, deren Urheber und Be-
schützer sie sein sollten, und ebenso werden die Götter der
Ehe, des Rechtes, der Staaten, des Ackerbaues, des Handels
u. s. w. nur in und mit der Familie, dem Staat, der bürger-
lichen und Rechtsgesellschaft entstanden sein.
Schon von den bisher besprochenen Ei-scheinungen dürfen
wir aber nicht voraussetzen, dass es ausschliesslich, oder auch
28 üeber Ursprung und Wesen
nur an erster Stelle, ihr ästhetischer Eindruck, oder dass es
gar das Bedüi-fniss des Erkennens als solches gewesen sei,
wodurch sie zur Entstehung des Götterglaubens den Anstoss
gaben. Dieses theoretische Interesse an den Dingen ist dem
rohen Natunnenschen überhaupt fremd. Der Wissenstrieb
regt sich allerdings auch bei ihm schon frühe; aber eben nur
wie bei den Kindeni, alfe sinnliche Neugierde. Erst die Bil-
dung gibt dem Geiste die Freiheit, sich in ästhetischem Ge-
nuss und wissenschaftlicher Betrachtung über den sinnlichen
Eindruck zu erheben. Der Ungebildete bleibt in ihm gefangen ;
er ist des „interesselosen Wohlgefallens" an der Wahrheit und der
Schönheit noch unfähig, er beurtheilt die Dinge nach der Lust
und Unlust, die sie ihm erregen, nach ihrem Verhältniss zu
seinem eigenen Zustand, und zunächst seinem physischen Zu-
stand. Es ist daher weniger das Schöne, was ihm gefällt, als
das Angenehme und Wohlthätige; weniger das Erhabene, was
ihn zur Ehrfurcht zwingt, als das Furchtbare ; mögen ihm nun
diese Eigenschaften der Dinge durch Eifahning bekannt sein,
oder mag sie ihm nur seine Phantasie voi'spiegeln. Den Ge-
bildeten entzückt ein Sonnenaufgang durch die Schönheit und
Grossartigkeit der Lichtwirkungen, den Wechsel und die Con-
traste, die sich seinem Auge darbieten; der Wilde jauchzt dem
aufsteigenden Licht entgegen, weil es ihn von den Schrecken
der Nacht befreit , von den Gefahren , mit denen sie ihn be-
droht, von dem Grauen, welches ihn im Dunkel unwillkürlich
befällt, und welches noch viel unheimlicher gewesen sein muss,
so lange man noch nicht gelernt hatte, sich duixh Feueranzün-
den wenigstens für die nächste Umgebung einen Ersatz des
leuchtenden und wäimenden Gestirns zu verschaffen. Dem
Gebildeten bieten Gewitter und Stünne ein erhabenes Schau-
spiel, wenn nicht besondere Umstände durch den Gedanken
einer Gefahr für andere oder sich selbst die Ruhe der ästhe-
tischen Betrachtung stören ; dem Naturmenschen tritt aus ihnen
nur diese Gefahr entgegen; er zittert über dem Aufruhr der
Elemente, dem Zucken des Blitzes, dem Biiülen des Donners :
statt eines ästhetischen Eindmcks eiiährt er nur einen patho-
der Religion. 29
logischen, sein Gefühl ist nicht Bewundeioing , sondern Furcht
und Entsetzen. Und das gleiche gilt überhaupt von seinem Ver-
hältniss zur Natur: fehlt es ihm auch nicht gänzlich an der
Empfänglichkeit für die Schönheit der Welt, so tritt doch
dieser Gesichtspunkt nur in schwachen Spuren hervor, und je
näher ein Einzelner oder ein Stamm noch der bildungslosen
Natur steht, um so ausschliesslicher richtet sich der Eindruck,
den sie von den Erscheinungen erhalten, nach dem (wirklichen
oder eingebildeten) Einfluss derselben auf ihr eigenes Wohl
und Wehe; um so ausschliesslicher muss sich daher auch die
Bedeutung der Wesen, von denen man die Erscheinungen her-
leitet, auf die Wohlthaten, die von ihnen erwartet, oder die
Nachtheile, die von ihnen gefürchtet werden, beschränken.
Liegt aber im Naturzustand selbst für die Auffassung der
Aussen weit und für die Causalvoi-stellungen, durch die sie er-
klärt wird, der massgebende Gesichtspunkt in dem Wohl und
Wehe des Menschen, so wird dieses Motiv in allen den Vor-
stellungen noch stärker zum Vorschein kommen, die von Hause
aus nur aus dem Gefühl eines Bedürfnisses und dem Wunsche,
ihm abzuhelfen, hervorgehen. Eben hierauf haben wir aber
einen grossen Theil der religiösen Vorstellungen ihrem ersten
Urspmng nach zuiückzuführen. Wo Uebel uns drücken, er-
zeugt sich der Wunsch, von ihnen befreit zu werden, wo Ge-
fahren uns drohen, der Wunsch, von ihnen verschont zu blei-
ben; wenn wir an ein Gut denken, das uns fehlt, der Wunsch,
es zu besitzen, wenn wir uns der Unsicherheit unseres Besitzes
erinneiTi, der Wunsch, ihn zu behalten; wenn wir etwas unter-
nehmen, der Wunsch, dass es gelinge, wenn die Ungewissheit
der Zukunft uns beunruhigt, der Wunsch, die künftigen Er-
folge vorherzusehen und uns darnach einzurichten. Glauben
wir diese Wünsche durch unsere eigene Thätigkeit eifüllen zu
können, so wirken sie in uns als Antriebe zu dieser Thätig-
keit, sie setzen unseren Willen in Bewegung; müssen wir
darauf verzichten, so drängen sie uns die Frage auf, ob nicht
ihre Erfüllung auf anderem Wege möglich zu machen sei, sie
reizen unsere Phantasie, sich ein Bild dessen zu entwerfen,
80 Ueber Ursprung und Wesen
wodurch sie eifilUt werden könnten. Wer sich nun klar ge-
macht hat, dass jeder Erfolg an gewisse natürliche Bedingungen
geknüpft ist, und daher nur durch Anwendung natürlicher
Mittel herbeigeführt werden kann, dessen Phantasie wird hie-
bei das Gebiet des Naturzusammenhanges nicht verlassen;
seine Wünsche und Bedüi-fiiisse haben daher bei ihm die Wir-
kung, dass er sich anstrengt, die geeigneten Mittel zu ihrer
Befriedigung zu finden, sie regen seine Erfindungskraft an;
überzeugt er sich andererseits, dass es solche Mittel nicht
gebe, so wird er, wenn er verständig ist, auf die Erfüllung
seiner Wünsche veraichten. Wer dagegen eben jenes nicht
einsieht, wer von Natui-zusammenhang und Naturgesetzen noch
keinen Begriff hat, bei dem wird unfehlbar die Folge ein-
treten, dass er zu anderen, als den natürlichen Mitteln, seine
Zuflucht nimmt, wenn diese ihm ausgehen. Seine Bedürfnisse
fühlt er, seine Wünsche wirken in ihm mit der Naturgewalt
des Affects. W i e diese Wünsche erfüllt werden können, weiss
er nicht zu sagen; aber dass sie erfüllt werden müssen, steht
ihm fest, und die Unmöglichkeit der Sache bildet für ihn kein
HindeiTiiss; denn wer sich noch gar nichts zu erklären weiss,
wer von keinem unter den Dingen, die ihm thatsächlich ge-
geben sind, die Möglichkeit einsieht, dem kann ebendesshalb
auch noch nichts als unmöglich ei-scheinen. Die ganze Welt
ist für einen solchen nur eine Zusammenhäufung unvei'stan-
dener Dinge und Vorgänge; wie viele andere ebenso unver-
ständliche hinzukommen, macht, ihm nichts aus. Was ist auf
diesem Standpunkt anders möglich, als dass die Phantasie
eintritt, wo die Wirklichkeit den Menschen im Stich lässt?
dass sie ihn mit dem Bilde von Wesen beiiihigt, die seine
Wünsche erfüllen können, wenn ihm solche, die sie wirklieh
erfüllen, nicht bekannt sind ? Wir haben es ja hier mit einer
Bildungsstufe zu thun, für welche die Grenze zwischen Vor-
stellung und Wirklichkeit eine noch ganz unsichere ist; der
alles für wirklich gilt, was einen ähnlichen Eindruck macht,
wie das Wahrgenommene und Handgreifliche; die an alles,
auch das unmöglichste glaubt, wenn es nur der eigenen
der Religion. 31
Empfindungsweise zusagt und mit den Vorstellungen tiberein-
stimmt, welche man sich über die Dinge aus dürftigen Erfah-
rungen und ungenauen Beobachtungen, aus kindlichen Ver-
muthungen und ungeprüften Einfällen gebildet hat. Kann
man sich wundem, wenn in diesem Stadium der menschlichen
Entwickelung Zusammenhänge erdichtet wurden, für welche die
wirkliche Erfahining keinerlei Analogie darbietet; wenn von
realen Wesen Wirkungen ei-wartet wurden, die sich ihrer
wahren Natur nach von ihnen unmöglich erwarten Hessen;
wenn selbst blosse Phantasiewesen für den Glauben jenen
Schein der Realität erhielten, welchen die Götter des Poly-
theismus für ihre Verehrer unstreitig gehabt haben und noch
laben; ja wenn gerade bei den gebildetsten Völkeni des Alter-
thums die Götter, deren Wirklichkeit zu bezweifeln Jahrhun-
derte und Jahitausende lang niemand in den Sinn kam, ganz
überwiegend in solchen Phantasiewesen bestanden?
Zunächst nun konnten die Wünsche und die Bedüifhisse,
welche in den Menschen die Sehnsucht nach höherem Bei-
istand hervoniefen, nur von der sinnlichsten Art sein. Die
Gefahren der See, der Jagd, des Krieges ; die Noth, in die sie
durch Krankheiten, durch Mangel an Nahiiingsmitteln , durch
TJeberschwemmungen und Stürme vei'setzt wurden; die Angst,
welche schreckhafte Naturerscheinungen, Sonnen- und Monds-
:finstei*nisse , Kometen, Erdbeben u. s. w. ihnen einflössten:
diess waren die Uebel, die sie bedrängten, aus denen höhere
Mächte sie retten sollten. Sieg im Kampfe, reiche Beute auf
der Jagd und beim Fischfang und beim Einsammeln wild-
wachsender Flüchte, dieses und ähnliches waren die Güter,
über die ihre Wünsche nicht hinausgiengen. Mit den Fort-
schritten der Kultur wuchs die Zahl der menschlichen Bedürf-
nisse, der Thätigkeiten und der Lebensgebiete, welche unter
den Schutz der Götter gestellt wurden ; mit der Entwickelung
des sittlichen Lebens begann man auch dieses ihrer Obhut zu
befehlen, die sittlichen Verpflichtungen als Pflichten gegen die
Götter, die Verletzung dei*selben als Verletzung der Götter,
als Sünde, zu betrachten; es entstand das Bedüifniss, von
32 Ueber Ursprang und Wesen
dieser Schuld frei, mit der Gottheit vei-söhnt zu werden, und
die Religion erhielt so allmählich in dem sittlichen Bewusst-
sein eine neue, tiefere Grundlage. Aber ihre erste Entstehung^
reicht ohne Zweifel in Zeiten hinauf, in denen das letztere
noch so unentwickelt war, dass es zu dei-selben nur einen ge-
ringen Beitrag geben konnte, und auch heute noch fehlt ea
nicht an Beispielen von Volksstämmen, deren Religion in einem
so rohen und äusserlichen Gottesdienst aufgeht, dass sich mo«
ralische Motive derselben kaum in schwachen Spuren ent«
decken lassen.
Was für Anlässe aber auch zur Entstehung des Götter-
glaubens in den Anschauungen, den Bedürfnissen, den Wün-
schen der Menschen gegeben waren: dieser Glaube selbst war
darin noch nicht gegeben, sondern er konnte sich daraus nur
entwickeln. In welcher Art diess geschah, ist die Frage, deren
Untersuchung uns zunächst obliegt.
5.
Alle Vorstellungen über die Gottheit sind ursprünglich,
wie wir gesehen haben, dadurch entstanden, dass gewisse Wir-
kungen, die man erfahren hatte oder erfahren zu haben glaubte,
die man wünschte oder fürchtete, auf übernatürliche Ursachen
zurückgeführt wurden. Der Fortgang von den Thatsachen zu
ihren Ursachen entspringt nun immer aus unserem Denken v
und insofern ist es ganz richtig, wenn alle Religion, selbst die
rohesten und dürftigsten Religionsformen nicht ausgenommen,
auf das menschliche Denken zurückgeführt wird: wäre der
Mensch kein Veniunftwesen , läge die Fähigkeit und das Be-
dürfniss des Denkens nicht in seiner Natur, so könnte ihm die
Frage nach den Gründen der Dinge, es könnten ihm daher
auch die Vorstellungen, zu denen diese Frage ihn hinfühi-t,
überhaupt nicht entstehen. Aber wenn es auch das Denken
ist, das die Frage auf wirft, so gibt doch die Antwort darauf
zunächst nicht der Verstand, sondern die Phantasie. Sie allein
kann vemunftlose , selbst leblose Dinge zu Göttein personifi-
ciren, sie allein jene Bilder von Gottheiten erzeugen, denen
der Religion. 33
keine reale Anschauung entspricht; nur ihr gehört die Wun-
dei-welt an, in der sich der Glaube von Hause aus so un-
befangen bewegt, nur ihre Zaubermacht ist es, welche sich
in der Voratellung abspiegelt, der göttlichen Allmacht sei auch
das Unmögliche möglich; dem verständigen Denken dagegen
bahnt gerade die Einsicht in die Gesetzmässigkeit des Welt-
laufs, und sie allein, den Weg zur Gottheit. Die Phantasie
aber schöpft nicht blos den Stoff für ihre Erzeugnisse aus der
Erfahrang, sondeni sie wird auch bei der Bearbeitung dieses
Stoffes theils' von empirischen Analogieen, theils von pei-sön-
lichen Gefühlen und Stimmungen geleitet. So frei ihre
Schöpfungen sich oft ausnehmen, so weit sie über alles hinaus-
gehen, was uns in der Wirklichkeit jemals vorgekommen ist,
oder vorkommen kann, so führen sie sich doch immer auf eine
Verknüpfung und Umänderung von Elementen zui-ück, welche
uns durch die äussere oder die innere Wahniehmung bekannt
sind; und der Gesichtspunkt, von dem sie hiebei ausgeht, ist
nicht der objektive, sondeni der subjektive. Sie untei-sucht
nicht, wie die Dinge an sich selbst zusammenhängen, sondern
sie bringt dieselben kui*zer Hand in diejenige Verbindung,
welche sich einem jeden als die gefälligste und für ihn,
nach seiner individuellen Vorstellungsweise, vei*ständlichste zu-
nächst darbietet; sie fragt nicht, 'wie die Welt nach natür-
lichen Gesetzen beschaffen ist und beschaffen sein kann, son-
dern sie entwirft das Bild einer Welt, die so beschaffen ist,
wie die Bedürfnisse, die Wünsche, die Hoffnungen und Be-
füi-chtungen des Menschen es verlangen. Je weiter der Mensch
noch von einer wissenschaftlichen Erforschung der Dinge ent-
fernt, je dürftiger seine Natur - und Geschichtskenntniss, je un-
geübter sein Verstand ist, um so ausschliesslicher wird seine
Weltbetrachtung von dieser Phantasieanschauung behen-scht
sein; und da nun eben dieses in den ei-sten Zeiten mensch-
licher Geistesentwickelung nothwendig im höchsten Grade der
Fall war, so können alle die Voi-stellungen über die Gründe
der Dinge, zu denen die Vemunftanlage des Menschen auch
damals schon hindrängte, nur Gebilde der Phantasie, und
Zell er, Vorträge und Abhandl. 3
34 U«b<r Unprcz^ und
xvAT einer i>'>rh ga^nz rohen und kiliilidien Phantasie, ge-
wesen seta.
Hieraus ergeben sich nun einige eingreifende Folgerungen
fjr ien Giarakter der äitesten VoT^teUnngen von der Gottheit.
Zanächst liegt am Tage, dass es inimer nur einzelne f&r
iiie Menschen der Urzeit besonder» bedeutsame Erscheinungen,
einzelne Erfahniniren und Bed&rfr.isse sein konnten, die säe
zur Annahme übennenf^hlicher Wesen Teranlassien : dass äe
sich daher diese Wesen nur als eine Anzahl einzelner Grott-
heiten vorstellen konnten, von denen jede in ihrer Wirkung
ULd Bedeutung auf eine gewisse Klasse von Erscheinungen,
ein ihr eigenthümliches Gebiet beschränkt war: dass die älteste
Religion nicht Monotheismus sein konnte, sondern nur Poly-
theismus. Denn der Glaube an die Einheit Gottes entsteht
nur dadurch, dass alles Wirkliche zu Einem Ganzen zusammen-
. gefasst und dieses Weltganze auf seine letzte Ui"sache zurück-
geführt wird: und dazu ist eine Abstraktion und Combination
nöthig. welche über das Veimögen und das Bedürfioiss eines
noch ganz ungeübten, im eisten Rohzustand befindlichen Den-
kens weit hinausgeht. Für den Naturmenschen ist die Welt
nur eine Vielheit von Einzeldingen, von denen er gewisse Ein-
wirkungen ei'fährt; und auch wenn der Zusammenhang dieser
Dinge sich ihm aufdrängt, verfolgt er denselben noch nicht
weiter, als bis zu den nächsten, in der unmittelbaren Eiüah-
rung gegebenen Verknüpfungen. Er begnügt sich daher auch,
wenn die Frage nach den Ursachen der Dinge bei ihm auf-
taucht, wie die Kinder, mit solchen Causalvorstellungen, welche
die nächste Ureache jeder Erscheinung auf eine seiner Fas-
sungskraft einleuchtende Weise bezeichnen, ohne diese selbst
wieder auf ihre Ursachen zuillckzuführen und sich so zu dem
Gedanken allgemeiner, verschiedene Reihen von Ei'scheinungen
gemeinschaftlich umfiissender Ui'sachen zu erheben. Er be-
merkt etwa, dass die Sonne Licht und Wanne verbreitet, und
verehrt sie dosshalb als (rottheit^ er hat die gleichen Wohl-
thaten auch dorn Vciwar zu verdanken, und verehrt es gleich-
falls ; aber diese Wirkungen auf Eine gemeinschaftliche Quelle
der BeligioB. 35
zurückzuführen, in dem Sonnenlicht und dem Heerdfeuer Wir-
kungen Einer und derselben Naturkraft zu vennuthen, kommt
ihm nicht in den Sinn. Selbst die höchststehenden unter den
Naturreligionen haben für verwandte Ei*scheinungen ganze
Reihen verschiedener Götter: Helios ist ein anderer, als Se-
lene, die Göttin des Heerdfeuers eine andere, als der Gott des
Schmiedefeuers, sogar Apollo, der himmlische Lichtgott, wird
von dem Sonnengott noch untei-schieden. Andererseits aber
müssen wegen des Ineinandergreifens der Gebiete, denen sie
vorstehen, auch die Gottheiten in . ihrer Wirkung und Bedeu-
tung sich vielfach nicht blos berühren, sondern auch ver-
mischen, wie diess in allen Mythologieen , oft bis zum Ueber-
mass, vorkommt; und neben dem wirklichen Zusammenhang
der Ei'scheinungen , die an verschiedene Gottheiten veilheilt
waren, mussten in dieser Beziehung, gerade in Zeiten, deren
Naturkenntniss auf ein kleinstes beschränkt war, jene ver-
meintlichen Zusammenhänge noch viel stärker in's Gewicht
fallen, welche die Phantasie nach unbestimmten Analogieen und
Eindrücken oft zwischen dem allerentlegensten herstellt. — Dieser
Polytheismus musste nun von der Idee einer geordneten Götter-
welt um so weiter entfernt sein, je weniger die Weltanschau-
ung der Menschen zur Klarheit gediehen, das Leben dei-selben
von sittlichen Ordnungen beherrscht war. Denn wenn auch
die Zahl der Götter mit der bestinmiteren Unterscheidung
der verschiedenen Natur- und Lebensgebiete und der Verviel-
fältigung der menschlichen Thätigkeiten und Bedürfnisse an-
wächst, muss doch zugleich die r d n u n g derselben, die schärfere
Abgrenzung der Gegenstände, über welche die HeiTSchaft einer
Gottheit ausgedehnt wird , und der Wirkungen , die auf sie
zurückgeführt werden, in demselben Masse zunehmen, und es
wird so der ui*sprüngliche verwoiTone Polytheismus allmählich
in ein bestimmter gegliedertes Göttersystem übergehen. Je
deutlicher endlich der Zusanunenhang alles Seins geahnt wird,
und je mehr auch der Mensch die unbestimmte Mannigfaltigkeit
seiner Bestrebungen auf einen höchsten Lebenszweck beziehen,
die Individuen und ihr Thun einem umfassenden Gemeinwesen
36 lieber Ursprung und Wesen
einfügen lernt, um so entschiedener wird über die vielen Göt-
ter der Eine als der höchste und schliesslich als der alleinige
sieh emporheben. Die Voi-stellung dieser Einheit ist schon
frühe durch die scheinbare Umgrenzung der Welt, die An-
schauung des allumfassenden Himmelsgewölbes, an die Hand
gegeben; und es findet sich desshalb kein etwas entwickelter
Polytheismus, der nicht den Himmelsgott als Götterkönig ver-
ehrte. Aber damit dieser Beherrscher der Götter die einheit-
liche, alles bestimmende Macht, und ebendamit alle anderen
Götter neben ihm entbehrlich werden, bedarf es einer langen
Geistesarbeit, und es können hiefür vei*schiedene Wege ein-
geschlagen werden. Es kann eine der polytheistischen Gott-
heiten zum ausschliesslichen Nationalgott eines Volkes erhoben ,
und alle übrigen an Macht und Grösse gegen ihn so herab-
gesetzt werden, dass sie am Ende' den Charakter von Göttern
verlieren, und sich jenem entweder als seine Geschöpfe und
Diener untei-ordnen oder für etwas nichtiges, blos in der Ein-
bildung existirendes erklärt werden. Auf diesem Wege scheint
der jüdische Monotheismus entstanden zu sein. Es kann unter
den vielen Göttern, die ein Volk verehrt, ein einzelner, der
Götterkönig, zu einer so hohen Erhabenheit und Vollkommen-
heit idealisirt, mit einer solchen Fülle der Macht, der Weis-
heit und der Güte ausgestattet werden, dass die übrigen Göt-
ter der Sache nach nur noch die Werkzeuge sind, durch die
sein Rathschluss sich vollbringt ; und in dieser Art haben z. B.
die grossen Dichter des fünften vorchristlichen Jahrhunderts
den giiechischen Polytheismus dem Monotheismus so nahe ge-
bracht, als diess möglich war, ohne seinen ganzen Boden grund-
sätzlich zu verlassen. Es kann aber auch dieser letzte Schritt
gewagt, es kann der Monotheismus auf eine principielle Kritik
des Polytheismus gegiündet werden, der nur die Idee der
Gottheit als solche zum Masstab dienen kann; wie diess von
den alten Philosophen seit Xenophanes so vielfach geschehen
ist.*) Wie aber auch der Monotheismus im gegebenen Fall
*) Näheres hierüber gibt das erste Stück der 1. Sammlung: „Die
Entwid^elung des Monotheismus bei den Griechen/'
der Religion. 37
entstanden sein mag: das müssen wir nach den allgemeinen
Bedingungen, an welche die Entstehung der Religion geknüpft
ist, unbedingt annehmen, dass er nicht die ei*ste Gestalt der-
selben gewesen sein kann , nicht die Quelle , aus welcher der
Polytheismus ei-st durch Veranreinigung und TiHbung ent-
sprungen wäre, sondern das Resultat einer geistigen Entwicke-
lung von unbestimmbai-er Dauer, deren Ausgangspunkt nur
in einem äusseret rohen und verwonenen Polytheismus gelegen
jbaben kann.
Wie nun hiernach die vielen Götter im Glauben der Men-
schen dem Einen vorangiengen, so giengen auch die sichtbaren
Götter den unsichtbaren, die sinnlichen den geistigen voran.
Für den sinnlichen Menschen existiit überhaupt nichts, als
was er mit seinen Sinnen wahrnimmt oder wahi*zunehmen
glaubt. Auch die Frage nach der XJi-sache einer Ei-scheinung
hat füi* ihn, wenn sie ihm zuei*st auftaucht, nur die Bedeu-
tung, dass dasjenige Ding gesucht werden soll, von dem sie
hervorgebracht ist. Sofeni ihn daher diese Frage zum Glau-
ben an Götter hinführt, werden diese Götter zuerst sinnlich
wahrnehmbare Wesen sein, von denen er gewisse Wirkungen
herleitet; mögen dieselben nun wirklich von ihnen heiTühren,
oder nur von seiner Phantasie mit ihnen in Verbindung ge-
bracht werden. So wird die Sonne verehi-t, weil sie am Tage
Licht und Wanne spendet, der Mond, weil er die Nacht er-
hellt, die Erde, weil ihre Früchte uns ernähren; ebenso aber
auch jeder beliebige Fetisch, ein heiliger Stein oder ein heiliges
Thier, oder ein i-ohes Götzenbild, weil ihnen der Aberglaube
gewisse Kräfte andichtet und gewisse Wirkungen von ihnen
erwartet. Dass aber diese köi-perlichen Dinge, und daiimter
auch solche, die der Mensch selbst veifertigt hat, oder die er
wenigstens nach Belieben beschädigen und zerstören kann, zu
Gottheiten erhoben, mit übernatürlichen Kräften ausgerüstet
werden konnten, diess ist in der Art begiUndet, in der alle
unsere Gausalvoretellungen ursprünglich gebildet werden.
So gewiss es näiplich ein allgemeines Gesetz unseres Den-
kens ist, das uns nöthigt, nach den Ursachen der Dinge zu
38 üeber Ursprung und Wesen
fragen , so bestimmt sich doch der nähere Inhalt der Voi-stel-
lungen, die wir uns über diese Ui^sachen bilden, durchaus
nach den Erfahningen, von denen wir hiefür ausgehen. Wir
setzen für jede Erscheinung und jede Klasse von Erscheinungen
solche Ursachen und eine solche Wirkungsai-t dieser Ui-sachen
voraus, welche uns am geeignetsten scheinen, sie zu erklären.
Wie es sich aber hiemit verhält, diess hängt einerseits von
der Beschaffenheit dessen, was auf diesem Weg erklärt wer-
den soll, andererseits aber ebensosehr von der Beschaffenheit
der Causalvorstellungen ab, die unsere bisherige Erfahrung
uns an die Hand gibt. Wenn wir uns fragen, ob ein ge-
gebener Gegenstand oder Vorgang von einem anderen hei*vor-
gebracht sein könne, oder welches die uns in der Wahr-
nehmung nicht unmittelbar vorliegende Ui*sache einer Erschei-
nung sein möge, so leitet uns dabei immer die Analogie der
Erfahrung. Wir können die Ursache jeder Ei-scheinung nur
in etwas finden, das uns entweder durch unmittelbare An-
schauung oder durch die Erinneining an frühere Anschauungen
schon bekannt ist, oder das mit etwas uns Bekanntem eine
solche Aehnlichkeit hat, dass wir uns eine annähernde Vor-
stellung davon zu bilden im Stande sind ; und wenn wir wissen
wollen, auf welchem Wege diese üi'sache die ihr zugeschriebe-
nen Wirkungen hervorbiinge, müssen wir uns gleichfalls im-
mer an solche Vorgänge halten, von denen wir uns auf Grund
unserer bisherigen Erfahrung ein Bild machen können. Nun
ist aber das einzige Beispiel einer wirkenden Kraft, das uns
durch unmittelbare Anschauung bekannt ist, der menschlich»
Wille, unseres eigenen WoUens sind wir uns unmittelbar be-
wusst ; und wissen wir auch nicht, in welcher Weise aus dem-
selben die Bewegungen unseres Leibes hervorgehen, so können
wir doch nicht blos nicht bezweifeln, dass sie durch unser
Wollen hervoi-gebracht seien, sondern diess scheint uns auch^
weil wir es von Kindheit an gewohnt sind, so natürlich, dasa
wir das Bedüi-fhiss, es zu erklären, gar nicht empfinden. Von
anderen Dingen dagegen sehen wir wohl, dass mit ihrem Da-
sein und Wirken gewisse Erfolge verknüpft sind ; aber wie sie
der Religion. 39
diese Erfolge heiTorbiingen, können wir nicht sehen, sondeni
hier tritt unsere Phantasie in die Lücke und ergänzt unsere
WahiTiehmung durch die Annahme, dass auch in diesem Fall
die Wirkungen aus ihren Ursachen in derselben Weise hervor-
gehen, wie in dem einzigen uns durch Anschauung bekannten :
sie ftthrt sie ebenso, wie die Handlungen der Menschen, auf
einen Willen Äuiiick, und macht ebendamit die Wesen, von
denen sie ausgehen, zu wollenden, menschenähnlichen Wesen,
zu Personen. Die Personifikation der wirkenden
Kräfte ist die natürliche Form, unter welcher der
Begriff der Ursache sieh dem Menschen zuerst
darstellt. So ist es bei den Kindeni, und ebenso ist es bei
ganzen Stämmen und Völkeni, so lange sie sich noch im Zu-
stand der Kindheit befinden. Ein Kind behandelt nicht blos
die Thiere selbstverständlich als Seinesgleichen, ja es sieht an
ihnen nicht selten wegen ihrer Körperkraft, Schnelligkeit oder
Kunstfertigkeit mit Bewunderung hinauf, sondeni auch das
Leblose wird ihm sofort zu etwas Lebendigem und Persön-
lichem, sobald es eine Wirkung von ihm erfährt oder zu er-
fahren meint. Es macht in seinem praktischen Verhalten
natürlich auch schon einen Unterschied zwischen beiden: es
weiss recht wohl, dass der Stein nicht gehen kann, wie ein
Thier, die Pflanze nicht reden, wie ein Mensch. Aber sobald
ein Ding sich selbst zu bewegen scheint, oder eine fühlbare
Wirkung von ihm ausgeht, wird es für längere oder kürzere
Zeit von ihm belebt, mit Willen und Vorstellung ausgestattet :
es zürnt dem rollenden Stein, der es getroffen, dem Stuhl, an
dem es sich gestossen hat, es hört in dem Rauschen des Win-
des unwillkürlich die Stimme, es fühlt in seinem Wehen den
Athem eines lebenden Wesens; und so wenig ihm auch das
Leblose* mit dem Lebenden, das Vemunftlose mit dem Ver-
nünftigen durchaus zusammenfliesst, so ist doch die Grenze,
die sie scheidet, noch ganz unsicher und schwankend, und bei
jedem Anlass leicht zu übei*springen. Nicht anders kann es
sich auch bei den Erwachsenen im Naturzustand der Urzeit
verhalten haben. Wo sie eine scheinbar freie, durch keine
40 Heber Ursprung und Wesen
äussere Gewalt hervorgebrachte Bewegung wahrnahmen, wussten
sie sich dieselbe nur nach der Analogie ihrer eigenen Hand-
lungen zu deuten: was von sich aus wirkte, erschien ihnen
nicht allein als etwas Lebendiges, sondern als ein frei wollen-
des pei-sönliches Wesen, dem ebendamit alle Eigenschaften der
menschlichen Persönlichkeit beigelegt wurden, und das man
sich desshalb auch, so weit nicht der Augenschein im Wege
stand, am liebsten in menschenähnlicher Gestalt voi*stellte.
So belebte sich die ganze Natur: die Gestirne mussten lebende
Wesen sein, weil sie durch den Himmelsraum hinziehen, weil
sie leuchten und wärmen ; wie der Stein oder der Speer von der
Faust des Menschen, so musste der Blitz von der eines Gottes
geschleudeii werden, oder man sah auch in ihm selbst un-
mittelbar ein lebendiges Wesen, den feurigen Adler des Him-
mels. Die Wetterwolke, welche die Sonne verdeckt, wurde
zu einem feindseligen Riesen; der Mondschatten, der sie ver-
finstert, zu einem Ungeheuer, das sie verschlingen will. Das
Toben des Windes und das Brausen der Wogen, das Wachs-
thum der Bäume und das Rauschen des Waldes, der Winter-
schlaf der Pflanzen und ihr Erwachen im Finihling, jede Be-
wegung, Kraftäussei-ung, Entwickelung schien das Zeichen eines
Lebens, das man sich nur nach dem Vorbild des menschlichen
vorzustellen wusste. Uns erscheint diese Naturanschauung so
fremdartig, dass wir uns nur mit Mühe auf den Standpunkt
dereelben vei-setzen können, weil wir eben von Klein auf an
eine andere gewöhnt sind. Aber der Augenschein zeigt, dass
sie die Menschheit wähi*end eines Zeitraums von unbestimm-
bar langer Dauer beherrscht hat, und dass selbst die Wissen-
schaft sich nur mühsam und schrittweise von ihr zu befreien
vermochte; und wenn wir uns die Bedingungen klar machen,
unter denen das Denken der Urzeit sich entwickelte, werden
wir uns leicht übei*zeugen, dass diess die einzige Form war,
in welcher sich der Begriff der wirkenden Ki'äfte ihrer kind-
lichen Phantasie darstellen konnte.
In dieser Personifikation der lebendigen Kräfte liegt nun
die Quelle aller Mythologie. Die Naturdinge , deren Einwir-
der Religion. 41
kung der Mensch erfuhr, wurden als menschenähnliche Wesen
gedaeht, mit Vei-stand, Willen und Selbstbewusstsein aus-
gestattet, sie wurden zu Personen ; und wenn ihre Wirkungen
über das eigene Vermögen des Menschen hinausgiengen, wur-
den sie zu tibermenschlichen Persönlichkeiten, zu Göttem.
Zuerst nun waren es ohne Zweifel, wie bereits bemerkt wurde,
nur äussere, sinnlich wahmehmbare Gegenstände, die in dieser
Weise zu Göttern gemacht wurden. Die Sonne und der Mond
erschienen als Gottheiten ; im Donner vernahm man die Stimme
eines Gottes oder das Rollen seines Wagens; im zei-schmettern-
den Blitzstrahl empfand man die Gewalt seines Armes. Dem
Thier, vor dessen Stärke man sich Itirchtete, dessen Schönheit
oder Klugheit man bewunderte, dem Baum, dessen Wuchs über
den aller anderen empon-agte, dem Strom und der Quelle,
selbst einem bunten Stein oder einem glänzenden Stück Erz
oder sonst einem Fetisch wurde religiöse Verehining zutheil.
Wie freilich diese Götter die Wirkungen hervorbringen, die
man ihnen zuschrieb , daiHber konnte man sich nur da eine
nähei'e Vorstellung bilden, wo die Analogie eines menschlichen
Thuns dazu ausreichte. Von der Sonne und dem Mond konnte
man sich etwa voi-stellen, dass sie mit lichtstrahlendem Schild
den Luftraum durchwandern, in leuchtendem Nachen oder auf
feuei'sprühendem Wagen dahinziehen ; in der Höhlung, aus der
das Wasser hervorquillt, konnte man sich eine Nymphe den-
ken, die es aus einem nie vei-siegenden Kruge ausgiesst ; beim
Donner und Blitz konnte man sich eine anschauliche, wenn
auch noch so kindliche Voi-stellung darüber machen, wie ein
menschenähnlicher Gott sie hervorbringe. Wie es dagegen
ein heiliger Stein oder eine heilige Schlange angreifen sollen,
um ihren Verehrern Sieg zu bringen, Krankheit oder Hungei-s-
noth von ihnen abzuwenden, dafür lässt sich allerdings nicht
blos keine Erklämng ersinnen, sondern es lässt sich auch
durch keine Vergleichung mit irgend einem sonstigen Vorgang
auch nur scheinbar anschaulich machen. Aber hat sich der
Aberglaube denn jemals eine Sorge dämm gemacht, ob etwas
möglich sei, und wie es geschehen könne, wenn er ein Inter-
42 Ueber Ursprung und Wesen
esse daran hatte, es für wirklich zu halten? Wer, der an
solche Dinge glaubt, legt sich denn Rechenschaft daillber ab,
wie es zugehe, dass eine Besprechung das Blut stillt, oder
eine Zauberei den längstvergrabenen Schatz hebt; dass ein
Drudenfuss auf der Schwelle die bösen Geister, ein Blumen-
strauss, am Himmelfahrtsmorgen gepflückt, das Feuer vom
Hause ferne hält, dass ein Amulett vor Krankheit und feind-
lichen Kugeln schützt, dass ein Komet Krieg bedeutet, dass
das Wetter 40 Tage lang bleibt, wie es am Tage der 40 Ritter
gewesen ist u. s. w.? Gerade darin besteht ja der Aber-
glaube, dass man die Fragen, welche der Anfang aller wirk-
lichen Naturkenntniss sind, nicht aufwirft, dass man von ge-
wissen Dingen, Handlungen, Worten und Zeichen Erfolge er-
wartet, von denen man nicht blos nicht einsieht, wie sie aus
ihnen hervorgehen können, sondern von denen man auch
schlechterdings nicht weiss, ob sie jemals aus ihnen hervor-
gegangen sind. Man wünscht oder fürchtet, dass etwas ge-
schehen möchte; man bringt dieses Geschehen mit irgend et-
was in Verbindung , das vielleicht einmal zufällig mit ihm zu-
sammentraf, weit in den meisten Fällen aber mit etwas, das
nui- einen analogen Eindruck macht, oder durch eine ganz
unberechenbare Ideenassociation daran erinnert; und man
macht nun aus diesen subjektiven Vorstellungsverknüpfiingen
objektive Zusammenhänge, legt den Dingen magische Kräfte
bei, und meint auch wohl selbst, magische Wirkungen durch
Mittel hervormfen zu können, welche zu dem, was man von
ihnen erwartet, natürlicher Weise auch nicht das geringste
beitragen können. Statt des wirklichen Zusammenhanges der
Dinge, den man nicht kennt, erträumt man sich einen solchen,
der nur in der Einbildung vorhanden ist; und man erträumt
ihn sich an erster Stelle desshalb, weil man sich nur in dieser
Phantasiewelt auf Erfüllung der Wünsche Hoffnung machen
kann, denen die wirkliche Welt ihre Befriedigung verweigert.
Um auf natürlichem Wege reich zu werden, braucht es Zeit,
AiHbeit, Sparsamkeit, Geschicklichkeit; und wer auch alles
dieses daran wendet, dem gelingt es vielleicht doch nicht.
der Beligion. 43
Wer es bequemer, und wie er meint, auch sicherer haben
will, der wendet sich an einen Schatzgräber, oder an die
Kai-tenschlägerin, die ihm sagt, welche Nummer in der Lot-
terie gewinnen wird. Um eine gefährliche Krankheit, ein be-
schwerliches körperliches Leiden los zu werden, muss man
den Arzt zu Rathe ziehen, sich einer langwierigen Kur unter-
werfen, sich eine unangenehme, vielleicht schmerzhafte Behand-
lung gefallen lassen; und in tausend und abertausend Fällen
ist die Kunst, selbst des geschicktesten Ai-ztes, doch verloren.
Wie viel ist da nicht der Wundermann werth, der durch sein
blosses Wort oder mit ein paar sinnlosen Cärimonien die bösen
Geister der Krankheit in die Flucht schlägt! Je dringender
die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen sich geltend
machen, und je weniger sie dieselben mit natürlichen Mitteln
zu befiiedigen sich im Stande fühlen , um so näher liegt allen
denen, welche vom gesetzmässigen Naturlauf keinen Begriff
haben, und daher auch die Ergebung in den Naturlauf nicht
gelernt haben, der Vei*such, durch ausser- und übernatürliche
Mittel zu erreichen, was ihnen sonst versagt bliebe; um so
leichter verkehii sich ihnen daher auch der wirkliche Zu-
sammenhang des Geschehens in einen zauberhaften und er-
träumten. Denken wir uns nun einen Zustand, in dem die
Naturkenntniss der Menschen noch auf die allerdürftigsten und
zunächstliegenden Erfahrangen, ihre Macht über die Natur
auf den einfachsten Gebrauch ihrer Körperkräfte beschränkt
war, so begreift es sich, wenn sich in demselben die ganze Welt-
anschauung von dem Glauben an magische Kräfte und zaube-
rische Wirkungen behen-scht zeigt. Ein wirklicher Naturzusam-
menhang existirt für diesen Standpunkt noch gar nicht; es
gibt nur einzelne Dinge und Vorgänge, von denen die einen
dem Menschen durch Gewohnheit vertrauter geworden sind
und daher sein Staunen nicht mehr enegen, die anderen ihm
als etwas ungewöhnlicheres auffallen, die aber alle gleich un-
verstanden und zufällig vor ihm dastehen. Er weiss wohl,
dass mit gewissen Erscheinungen gewisse andere verknüpft zu
sein pflegen, wie der Rauch mit dem Feuer und der Donner
44 üeber Ursprung und Wesen
mit dem Blitz; da er aber noch keinen Versuch macht, das
eine aus dem anderen zu erklären, und da vollends der Ge-
danke einer gesetzmässigen Verknüpfung aller Erscheinungen
ihm noch gänzlich fremd ist, so gibt es für ihn nichts, was
ihn abhielte, die widersinnigsten Voi-stellungen über die Ur-
sachen der Erscheinungen und die Wirkungen der Dinge, auf
die eine rohe und kindische Phantasie geräth, gläubig an-
zunehmen. Wem das Natüriiche als etwas unerklärbares und
irrationales ei*scheint ,- der kann nicht umhin , das Unerklär-
bare und Irrationale natürlich zu finden. Wenn daher die
Macht jener Wesen, von welchen man die Naturerscheinungen
herleitete und die Erfüllung der menschlichen Wünsche er-
wartete, die Macht der Götter, ursprünglich rein zauberhaft
vorgestellt wurde, wenn man sich überall Einflüssen ausgesetzt,
von Gefahren und Schwierigkeiten bedroht glaubte, denen mit
natürlichen Mitteln nicht beizukommen sei, so war diess nur
die nothwendige Folge der Unwissenheit, welche während un-
absehbarer Zeiträume nicht blos die Kenntniss der wirklichen
Ursachen, sondem auch schon die allgemeine Voraussetzung
eines natürlichen Zusammenhangs der Ei'scheinungen unmög-
lich machte.
Je unsicherer sich aber der Mensch in einer solchen Welt
fühlen, je unheimlicher ihm jene Wesen sein mussten, deren
Wirkungen ihn allenthalben umgaben, von deren Willen er
sein Leben, seine Gesundheit, seinen Besitz in jedem Augen-
blick abhängig glaubte, von denen er aber nie wissen konnte,
wie sie gegen ihn gesinnt seien, und ob sie nicht das un-
erwartetste und unwahrscheinlichste plötzlich über ihn ver-
hängen, ob nicht die hinter den Dingen lauernde unberechen-
bare Macht ihn vei*schlingen werde, um so lebhafter musste
sich ihm das Bedüi*&iiss aufdmngen, diese Macht auf seine
Seite zu bringen, sich der Gunst der Götter zu vereichem.
Eben dieses war ja von Hause aus ein Hauptmotiv für die
Entstehung des Götterglaubens gewesen, dass der Mensch nur
mit höherer Hülfe die Uebel und Gefahren, die ihn bedi'äng-
ten, zu überwinden, die Güter, nach denen er sieh sehnte, zu
der Beligion. 45
erlangen hoffen konnte. In der Aussicht, diese Hülfe zu ge-
winnen, und von den schlimmen Folgen verschont zu werden,
welche die Missgunst der Götter nach sich ziehen musste, in
der Erfüllung seiner Wünsche und der Beschwichtigung seiner
Befürchtungen musste sich die Bedeutung jenes Glaubens ge-
rade in den frühesten und niedrigsten Religionsfonnen um so
ausschliesslicher zusammenfassen, je weniger der Mensch noch
anderen als sinnlichen Gütern einen Weilh beizulegen, andere
als sinnliche Uebel zu fürchten gelenit hatte, und je weniger
sein Glaube selbst das geistige und sittliche Leben zu wecken
geeignet war. Wenn man daher den Wunsch für den Vater
oder die Furcht für die Mutter der Religion gehalten hat,
wenn man den Götterglauben und die Götterverehrung von
dem Bedüi-fhiss des Menschen hergeleitet hat, auf übernatür-
lichem Wege das zu en-eichen, wofür seine natürlichen Hülfs-
mittel nicht genügten, so ibt damit der Ursprung der Religion
zwar weder vollständig, noch ei*schöpfend erklärt; aber so viel ist
richtig, dass die ersten und unvollkommensten Religionsformen
zu ihrem gi'össeren Theile aus jenen praktischen Beweggrün-
den entspi-ungen sind, und dass ebendesshalb die Gottesver-
ehrung in denselben in der Hauptsache aus dem egoistischen
Bestreben hervorgeht, die Macht der Götter in den Dienst der
menschlichen Bedürfhisse und Wünsche zu ziehen.
Was man nun hiefür zu thun habe, das ergibt sich auf
dem Standpunkt, um den es sich hier handelt, einfach genug«
Da die Götter menschenähnliche Wesen sind, nur viel mäch-
tiger als die Menschen, so wird man sie sich durch die glei-
chen Mittel geneigt machen können, wie die, welche man an-
wendet, um einen Mächtigeren für sich zu gewinnen. An
erster Stelle daher durch Geschenke, wie die Eigenart jeder
Gottheit sie verlangt und die Neigungen seiner Verehrer sie
als werthvoU und dem Gott wohlgefällig erscheinen lassen.*)
*) „Mit Geschenken gewinnt man die Götter", sagt Hesiod, „mit Ge-
schenken die Fürsten" ; was man nur umdrehen darf, um fiir die Opfer die
richtige Erklärung zu erhalten, dass man die Götter ebenso, wie die Mäch-
tigen der Erde, durch Geschenke zu gewinnen suche.
46 üeber Ursprung und Wesen
Weiter durch Bitten, LobpreisuBgen , Handlungen aller Art,
die Anhänglichkeit, Ergebenheit, Untei-wüi-figkeit ausdrücken.
Unter allen Umständen werden freilich diese Mittel nicht ver-
fangen: es kann auch vorkommen, dass der Gott zürnt, und
der Züi-nende lässt sich in der Regel mit blossen Bitten nicht
beschwichtigen; er verlangt mehr, er will seinem Zorn Luft
machen, will sich rächen. Wenn man daher von Unglücks-
fällen betroffen wird, welche den Zorn einer Gottheit beweisen,
oder wenn schreckenerregende Naturei'scheinungen Verderben
drohen, wenn die Gebete keine Erhöining finden, oder wenn
man sich der Vei-schuldung gegen eine Gottheit bewusst ist,
so muss ihrem Zorn ein Opfer gebracht, ihrem Kachebedürf-
niss eine Befriedigung verschafft werden : man verwundet oder
peinigt sich selbst, um die Gottheit durch die Verletzung
dessen, dem sie grollt, zu beschwichtigen; man bestraft den,
dessen Verschuldung seiner Familie oder seinem Volk ihren
Unwillen zugezogen hat; man lässt auch wohl — und diess
ist das bequemste — einen Unschuldigen als Sühnopfer füi- die
Schuldigen büssen. In leichteren Fällen mag hieflir ein Thier
genügen; wenn aber ausserordentliche Unglücksfälle oder Ge-
fahren zeigen, dass der Gott besondei-s schwer erzürnt ist, so
greift man zu dem weithvollsten, was der Mensch kennt, zum
Menschenleben, und es kommt so zu jenen grauenhaften Men-
schenopfeiTi, die alle vorchristlichen^ Religionen in früheren
Stadien ihrer Entwickelung kannten, und die sich in den
meisten von ihnen als ein Hülfsmittel für äusserste Fälle bis
in Zeiten einer hohen Bildung herunter erhalten haben. Will
aber der Gott seinen Verehrern absolut nicht willfahren, so
erlaubt es die Beschränktheit der Glaubensformen, mit denen
wir es hier zu thun haben, dass man statt der Gebete und
Geschenke auch wohl zur Gewalt seine Zuflucht nimmt. Ist
der Gott ein sinnliches Ding, welches in der Hand des Men-
schen ist, ein Fetisch oder Götze, so kann man ihm physische
Gewalt anthun, ihn einsperren, fesseln, in's Wasser werfen,
zei*stören, wie diess alles in rohen Religionen vorkommt, Ist
er ein Wesen, auf das die physische Macht des Menschen sich
der Religion. 47
nicht erstreckt, ein Himmelsköi-per oder einer von den un-
sichtbaren Göttern, die nur in dem Glauben ihrer Verehrer
existiren, so kann man immer noch den Versuch machen,
durch jene zauberischen Mittel, denen auf diesem Standpunkt
eine so hohe Kraft zugetraut wird, einen Zwang gegen ihn
auszuüben. Denn j^n eine unbeschränkte Macht der Götter
wird ja hier noch nicht gedacht: sie sind wohl dem Menschen
überlegen, sie sind im Besitz einer magischen Gewalt, gegen
die seine natürlichen Kräfte nichts vennögen; aber diess
schliesst die Möglichkeit nicht aus, durch einen stärkeren
Zauber auch ihrer HeiT zu werden, und das, was sie nicht in
Güte gewähren, von ihnen zu erzwingen. Daher die für uns
so auffallende Ei^cheinung, dass oft eine gewaltsame, magische
Einwirkung auf die Götter neben ihrer Anbetung hergeht und
die Grenze zwischen beiden nicht fest gezogen ist, die Gebete
zugleich Beschwörungen sind, die Cärimonien und liturgischen
Formeln dem Gott die Nöthigung auferlegen, den Wünschen
seiner Verehi-er zu entsprechen. In den tiefer stehenden Re-
ligionsformen begegnet uns dieser Zug ganz allgemein ; aber
auch in höher entwickelten tritt er nicht selten hervor. So
ist er z. B. für die römische Auffassung der Religion (wie in
dem zweiten Stück dieser Sammlung gezeigt werden wird) von
charakteristischer Bedeutung. Gibt es doch selbst in der
christlichen Welt weite Ländergebiete, in denen für die grosse
Masse der Kultus, was auch die Dogmatik dazu sagen mag,
weniger ein Mittel der Erbauung als eine Art von Magie ist,
und die Macht der Priester in erster Reihe auf der Vorstel-
lung beruht, dass sie im Besitz zauberhaft wirkender Kräfte
und Handwerksgeheimnisse seien, durch welche die Pforten
des Himmels und des Fegfeuers nach Belieben geöffnet oder
vei'schlossen werden können.
6.
Ich habe im vorstehenden den Charakter derjenigen Re-
ligionsfoiinen besprochen, welche sich" in dem ersten rohen
Naturzustand aus dem Wunsch einer üntei-stützung durch
48 Ueber UrspruDg und Wesen
höhere Mächte und aus den ersten Versuchen einer kindlichen
Naturerklärung ergeben mussten. Als das Hauptmotiv des
Götterglaubens erscheint hier noch die Furcht und das phy-
sische Bedtirfniss ; die Macht der Götter wird als eine zauber-
haft und gesetzlos wirkende vorgestellt, der Sitz dieser Macht
in sinnlich gegenwärtige , selbst in vemunftlose oder leblose
Wesen, jedenfalls aber in körperlich gedachte Wesen verlegt;
und die Verehiiing derselben trägt durchaus das Gepräge des
Aberglaubens und der Roheit, welches dem Bildungsstand derer
entspricht, von denen sie ausgeht. Jeder weitere Schiitt zu
einer höheren Entwickelung war dadurch bedingt, dass der
Götterglaube einen geistigeren und vemunftmässigeren Cha-
rakter annahm ; und diess konnte seinerseits nur in dem Masse
geschehen, wie das Leben der Menschen gesittigt wurde und
ihre Weltanschauung zu der Ahnung einer gesetzmässigen und
vernünftigen Weltordnung fortgieng. Denn da die Vorstel-
lungen über die Gottheit nur dadurch entstehen, dass man
die letzten Ursachen von dem aufsucht, was dem Menschen
als ein thatsächliches gegeben ist oder als ein wünschens-
weithes von ihm begehrt wird, so muss sich ihr Inhalt und
ihr Charakter nothwendig nach dem der Wirkungen richten,
die von der Gottheit erwartet oder auf sie zurückgeführt wer-
den ; und es kann gar nicht anders sein, als dass jeder Mensch
und jeder Theil der menschlichen Gesellschaft seine Götter
sich so voi-stellt, wie er selbst ist, dass seine Weltanschauung,
seine Wünsche, seine Ideale sich in ihnen abspiegeln, dass
aber ebendesshalb seine Religion, so weit sie ihm selbst an-
gehört und in ihm lebendig ist, mit dem ganzen Stand seiner
sittlichen und intellectuellen Bildung gleichen Schritt hält und
durch denselben bedingt ist.
Schon dieser Zusammenhang der religiösen Entwickelung-
mit der allgemeinen Kulturentwickelung bringt es nun mit sich,
dass jene nicht rascher als diese vor sich gehen kann. Zu-
nächst ist es schon etwas grosses, wenn man anfängt, von den
Dingen, die als Götter verehrt werden, die in ihnen wirken-
den Kräfte, den ihnen inwohnenden Geist, zu untei'scheiden
der BeligioD. 49
und den eigentlichen Grund der Wirkungen, die man ihnen
zuschreibt, in ihm zu suchen, ebendesshalb aber auch die-
jenigen Wirkungen, die man mit keinem sinnlich gegenwärtigen
Ding in Verbindung zu bringen weiss, auf unsichtbare Wesen
zurückzufühi*en ; wenn der Fetischismus und der Gestimdienst,
in denen wir die ältesten Beligionsfqimen zu suchen haben,
in jenen Geisterglauben übergeht, der bei so vielen Völkern
(z. B. den Chinesen, den Römern, den alten Deutschen, den
amerikanischen Indianem) den hervortretendsten Bestandtheil
ihrer Beligion bildet. Damit es aber dazu kommen kann,
muss dem Menschen zuei-st in sich selbst der Untei-schied der
Seele von dem Leibe irgendwie zum Bewusstsein gekommen
sein. Denn nur in seiner Selbstanschauung sind ihm die
Geistesthätigkeiten gegeben, und nur aus ihr kann er die-
selben auf seine Götter übertragen ; ebendesshalb aber auch
zu dem Begiiff eines unsichtbaren Wesens, dem sie zukommen,
nur dadurch gelangen, dass er ein solches in sich selbst als
seine Seele vom Leib unterscheidet. Geschieht diess nun auch
frühe genug, so erfordert es doch immer üeberlegungen , die
erst mit der Zeit und bei einer gewissen Entwickelung des
Denkens hervortreten konnten. Der Begriff der Seele, in
ihrem Untei-schied vom Leibe, ist uns nicht unmittelbar in
unsei-em Selbstbewusstsein gegeben, sondern er wird ei-st aus
gewissen Thatsachen unserer inneren und äusseren Erfahrung;
abgeleitet. Unser Selbstbewusstsein sagt uns wohl, dass wir
dieses oder jenes wahrnehmen, dass wir Lust oder SchmeiT::
empfinden, dass wir das eine begehren, dem anderen wider-
streben; es kündigt uns mit Einem Wort unsere Thätigkeiten.
und Zustände als die unsrigen an , liefert uns den Begiiff des
Ich als ihres Subjekts. Aber dass dieses Ich etwas anderes
sei, als unser Leib, sagt unser Selbstbewusstsein als solches;
uns nicht; der Mensch hat und kennt sich vielmehr ursprüng-
lich eben nur als Ganzes, als diesen lebendigen Leib; und
wenn er dem, was wir seine Seelenthätigkeiten und Seelen-
zustände nennen, einen bestimmten Ort anweist, so sucht er
diesen, wie wir heute noch an der Ausdi-ucksweise alter und
Zeller, Vorträge und Abhandl. 4
50 Ueber Ursprung und Wesen
neuerer Sprachen sehen, in bestimmten Köi*pertheilen : dem
Herzen, dem Kopf, den Eingeweiden, der Leber, dem Zwerchfell
u. s. w. So natürlich es uns daher jetzt auch ei'scheint, die Seele
oder den Geist dem Leib entgegenzustellen, so kann man dazu
doch ursprünglich erst durch das Nachdenken über gewisse Er-
scheinungen gekommen sein; nur dass diess selbstverständlich
kein wissenschaftliches Denken, und die Erscheinungen, die es
veranlassten, keine anderen sein konnten, als solche, die sich
jedem schon frühe ungesucht aufdrangen. Wenn man die Seele
vom Leib untei-schied, und wenn diess so frühe und so allge-
mein geschah, dass alle etwas entwickelten Sprachen eigene
Ausdiiicke für sie besitzen, so kann der erste Anlass dazu nur
in solchen Wahrnehmungen gelegen haben, die eine reale
Trennung beider, einerseits ein Dasein von Leibern ohne Seele,
anderei-seits ein Dasein von Seelen ohne Leib zu beweisen
schienen. Jenes nun ergab sich einfach aus der Vergleichung
des Leichnams mit dem lebenden Wesen. Wenn mit dem
Tode der Athem und die Stimme aufhöi-t, die Bewegung und
die Empfindung, bald auch die Lebenswäime erlischt, und
nach kui*zer Zeit der ganze Organismus sich in seine Elemente
auflöst, so konnte sich diess gerade ein kindliches, am Sinnen-
schein haftendes Denken kaum anders erklären, als durch die
Annahme, dasjenige Wesen sei aus dem Körper entwichen,
welches ihn bis dahin belebt, bewegt und ei-wärmt hatte, wel-
ches der Sitz der Empfindung und des Bewusstseins gewesen
war. Und da nun alle jene Ei-scheinungen von der letzten
Ausathmung an eintreten, da ferner jenes Wesen jedenfalls
ein unsichtbares sein musste, weil man es sonst beim Austritt
aus dem Leibe wahrnehmen müsste, so lag es am nächsten,
dasselbe in der Luft zu suchen, die im Moment des Todes den
Köi-per verlässt Wirklich bezeichnen auch die verschiedensten
Sprachen die Seele mit Namen, die ursprünglich „Luft** oder
„Hauch" bedeuten. Anderei'seits glaubte man aber auch an
Erscheinungen, die ein Dasein der Seelen ohne ihre Leiber zu
beweisen schienen. Wenn die Bilder Verstorbener oder Ab-
wesender sich im Traume, und unter Umständen selbst im
der Religion. 51
Wachen, der erregten Phantasie so lebendig, wie in gegen-
wärtiger Anschauung, darstellten, so gehörte gar kein beson-
derer Unverstand dazu, um dieselben für wirkliche Erschei-
nungen jener Personen zu halten. Wie vielmehr unsere Kin-
der noch heute zwischen Einbildung und Wirklichkeit nur
sehr unvollkommen zu unterscheiden wissen, das, was ihnen
geti-äumt hat, oder was sie sich zusammengedichtet haben,
oft im besten Glauben als ein selbsterlebtes erzählen, so
machen es auch die Naturvölker. Das ei*ste Merkmal der
Realität ist für den Menschen die Lebhaftigkeit des sinnlichen
Eindruckes: was sich uns unwiderstehlich aufdrängt, das er-
scheint ebendamit als etwas von unserer eigenen Thätigkeit
unabhängiges, als ein Gegenstand ausser uns. Wer seinen
Vorstellungen zu misstrauen, ihre Wahrheit an der Analogie
der Erfahining zu prüfen nicht gewohnt ist, der bleibt bei
diesem ersten Eindruck stehen: das Phantasie- oder Traum-
bild wird ihm zu einem realen Objekt, der Vei*storbene, dessen
Leib längst verwest oder verbrannt ist, hat sich ihm wirklich
gezeigt, vielleicht mit ihm geredet, der Gegenstand oder die
Person, die er entfernt weiss, haben ihm vor Augen gestan-
den. Eines fehlt freilich allen diesen Erscheinungen: die feste
greifbare Köi-perlichkeit. Wenn man sie anfassen, wenn man
die Abgeschiedenen beim Wiedersehen in die Arme schliessen
will, greift man in's Leere.*) Aber daraus folgt nicht, dass
sie blosse Phantasiebilder sind: sie gelten für reale, und somit
auch (denn für diesen Standpunkt fällt beides zusammen) für
körperliche Wesen; nur dass sie nicht aus so grobem Stoffe
bestehen können, wie die festen Körper, sondern aus einem
feineren, wie die Luft und das Licht. Da sie im übrigen sich
der Phantasie ganz in der Gestalt zeigen, in der sie die
*) „Dreimal" — sagt Aeneas bei Virgil, wo er von der Erscheinung
der Ereüsa erzählt —
„Dreimal wollt' ich das Bild mit liebenden Armen umhalsen,
Dreimal griff ich nach ihm umsonst : es entfloh meinen Händen,
Aehnlich dem flüchtigen Wind und dem leicht hinschweben-
den Traume."
4*
52 üeber Ursprung und Wesen
Erinnerung festgehalten hat, so werden die körperlosen Seelen
als luft- oder lichtartige Wesen vorgestellt, die menschliche
Gestalt haben, denen jedoch die derbere Materialität des
menschlichen Leibes abgeht. Dieser Mangel wird aber zu-
nächst allerdings noch so schwer empfunden, dass sie eben*
desshalb auch des eigentlichen Lebens entbehren sollen: der
Hebräer nennt die abgeschiedenen Seelen die Kraftlosen
(„Rephaim"), und Homer beschreibt sie als „hüpfende Schat-
ten", als Gestalten, denen die Sprache und die Vernunft fehlt;
die eigentliche Substanz des Menschen dagegen sucht er in
seinem Leibe. Durch den Groll des Achilleus, heisst es am
Anfang der Dias, seien viele treffliche Seelen von Helden zum
Hades gesendet, „sie selbst aber" zum Frasse für die Hunde
und Vögel gemacht worden.
In demselben Mass aber, wie das geistige Leben sich be-
«
reicherte und vertiefte, musste das Hauptgewicht mehr und
mehr auf diese Seite herübergerückt, und so schliesslich die
Persönlichkeit oder das Ich in die Seele als solche verl^t
werden, ohne dass doch die letztere desshalb für etwas rein
geistiges, Stoff- und gestaltloses gehalten worden wäre.
Diesem Vorbild gemäss konnte man nun auch an den
Götteni zwei Theile unterscheiden : das Sichtbare und das Un-
sichtbare, den sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand der Ver-
ehning und den Geist, von dem die ihm zugeschriebenen Wir-
kungen ausgehen sollten; und wenn man solche Wirkungen,
die man von keinem wahrnehmbaren Gegenstand herzuleiten
wusste, vorher schon auf irgend welche im verborgenen wir-
kende Wesen zurückgeführt hatte, so war jetzt die Möglich-
keit gegeben, die Vorstellungen von diesen Wesen allmählich
zu vergeistigen und die Götter mit jener feineren Leiblichkeit
zu bekleiden, durch die sie über die Bedürftigkeit der mensch-
lichen Natur emporgehoben, eines seligen und unvergänglichen
Lebens fähig gemacht wurden. Indem fenier die göttlichen
Kräfte von ihren materiellen Trägern abgelöst, der Hauptsitz
derselben in das Unsichtbare verlegt wurde, Hess sich die
Zahl der Wesen, die man als Götter verehrte, und ebendamit
der Religion. 53
der Kreis der ErscheinuDgen , die man auf sie zurückfilhrte,
in's unbestimmte erweitern. Für jede Gruppe natürlicher Vor-
gänge, flu* jede Klasse menschlicher Thätigkeiten , jede Seite
und Beziehung des Menschenlebens konnte eine eigene Gott-
heit angenommen, und so das ganze Dasein des Menschen in
jener durchgreifenden Weise mit dem Gedanken der Abhängig-
keit von höheren Mächten und der Verpflichtung gegen diese
Mächte erfüllt, mit den Fäden, die es an eine unsichtbare
Welt knüpfen, durchflochten und umsponnen werden, wie diess
unter anderem in der römischen Religion geschehen ist.*)
Jetzt ei-st war es auch möglich, dass zu den bisherigen Gegen-
ständen der religiösen Verehrung die Geister der Verstorbe-
nen und die Götter der Unterwelt hinzukamen. Dass die
Götterverehrung überhaupt von dem Todtenkultus ausgegangen
sei, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Die Vorstellung der
Seele, und ebendamit auch die Annahme ihrer Fortdauer nach
dem Tode, konnte sich zwar aus den oben entwickelten Grün-
den schon sehr frühe bilden ; aber doch liegt sie dem unmittel-
baren sinnlichen Augenschein zu ferne, als dass wir sie schon
jenen alleiültesten Zeiten zutrauen könnten, in welche die
ersten i-ohen Anfänge der Religion hinaufreichen; es erscheint
vidmehr weit natürlicher, anzunehmen, zuerst seien sichtbare
Wesen, wie die Sonne und der Mond, einzelne Thiere und
sonstige Fetische, und erst im weiteren Verlaufe, mit anderen
unsichtbaren Wesen, auch die Seelen der Abgeschiedenen ver-
ehrt worden. Nachdem man aber die Vorstellung von einer
Fortdauer dieser Seelen gewonnen hatte, musste auch der
Trieb zu ihrer Anrufung alsbald erwachen, und die letztere
musste umgekehrt ihrerseits dazu beitragen, dass das Dasein
der Gestorbenen zu einem lebensvolleren, und schliesslich selbst
zu einem besseren als das der Lebenden, gemacht wurde.
Die Anhänglichkeit an die nächsten Angehörigen, die Ehr-
furcht, mit der man an Eltern und Vorfahren hinaufzusehen,
von ihrer Fürsorge alles Gute zu erwarten gewohnt war, die
*) Das nähere hierüber in unserem zweiten Stück.
54 Ueber Ursprung und Wesen
Bewunderung, welche Stammeshäuptern und hervoiiagenden
Helden gezollt wurde, — alle diese Empfindungen mussten dazu
treiben, die Personen, denen sie gewidmet waren, auch nach
ihrem Tode als mächtige und wohlthätige Wesen erscheinen
zu lassen, an die man sich mit seinen Anliegen wenden, deren
Hülfe man anrufen, durch deren Verehrung man dem Haus
und der Familie, den Heerden und den Feldern, dem Land
und dem Volke Glück und Gedeihen sicheni könne ; und diess
um so mehr, je natürlicher es dem Menschen ist, das Bild der
Abgeschiedenen, wie das der alten guten Zeit, zu idealisiren,
es von den Mängeln und Flecken der thatsächlichen Wirklich-
keit zu reinigen, und je vollständiger die nebelhaften Vor-
stellungen über ein Fortleben der Seelen jeder Neigung, ihre
Macht in's Geisterhafte und Uebermenschliche auszumalen,
fi-eien Spielraum Hessen. Hatte man aber damit einmal bei
Einzelnen einen Anfang gemacht, hatte man erst die an-
gesehensten unter den Todten als unterirdische Götter und
Heroen über das Erdenleben hinausgehoben, so konnte es
nicht fehlen, dass theils die Zahl dieser Bevoi'zugten mit der
Zeit immer mehr stieg, theils von ihnen auch auf alle übrigen
ein helleres Licht fiel, das schattenhafte Dasein im Hades all-
mählich in ein seliges, von den Uebeln dieses Lebens befreites
Fortleben der Guten und Frommen übergieng. Die Menschen,
welche in den Schoss der Erde zuiUckgekehrt waren, wurden
jetzt zu segenspendenden Erdgeisteiii, wie die germanischen
Elfen und Zwerge, die römischen Manen („die Milden"), und
die schrecklichen Geister des Todes selbst, die unheimlichen
BeheiTScher der Unterwelt, wurden zugleich wegen des Reich-
thums, der in den Früchten des Feldes jedes Jahr aufs neue
aus der Erdtiefe emporquillt, als Freunde und Wohlthäter der
Menschen angebetet.
In ähnlicher Weise mussten überhaupt mit der fortschrei-
tenden Ausbildung des menschlichen Lebens die Voi-stellungen
über die Götter sich vertiefen und veredeln. Anfangs kennt
der Mensch nui* einzelne Dinge und Vorgänge, deren Einwir-
kung auf einander ihm als eine ganz zufällige und willkürliche
der Religion. 55
erscheint; von der gleichen Willkür ist daher auch das Leben
seiner Götter und ihre Einvprkung auf die Welt und den
Menschen beheiTscht. In demselben Masse dagegen, wie ihm
die Kegelmässigkeit des Naturlaufes — zunächst an einzelnen
Beispielen, wie der tägliche und jährliche Umlauf der Sonne,
die Zu- und Abnahme des Mondes, der Auf- und Untergang
der Gestirne, der Wechsel der Jahreszeiten — zum Bewusst-
sein kommt, werden ihm auch die Götter Urheber der Natur-
ordnung, und wenn es früher die unberechenbaren und unver-
standenen Wirkungen ihrer Macht waren, die sein Staunen
eiTegten, beginnt sich seine Bewunderung jetzt noch mehr der
Weisheit zuzuwenden, die eine so wohlgeordnete, so zweck-
mässig eingerichtete Welt zu bilden, alle Theile dieses grossen
Ganzen in ihrem geregelten Gang zu erhalten im Stande ist.
Das gleiche wiederholt sich auf dem Gebiete des menschlichen
Lebens. So lange das Leben des Menschen in der Befrie-
digung seiner sinnlichen Bedürfnisse und in einem thierisch
rohen Kampf um das Dasein aufgeht, kann er auch in seinen
Göttern nur die physische Gewalt bewundern; er sucht sie
durch Gaben, Gebete und Beschwörungen zu Verbündeten zu
gewinnen, aber ihr inneres Wesen gibt ihm keine Bürgschaft
ihrer Gunst, da es von keinem sittlichen Gesetz beheii'scht
wird, ihre Macht hat daher fortwährend etwas imheimliches
für ihn, und kann sich unvei^sehens in verderbenbringenden
Stürmen über ihm entladen. Sobald dagegen sein eigenes
Leben durch menschliches Mitgefühl veredelt, durch die An-
erkennung einer Verpflichtung gegen Seinesgleichen einer sittr
liehen Ordnung unterworfen wird, entsteht ihm auch das Be-
dürfhiss, in seinen Göttern die Urheber und Beschützer dieser
Ordnung anzuschauen, sie werden ihm aus blossen Naturgewal-
ten zu sittlichen Mächten. Wo auch nur die einfachsten Grund-
lagen des menschlichen Daseins durch eine Bechtsordnung ge-
sichert sind, da werden auch Götter verehrt werden, die das
Eecht beschirmen; wo die Roheit des Natui-triebs durch die
Ehe gebändigt, in dem Familienleben der unvenückbare Gmnd
der menschlichen Gesellschaft gelegt ist, da steht die Heilig-
56 üeber Ursprung und Wesen
keit dieser Verbindungen unter göttlicher Obhut ; wo die ersten
Keime einer allgemeinen, über die Stammes - und Volksgrenzen
übergreifenden Humanität, die Achtung des Gastrechtes und
die Aufnahme der Schutzflehenden, zur Geltung gelangt sind,
da gibt es eine Gottheit, die sich der Fremdlinge und der
Hülfebedüiftigen annimmt und ihre Verletzung bestraft. Mit
der Entwickelung des Staatslebens und der bürgerlichen Ge-
sellschaft wächst die Zahl dieser Götter; andere widmen ihre
Ftii-sorge dem Landbau, der Schiffahrt, dem Handel, dem
Handwerk und Gewerbe und den mit ihnen verknüpften
Lebensbeziehungen; und wo Künste und Wissenschaften ge-
pflegt werden, da finden sie immer auch ihre höhere Weihe
und die Bürgschaft ihres Gedeihens bei den Götteiii, in deren
Dienst sie geübt werden, und von denen sie, wie man an-
nimmt, zu den Menschen gekommen sind. So wächst mit dem
Inhalt und Werth des menschlichen Geisteslebens auch der
der Religion, in der es sich abspiegelt, und wo sich jenes zu
einer solchen Höhe emporarbeitet, wie bei den Hellenen, da
werden mit der Zeit selbst die unvollkommenen Vorstellungen
einer roheren und kindlicheren Vorzeit mit einem Inhalt er-
füllt, der über ihre ui-sprüngliche Bedeutung weit hinausgeht;
da wird sich dann aber fi*eilich auch bald genug zeigen, dass
sie für diesen Inhalt zu eng sind : die alte Religion verliert
immer mehr von dem Boden , den sie bisher im Glauben der
Völker einnahm, und wenn sich auch ihr Stamm und Ge-
zweige noch lange erhält, verdoiTcn doch ihre Wuraeln; die
abgestorbenen Fonnen werden dem veränderten Inhalt nur
mühsam angepasst, und brechen am Ende zusammen, um einer
neuen lebensfähigeren Glaubensfonn Platz zu machen.
7.
Es ist nun schon fiüher (S. 35 f.) darauf hingewiesen wor-
den, wie durch die foiischreitende Entwickelung des anfäng-
lichen Polytheismus am Ende der Monotheismus aus ihm her-
vorgeht; und so kann man denn schliesslich den Stammbaum
aller Religionen, wenn auch die Zwischenglieder uns nur sehr
der Religion. 57
unvollständig bekannt sind, bis zu jenen primitiven Religions-
förmen hinauf verfolgen, welche ihrem Hauptmotiv nach aus
den sinnlichen Bedürfhissen der Menschen und der auf sie be-
züglichen Furcht und HofFnudg entspi-ungen sind, und welche
auf uns durch die kindliche Beschränktheit ihrer Vorstellungen
über die Götter, die abergläubische Roheit und Aeusserlich-
keit ihres Kultus einen so fremdartigen und abstossenden Ein-
druck machen. Freigeisterische Gegner der Religion haben
aus diesem Urspning derselben geschlossen, sie sei überhaupt
nur ein Erzeugniss des Aberglaubens und der Unwissenheit
und müsse mit diesen finsteren Geisteiu vor dem Lichte der
Aufklärung verschwinden. Freunde derselben sträubten sich,
um dieser Folgerung zu entgehen, gegen jede natürliche Er-
klärung der Religion: sie fürchteten sie zu entwerthen und
zu entweihen, wenn sie einräumten, dass sie mit der Mensch-
heit selbst aus der Erde entsprangen und nicht als übernatür-
liche Gabe vom Himmel zu ihr herabgesandt sei. Beide mit
Unrecht. Der Werth und die Würde der Religion hängen
nicht davon ab, wie sie entstanden ist, und auf welchem Wege
sie sich im Lauf der Geschichte zu ihren späteren Formen
entwickelt hat, sondern ausschliesslich davon, was sie an sich
selbst ist und für das geistige Leben der Menschheit leistet.
Es verhält sich mit der Frage nach dem Ui*sprang der Re-
ligion in dieser Beziehung wie mit der verwandten nach dem
Ursprung des Menschengeschlechts. Mögen nun die ei*sten
Menschen, wie ein sinnvoller Mythus berichtet, von der Gott-
heit nach ihrem Bilde geschaffen sein, oder mag der mensch-
liche Organismus, nach der Annahme der heutigen Natur-
wissenschaft, im Lauf der Jahitausende aus unvollkommeneren
thierischen Formen sich entwickelt haben: der reale Lihalt
des menschlichen Lebens, sein Werth und seine Ziele werden
davon nicht beillhrt. Das Bedüifniss des Erkennens vnirzelt
gleich tief in unserer Natur, die Betrachtung des Schönen ge-
währt uns den gleichen Genuss, das Bewusstsein unserer Men-
schenwürde, das Mitgefühl für Andere, der Gedanke unserer
Pflicht wirkt gleich stark auf uns, möchten nun die ei-sten
58 lieber Ursprung und Wesen
Stammväter unserer Gattung Göttersöhne oder Gorilla's ge-
wesen sein. So wenig der Einzelne sich darüber schämt, dass
sein Organismus wenige Monate vor seiner Gebuit viel unvoll-
kommener und unentwickelter war, als der jedes Vogels, der
aus dem Ei kriecht, so wenig braucht das Menschengeschlecht
von seiner Würde und Bestimmung geringer zu denken, wenn
es sich zeigen sollte, dass es in Zeiträumen von unbestimm- .
barer Dauer aus analogen Keimzuständen sich entwickelt habe.
Sobald man einsieht, dass diese Entwickelung eine natur-
gemässe und nothwendige war, muss man auch anerkennen,
dass alles, was aus ihr hervorgegangen ist und noch femer
hervorgehen wird, in der Natur des Menschen gegi-ündet sei,
dass diese mithin hoch über jeder weniger entwickelungsfähigen
stehe. Und das gleiche gilt von jedem einzelnen Gebiete der
menschlichen Lebensthätigkeit. Bei jedem von ihnen kommt
es nur darauf an, was es ist, nicht wie es geworden ist; auf
jedes lässt sich das Wort, mit dem der römische Dichter dem
Adelstolz entgegentritt, auch in der umgekehrten Richtung
anwenden: „Ahnen und altes Geschlecht uDd was nicht unsere
That ist, acht' ich für Eigenes nicht." Wir missachten die
Kunst nicht, mögen wir auch noch so fest überzeugt sein, dass
sie mit den stümperhaftesten Versuchen roher Natunnenschen
begonnen hat; wir halten die Wissenschaft desshalb nicht für
wei-thlos, weil sich beispielsweise die Philosophie langsam und
mühselig aus der Mythologie, die Astronomie aus der Astro-
logie, die Chemie aus der Alchemie herausarbeiten musste.
Es lässt sich nicht absehen, warum es sich mit der Religion
anders verhalten sollte, mit welchem Rechte die einen von
ihr voraussetzen düifen, dass sie allein von allen Schöpfungen
des menschlichen Geistes dem Gesetz der geschichtlichen Ent-
wickelung enthoben gewesen sei, die anderen sie dämm gering
achten, dass sie diess nicht war. Sondern nur dann wäre man
zu dem letzteren befugt, wenn die UnvoUkommenheit ihres
Anfangs ihr auch während ihrer ganzen weiteren Entwickelung
unveiineidlich anhaftete, wenn es ihr durch ihr ganzes Wesen
unmöglich gemacht wäre, sich darüber zu erheben.
der Beligion. 59
Nun zeigen allerdings alle positiven Religionen, die wir
kennen, und auch die vollkommensten unter denselben, gewisse
Züge, in welche die wissenschaftliche Weltansicht unserer Tage
sich nicht zu finden weiss. Sie alle beruhen auf üeberlieferung,
nicht auf philosophischer Reflexion; und diese Ueberliefening
wird von ihnen in letzter Beziehung auf eine Mittheilung der
Gottheit, eine Offenbarung zurückgeführt. Die Art und
Form dieser OfFenbai-ung denkt man sich je nach den Um-
ständen und nach dem Charakter jeder Religion sehr verschie-
den. Wo die Götter menschenähnlicher gedacht werden, ver-
kehren sie unbefangen mit den Menschen wie mit Ihresgleichen ;
wie diess ja selbst der Eine Gott des alten Testaments einem
Abraham und Moses gegenüber noch thut. Wo die Geistigkeit
und Unendlichkeit Gottes deutlicher zum Bewusstsein gekom-
men ist, wird die OfFenbaning der Gottheit in das Innere derer
verlegt, die von ihrem Geist eifttllt sind, sie reden und schrei-
ben aus göttlicher Eingebung ; und denkt man sich diese Gei-
stesbegabung als eine dauernde und absolute, so kann der
Träger einer OfFenbaning schliesslich mit dem Gott , der ihm
inwohnt, zu Einer Person verschmelzen. Neben diesem un-
mittelbaren Verkehr der Gottheit mit bestimmten Pei-sonen
gehen aber noch alle möglichen Arten mittelbarer Offenbarung
her. Wo man in irgend einer Erscheinung ein Vorzeichen der
Zukunft zu erkennen glaubt, wo sich in irgend einem un-
gewöhnlichen Vorgang das wunderbare Eingreifen einer höheren
Hand zu veiTathen scheint: überall sieht man die Gottheit,
welche diese Mittel anwendet , um die Menschen zu belehren,
zu eimahnen, zu warnen, zu strafen oder zu belohnen. In
welcher Form aber diese Offenbaningen sich vollziehen sollen:
an Offenbarungen glauben alle Religionen, und sie alle fuhren
namentlich ihi'en eigenen Ursprung auf die Gottheit zuiiick,
welche den Menschen bald in eigener Person, bald durch ihre
Gesandten ihren Willen mitgetheilt, sie über die Glaubens-
wahrheiten und die Gottesverehrung untemchtet, Opferstätten
und Gottesdienste gegründet haben soll.
Mit unserer jetzigen Denkweise will sich aber freilich
60 üeber Ursprung und Wesen
dieser Glaube nicht mehr vertragen. Das übernatürliche Ein-
greifen der Gottheit in den Weltlauf, das Wunder, widerstreitet
unseren Begiiffen über die Gottheit ebenso sehi*, wie unserer
Auffassung der Welt. Wir können es uns nicht als möglidi
denken , dass das absolut vollkommene Wesen jemals anderes
wirken könnte, als solches, das aus den unabänderlichen Ge-
setzen seiner Natur mit innerer Nothwendigkeit heiTorgeht,
da ja alles, bei dem diess nicht der Fall wäre, unvollkommen
und willkürlich sein würde; was aber nach unabänderlichen
Gesetzen geschieht, wird unter den gleichen Umständen auch
immer geschehen, es wird mit ausnahmsloser Regelmässigkeit
eintreten, es ist kein Wunder, sondern ein natürliches Emg-
niss. Nur natürliche Ereignisse zeigt uns aber auch die Er-
fahrung; und können wir auch vieles in der Welt bis jetzt
nicht erklären, so gibt es doch nichts in ihr, von dem sich
daithun Hesse, dass es eine solche Erklärung überhaupt nicht
gestatte; unsere gesammte Natur- und Geschichtswissenschaft
beiniht vielmehr auf der Annahme, dass alles, was ist und ge-
schieht, aus seinen Ursachen nach natürlichen Gesetzen her-
vorgehe ; und jede neue Entdeckung dei-selben bestätigt, keine
einzige erweisbare Thatsache widerlegt diese Annahme. Eben-
damit ist aber das Eintreten von übel-natürlichen Erfolgen un-
mittelbar ausgeschlossen; da durch jeden dei*selben die Wir-
kung der natürlichen Ursachen an diesem bestimmten Punkt
aufgehoben und statt dessen eine nach den Natui^esetzen un-
mögliche Wirkung gesetzt wäre. Und auch abgesehen von
dieser sachlichen Unmöglichkeit lässt sich schlechterdings nicht
begi'eifen, was uns jemals das Recht geben könnte, eine That-
sache für ein Wunder zu halten. Denn an ein Wunder dürften
wir doch nur dann denken, wenn wir sicher wären, dass der
Vorgang, um den es sich handelt, keine natürliche Ursache
habe; wer könnte diess aber jemals in irgend einem gegebenen
Falle mit vollkommener Sicherheit behaupten? Was vielmehr
jeder verständige Mensch auf allen anderen Gebieten als selbst-
vei-ständlich betrachtet, davon macht auch das religiöse keine
Ausnahme: wo wir die Wirklichkeit einer Erscheinung nicht
der Religion. 61
bezweifeln können, da sind wir auch überzeugt, dass es bei
ihr natürlich zugegangen sei, mag uns nun dieser Hergang
bekannt sein oder nicht; wenn uns umgekehit etwas erzählt
wird , oder wenn wir selbst etwas wahrgenommen zu haben
glauben, was schlechterdings keine natürliche Erklärung zu-
lässt, sondern vielmehr mit unbezweifelbaren Naturgesetzen im
Streit liegt, da werden wir weit eher die Wahi-heit und Ge-
nauigkeit einer Erzählung, die Richtigkeit und Vollständigkeit
einer vermeintlichen Beobachtung in Zweifel ziehen, als dass
wir die Thatsächlichkeit eines Vorgangs einräumten, der den
allgemein gültigen Gesetzen des Geschehens, der Analogie
aller sonstigen Erfahning widerstritte. *) Wenn daher alle posi-
tiven Religionen, die wir kennen, an Wunder glauben, so wer-
den wir daraus nui* schliessen können, dass sie alle aus Zeiten
und aus Kreisen herstammen, welche diesen Glauben noch
theilten, der für uns zur Unmöglichkeit geworden ist; und
wenn sie alle ihren Ui'sprung auf wunderbare Mittheilungen
und Wirkungen der Gottheit, auf übernatürliche Oflfenbai-ungen
zui-ückführen, so werden wir darin nur einen Zug sehen können,
welcher sich aus der Entstehungsart dieser Religionen ergab.
Die allgemeine Voraussetzung, dass die Götter den Men-
sehen unter Umständen offenbaren, was diesen zu wissen noth-
thut, findet sich nun in allen Religionen zunächst schon in
dem Weissagungsglauben, den wir zu den ältesten Bestand-
theilen der Religion zu rechnen haben werden. Unter den
Mängeln, die der Mensch Empfindet und von denen er durch
die Götter befi-eit zu werden hofft, macht sich die Unbekannt-
scbalt mit der Zukunft ganz besonders fühlbar. Je geiinger
noch seine eigenen Hülfsmittel sind, um so weniger kann er
sich auf dieselben verlassen , um so unsicherer ist ihm daher
der Erfolg seiner Unternehmungen, um so nöthiger der Rath
eines solchen, der über die Zukunft besser unterrichtet ist.
Je weniger seine eigene düiftige Naturkenntniss ausreicht, um
in irgend einem Falle den Ausgang zu muthmassen, um so
lebhafter ist der Wunsch, dieses Dunkel lichten zu können.
*) Man yergleiche hiezu Bd. I, 304 £
62 Ueber Ursprang und Wesen
Ein Kind dieses Wunsches ist der Glaube an Vorbedeutungen,
weissagende Träume, Wahrsager und Orakel jeder Art. Dass
aber auf ähnliche Mittheilungen der Gottheit auch die Gottes-
verehining selbst und der sie bedingende Glaube zurückgeführt
wird, werden wir um so natürlicher finden müssen, je voll-
ständiger wir uns in die Denkweise der Zeiten vei'setzen, in
die alle Religionen mit ihrem Urspnmg hinaufreichen.
Alle Menschen, welche sich selbst genauer zu beobachten,
dem ürspning ihrer Vorstellungen nachzugehen nicht gewohnt
sind, pflegen Ueberzeugungen , deren Wahrheit für sie un-
zweifelhaft feststeht, während ihnen über die Entstehung der-
selben nichts bekannt ist, für etwas unmittelbar gegebenes zu
halten: gegeben entweder in eigener Wahniehmung oder m
fremder Mittheilung. So werden z. 6. alle jene Gausalzusam-
menhänge, durch die wir unsere Wahmehmungen unwillkürlich
verknüpfen und ergänzen, fast allgemein für eine Sache der
Wahrnehmung als solcher gehalten: man sagt nicht blos, son-
dern man glaubt auch, man habe gesehen, wie der Hagel
die Fenstei-scheiben einschlug, oder der Jäger den Vogel aus
der Luft schoss, oder der Magnet das Eisen anzog, und nur
die allerwenigsten haben ein Bewusstsein davon, dass in'Jdieser
Aussage das, was man wirklich wahrgenommen hat, mit solchen
verachmolzen ist, das seiner Natur nach gar nicht wahrgenom-
men werden kann ; dass man zwar sehen und höi*en kann, wie
der Hagel herabstürzt und die Fensterscheiben zerbrechen, wie
die Eisenstäubchen sich zu dem Magnet hinbewegen, wie der
Schütze sein Gewehr anlegt und abdiilckt, der Blitz und Knall
erfolgt, der Raubvogel aus der Luft herabstüi-zt; dass dagegen
der Gausalzusammenhang zwischen der Handlung des Schützen
und dem Herabfallen des Vogels, zwischen dem Anschlagen
der HagelköiTier und dem Zerbrechen des Glases, zwischen
der Wirkung des Magneten und der Bewegung des Eisens sich
jeder Wahrnehmung entzieht und nui* von uns selbst aus dem
Wahrgenommenen erschlossen wird. Ja, die meisten Menschen
glauben auch solches wahrgenommen zu haben, was gar nicht
wirklich geschehen ist, sondern nur auf Grund unrichtiger,
der Religion. 63
nach falschen Analogieen gebildeter Vermuthungen angenommen
wird. Kinder und ungebildete Leute bezweifeln nicht im ge-
ringsten, dass sie gesehen haben, wie der Taschenspieler ein
Ei in eine Henne verwandelte, wie er eine Uhr erst im Mörser
zerstiess, dann in die Pistole lud und aus derselben ihrem
Eigenthümer wieder unversehrt in die Westentasche schoss
u. s. w.; und in ähnlichen phantastischen Vermuthungen, die
mit Wahrnehmungen verwechselt werden, besteht der gi*össte
Theil der angeblichen Erfahningen, auf die der tausendfältige
Volksaberglaube sich stützt. Aber auch von den einsichts-
vollsten und erfahrensten unter den Menschen hat viele tau-
send Jahre lang nicht Einer bezweifelt, dass wir sehen, wie
die Sonne sich jeden Tag am Himmel hinbewege; und doch
«eben wir in Wahrheit nur die Veränderung ihres Standortes,
dass dagegen die Ursache dieser Veränderung in ihrer Be-
wegung liege, könnten wir selbst dann nicht sehen, wenn diess
wirklich der Fall wäre.
Wie man nun in allen diesen Fällen fiii- etwas thatsäch-
lich gegebenes hält, was zu einem thatsächlich Gegebenen
unwillkürlich und unbewusst hinzugedacht wird, so hält man
ein andermal solches dafür, was zwar an keine bestimmten
Wahrnehmungen anknüpft, aber als allgemeine Ueberzeugung
feststeht, ohne dass man doch von der Bildung dieser Ueber-
zeugung etwas wüsste. Solche Ueberzeugungen erscheinen als
selbstverständlich und keines Beweises bedürftig, weil niemand
daran zweifelt; fragt man aber nach ihrem Ursprung, so scheint
es , da alle sie haben , seien sie von keinem Einzelnen gefun-
den, sie seien der Menschheit als ihr gemeinsames Besitzthum
von der Natur oder der Gottheit in die Wiege gelegt. Sie
erscheinen als jene „ungeschriebenen Gesetze der Götter", die
alle anerkennen , von denen aber niemand weiss , wann und
wo sie entstanden sind. In ähnlicher Weise haben wir uns
nun auch den Glauben an eine unmittelbar göttliche Offen-
barung der positiven Religion zunächst bei denen zu erklären,
denen eine solche Religion als etwas geschichtlich gegebenes,
durch üeberlieferung und Herkommen geheiligtes vorliegt.
64 Ueber Ursprung und Wesen
Die Glaubensvorstellungen und der Kultus, die von allen ge-
theilt werden, in denen alle herangewachsen, die von unvor-
denklicher Zeit her überliefert sind, müssen ja wohl wahr sein.
Aber wie konnte diese Wahrheit den Menschen bekannt werden ?
wie konnten sie von dem Dasein, dem Wesen, den Namen der
Götter etwas erfahren ? woher können sie wissen, wie diese Götter
verehil sein wollen, was man thun oder unterlassen muss, um sich
ihrer Gunst zu versichern? Der Gedanke, dass die Menschen
durch sich selbst darauf gekommen seien , liegt dem unbefan-
genen, von keinem Zweifel angefressenen Glauben durchaus ferne.
Damit würden ja die Götter zu einem Erzeugniss des mensch-
lichen Kopfes, und alles, was über sie erzählt wird, würde so
unsicher, wie alle anderen menschlichen Meinungen, alle Vor-
schriften über ihre Verehrung erschienen so willkürlich, wie
andere menschliche Einrichtungen. Jener Gedanke konnte
daher erst auftreten, und ist thatsächlich erst aufgetreten, als
man die Geltung der religiösen Ueberlieferung in Zweifel zu
ziehen anfieng, wie diess in Griechenland zur Zeit der So-
phisten geschehen ist ; so lange dagegen die Glaubensvorstellun-
gen und die Kultusformen für unbedingt wahr und unantastbar
galten, konnten sie, wenn überhaupt nach ihrem Urspnmg ge-
fragt wurde, nur von der Gottheit selbst hergeleitet werden»
Wie dem sinnlichen Menschen nur das für etwas wirk]iche&
gilt, was ihm seine Wirklichkeit durch bestimmte, sinnlich
wahrnehmbare Einwirkungen zu erkennen gibt, so kann er
auch an die Wirklichkeit seiner Götter nur unter der Voraus-
setzung glauben , dass sie dieselbe den Menschen auf unzwei-
deutige Weise thatsächlich bemerkbar gemacht haben. Wie
uns andere Menschen ihren Willen mittheilen müssen, damit
wir ihn befolgen können, so müssen uns auch die Götter mit-
getheilt haben, wie sie verehrt sein wollen, wenn wir in den
Stand gesetzt sein sollen, sie recht zu verehren. Der Offen-
barungsglaube ist auf diesem Standpunkt das unentbehrliche
Conelat des Glaubens an die Wahrheit einer Religion und
die Unverbrüchlichkeit ihrer Vorschriften ; und es werden dess-
halb auch die Menschen, denen man in religiösen Dingen eine
der Religion. 65
Auktorität beilegt, und vor allem die Religionsstifter, durch-
aus als Organe der Gottheit und als Yerkündiger ihrer Offen-
barungen, als Pi*opheten, betrachtet.
Sie werden aber nicht blos von anderen dafür gehalten,
sondern sie erscheinen auch sich selbst in diesem Lichte; sie
glauben wirklich ^ dass ihnen die Gottheit geoffenbaii habe,
was sie den Menschen in ihrem Auftrag verkündigen sollen.
Es gilt diess natürlich nicht von allem, was zu irgend einer
Zeit ftti' eine göttliche Offenbarung gegolten hat ; jede Religion
enthält vielmehr, die eine in grösserem, die andere in ge-
ringerem Umfang, Bestandtheile , die erst im Laufe der Zeit
auf eine göttliche Offenbarung zurückgefühi-t worden sind,
während sie diesen Anspruch ui'spillnglich gar nicht machten.
Wenn z. B. unsere mosaischen Bücher alle Verschilften des
bürgerlichen Rechtes und des religiösen Rituals, bis auf die
kleinsten Aeusserlichkeiten hinaus, mit den Worten einfühi*en :
„Der Herr redete mit Mose und sprach", so ist diess lediglich
eine Formel, mit welcher die späten Verfasser dieser Bücher
alle Einrichtungen und Gebräuche ihrer Zeit, theilweise auch
wohl blosse Vorschläge und Wünsche, auf Moses zurückführen;
und ähnlich verhält es sich in zahllosen anderen Fällen. Aber
wie vieles auch erst die spätere Sage den alten Religions-
stiftem und Lehrern als eine von ihnen verkündigte Offen-
barung in den Mund gelegt hat , so können wir doch nicht
bezweifeln, dass es in der älteren Zeit in allen Völkern eine
grosse Anzahl von Leuten gegeben hat, und deren da und
• dort auch heute noch gibt, die höhere Offenbarungen empfangen
zu haben überzeugt waren ; und weit entfeiiit, in dieser Ueber-
zeugung nur Unvei-stand und Phantastik, nur schwäiinerische
Hallucinationen zu sehen, können wir sie unter gewissen kul-
turgeschichtlichen Voraussetzungen psychologisch so vollständig
begreifen, dass wii- in dei-selben Erscheinung, welche in der
geistigen Umgebung des achtzehnten und neunzehnten Jahr-
hunderts fast für das Zeichen eines kranken Kopfes gelten
kann, in anderen Zeiten die Foim sehen müssen, unter welcher
die schöpferische Kraft religiöser Genien ihrem eigenen Be-
Zeller, Vorträge und Abhandl. 5
66 Ueber Ursprung und Wesen
wusstsein sich naturgemäss dai*stellte. Wer sich heutzutage
in unserer verständigen, selbstbewussten abendländischen Welt
für einen Inspirirten ausgibt, der kann sich nicht beschweren,
wenn er zunächst von allen, die ihn nicht kennen, als BetrügJBr
behandelt wird; und wer sich selbst dafür hält, der wird den
Verdacht schwer von sich abwehren, dass er zwar in anderen
Dillgen vielleicht seine gesunde Vernunft habe, dass aber mit dem
hieher gehörigen Theile derselben (wie Kant über Swedenborg
sagt) eine Flasche im Monde gefüllt sei. Versetzen wii- uns
dagegen auf den Standpunkt von Menschen , denen jede ge-
naue Beobachtung, jede verstandesmässige Zergliedenmg der
Vorgänge in ihrem Inneni noch fremd war, die mit den natür-
lichen Uraachen der Dinge nicht bekannt waren und nidit
darnach fragten, dafür aber in allem, was sie wahrnahmen und
erlebten, unmittelbare Wirkungen einer Gottheit zu- sehen ge-
wohnt waren, so werden wir es ganz natürlich finden müssen,
wenn solche Pei-sonen die religiösen Vorstellungen und An-
triebe, über deren Entstehung sie sich keine Bechenschaft ab-
zulegen wussten, in der gleichen Weise, wie alle anderen
aus8ei*ordentlichen Ei-scheinungen, auf die Gottheit zurückführ-
ten. Es gieng ihnen bei irgend einer Gelegenheit, möglicher-
weise in der Foim des Traumes oder der Vision, eine Anschauung
auf, die ihnen neue Aufschlüsse zu geben, überraschende Aus^
blicke in den Zusammenhang der Dinge und der Ereignisse,
in die Zukunft und die Vergangenheit zu eröffnen schien; es
bemächtigten sich ihrer Gefühle und Antriebe, die ihnen bis
dahin fremd waren, sie fanden sich von der Andacht bis zur
Gleichgültigkeit gegen alles Aeussere überwältigt, von der
religiösen Begeisterung unwiderstehlich fortgerissen : was konn-
ten sie, nach ihi^r ganzen Vorstellungsweise, in solchen innem
Erlebnissen anders sehen, als die Wirkungen einer fremden
Macht, die über sie verfüge ? Von ihrer eigenen Geistesthätig-
keit konnten sie dieselben nicht herleiten: theils weil sie sich
dieser Thätigkeit als solcher nicht bewusst waren, theils weil
ihre Erzeugnisse über ihre eigene Kraft hinauszugehen schie-
nen, weil die Anschauungen, Aufschlüsse und Antriebe, die sie
der Religion. 67
erhielten, in ihren Augen zu neu und zu gross waren^ als dass
sie es hätten wagen können, ihr eigenes Werk darin zu erblicken.
Was blieb ihnen da übrig, als sie für das Werk eines Andern
zu halten, sie auf die Gottheit zurückzuführen, auf deren Ver-
ehrung sie sich bezogen? Es war diess fdr sie gerade so
natürlich, wie es jedem Menschen natürlich ist, die Wahr-
nehmungen , die sich ihm mit unwiderstehlicher Gewalt auf-
drängen, auf Dinge ausser sich zu beziehen, die Bewegung,
die er selbst nicht fühlt, in den Gegenstand zu verlegen. Wie
wir die scheinbare Bewegung der Sonne unwillkürlich von
einer wirklichen Bewegung dieses Himmelsköipers herleiten,
weil wir unsere eigene Bewegung, d. h. die der Erde, nicht
empfinden, so war es unter den gegebenen Voraussetzungen
ganz natürlich, die geistigen Bewegungen, deren subjektive
Entstehungsgi'ünde sich dem ungeübten Blicke verbargen, von
dem Objekt herzuleiten, um das sie sich drehten. Finden wir
doch das gleiche auch auf anderen Gebieten unter verwandten
Bedingungen ; ei*scheint doch z. B. die Begeisterung des Dich-
ters oder des Musikers den Alten gleichfalls als ein Zustand,
in dem er von einem Gott ergiiffen ist, die Geistesabwesenheit
des Wahnsinnigen, die Krämpfe des Epileptischen als ein Zu-
stand, in dem böse Geister von dem Menschen Besitz genommen
haben. Hat doch einer von den grössten Denkern aller Zeiten,
und der gerade, welcher am dringendsten zur Selbstbeobach-
tung aufforderte, in der räthselhaften Stimme seines Innern,
in jenem bewundenmgswürdigen Takt, der ihn auch da noch
sicher leitete, wo die bewussten Gründe nicht ausreichten, nur
ein dämonisches Zeichen, eine Offenbaiomg der Götter, ein
inneres Orakel zu sehen gewusst. Kommt vollends der Ge-
walt der eigenen Ueberzeugung auch der äussere Erfolg, der
Glaube begeisterter Anhänger entgegen, so begi-eift es sich um
so eher, wie selbst den bedeutendsten Männern, den bahn-
brechendsten GeisteiH; unter den Voraussetzungen, von denen
ihre ganze Zeit und Umgebung mit ihnen ausgieng, das eigene
Werk als ein fremdes, die Anschauungen und Entschlüsse, die
sicA AUS ihrem eigenen Inneren empon*angen, als Mittheilungen
5*
68 Ueber Unprang und Wesen
der Gottheit erscheinen konnten. Dieser Glaube ergibt sieh
da, wo er in naturwüchsiger ürspiilnglichkeit auftritt, einer-
seits aus der unwidei-stehlichen Gewalt und der zweifeDosen
Sicherheit, mit der eine neue Gestalt oder ein neues Moment
des i^ligiösen Lebens sich zur Geltung bringt, andererseits
aus der Unbewusstheit der inneren Vorgänge, durch welche
dieser Erfolg vennittelt^ ist. Er wird sich aber um sa leichter
bilden, eine um so bestimmtere Gestalt annehmen und in dem
voraussetzlichen Offenbarangsoi-gan selbst um so tiefere Wur-
zeln schlagen, wenn er bei anderen einen Wiederhall findet,
oder wenn er in den allgemeinen Erwartungen und Vorstellun-
gen einer Zeit so vorbereitet ist, dass er sich demjenigen, der
sich zu einem bedeutenden Wirken auf dem religiösen Gebiete
berufen fühlt, von vorneherein als die allgemein anerkannte
und jedem zunächst liegende Form für die Auffassung und
Bezeichnung dieses Berufes darbietet. Diess war z. B. bei
den Juden der Fall, wo in der fiilheren Zeit ein politisch-
religiöser Volkslehi-er nur als Prophet, in der spätei-en ein
religiöser Refoiinator, wenn seine Refoim auf den Grund gehen
sollte, nur als Messias auftreten und seiner eigenen Bedeutung
sich nur in dieser Form bewusst werden konnte.
Indem nun die Religion in dieser Weise auf göttliche
Offenbarangen und Anordnungen zuiUckgefuhrt wird, erhalten
ihre Lehren und Einrichtungen das Gepräge einer Vollkommen-
heit und Unantastbarkeit, die folgerichtig jede Veränderung
und Verbessemng ausschliessen würde. Und wir finden ja
auch wirklich bei allen positiven Religionen ohne Ausnahme,
dass sie diesen Anspruch erheben. Wo eine Religion dem
Dogma weniger Werth beilegt, als dem Kultus, wie diess bei
den Griechen und Römern, und überhaupt bei den alten Völ-
kera fast durchaus der Fall war, da wird es zunächst die
Gottes Verehrung sein , von der alle Neueningen und An-
griffe feniegehalten werden sollen, und die Abweichungen von
dem bestehenden Glauben werden gleichfalls weniger an sich
selbst, als wegen ihres Zusammenhangs mit dem Kultus An-
stoss eiTegen-, denn an diesen ist, wie man annimmt, die
der Religion. 69
Gunst der Götter geknüpft, er kann daher nicht vernachlässigt
oder abgeändert werden, ohne dass Volk und Staat in Gefahr
kommt. Wird umgekehrt der Hauptnachdruck auf das Dogma,
Äuf die richtigen Vorstellungen von der Gottheit und dem Ver-
hältniss des Menschen zui* Gottheit gelegt, so ist es die lieber-
einstimmung des Einzebien mit den überlieferten Glaubens-
lehren, die Orthodoxie, an welche der Bestand der Religion
in erster Stelle geknüpft ^rd. Will femer eine Religion über
die Grenzen eines einzelnen Volkes nicht hinausgreifen, so geht
Auch die Anerkennung, die sie für ihre Lehren und Gebräuche
beansprucht, nicht weiter. Da ihre Götter nur die Schutzgötter
dieses bestimmten Gemeinwesens sind, genügt es, wenn sie von
ihm und in seinem Gebiete dem Herkommen gemäss verehrt
werden; anderswo dagegen mag man andere Götter an-
beten, andere Gebräuche beobachten, und auch im eigenen
Lande können fremde Gottesdienste als Privatkulte gestattet
werden, wenn nur in dem öffentlichen Kultus keine anderen
als die Staatsgötter, und diese nicht anders als in den her-
Mmmlichen Formen verehrt werden. Sobald dagegen eine
Religion sich für alle Völker bestimmt glaubt, muss sie auch
den Anspruch erheben, dass sie die allein wahre Religion, der
einzige Weg sei, auf dem das Wohlgefallen der Gottheit ge-
wonnen werden könne; sie kann daher gegen abweichende
Glaubensformen nicht mehr die gleiche Duldsamkeit üben, wie
die bk)ssen Nationalreligionen: sie muss nicht allein von ihren
Bekennem, sondern von allen Menschen ohne Ausnahme ver-
langen, dass sie sich ihren Lehren und ihrer Gottesverehrung
anschliessen. Aber an ihrer eigenen Unveränderlichkeit und
Unantastbarkeit haben noch alle positive Religionen festgehal-
ten, und sie unterscheiden sich in dieser Beziehung nur da-
durdi, dass bald dem einen, bald dem anderen von ihren
Bestandthdlen ein höherer Weiih beigelegt, bald mehr, bald
weniger für unerlässlich gehalten, die Auf ordeining , mit einer
gegebenen Glaubensform übereinzustimmen, bald auf alle Men-
schen ausgedehnt, bald auf einen Theil derselben beschränkt wird.
Diese Unveränderlichkeit der Religion widerstreitet aber
70 Ueber Ursprung und Wesen
der Natur des menschlichen Geistes und den Bedingungen
seiner Entwickelung. Da die religiösen Vorstellungen und Ge-
fühle der Menschen mit ihrem sonstigen Geistesleben und
Bildungsstand aufs innigste verflochten und dadurch bedingt
sind , so können sie unmöglich sich gleich bleiben , wenn jene
sich ändern ; sondeni mit der Erweiterang der Naturkenntniss,
den Fortschritten der geschichtlichen Forschung, der zuneh-
menden üebung unseres Denkens, ^it der Aufkläining unserer
Begiiffe, der Veredlung unserer Empfindungsweise, der Ver-
vollkommnung unseres sittlichen Lebens muss auch die Be-
richtigung der religiösen Vorstellungen, die Läuterung der
religiösen Gefühle Hand in Hand gehen, jeder Rückschritt auf
jenen Gebieten muss auch auf diese zurückwirken. Vollzieht
sich nun diese Veränderung schrittweise und bei allen Mit-
gliedern einer reUgiösen Gemeinschaft im wesentlichen gleich-
artig, ist ferner die ältere Gestalt einer Religion durch keine
Urkunden und Denkmäler in unzweifelhafter Weise bezeugt,
so schiebt sich das Neue so allmählich an die Stelle des Alten,
dass die Grösse der eingetretenen Verändenmg gar nicht be-
merkt wird. Voi-stellungen, die dem veränderten Bildungsstand
nicht mehr entsprechen, werden bei Seite gelegt, lieber-
lieferungen, welche der Zeit nicht mehr zusagen oder ihr un-
verständlich geworden sind, werden vergessen, allzu rohe und
archaistische Gebräuche werden aufgegeben, umgebildet, durch
neue verdrängt; weil aber das ältere Gebäude nicht mit Einem
Male abgebrochen, sondern nur nach und nach umgebaut wird,
glaubt man immer noch in dem alten Hause zu wohnen, ge-
setzt auch, es sei nicht blos sein Material zum grösseren Theile
mit neuem vertauscht, sondern auch sein Aeusseres und sein
Grundriss vollständig verändert. Die Geschichte zeigt uns
zahlreiche Beispiele von Religionen, deren Umbildung während
langer Zeiträume diesen allmählichen Verlauf nahm, und in
denen sich desshalb der Unterschied des Späteren von dem
Früheren dem Bewusstsein verbarg. Aber diess ist eben nur
unter den oben erörterten Bedingungen möglich. Geht da-
gegen die Veränderung des Bildungsstandes und der Welt-
der Religion. 71
anschauung in einem Volk oder einem Völkercomplex rascher
und durchgreifender vor sich, werden nicht blos diese oder
jene Bestimmungen des bisherigen Glaubens, sondem schon
die allgemeinen Grundlagen desselben in Frage gestellt, tritt
der mythologischen und theologischen Auffassung der Erschei-
nungen der Gedanke ihrer natürlichen Erklärung mit klarem
Bewusstsein entgegen, so wird der Gegensatz des Neuen gegen
das Alte theils an sich schon nicht so leicht unbemerkt bleiben
können, die neuen Ideen werden sich vielmehr sehr oft gerade
erst an diesem Gegensatz zur Deutlichkeit durcharbeiten;
theils wird es auch immer zunächst nur eine Mindei*zahl, nur
eine geistige Aristokratie sein, die sich dem Neuen mit Ent-
schiedenheit zuwendet, während die Masse mit der Kraft einer
angewöhnten und eingewurzelten Ueberzeugung an dem alt-
väterlichen Glauben, den hergebrachten Kultusfoimen fest-
hält; und diess um so mehr, wenn der bisherige Glaube das
Zeugniss schriftlicher Religionsurkunden, wie die homerischen
und hesiodischen Gedichte bei den Griechen, der Koran bei
den Muhamedanern , die biblischen Schriften bei Juden und
Christen, fttr sich hat, und wenn desshalb das Verhältniss der neu
auftretenden Ansichten zu demselben sich nicht so leicht ver-
dunkeln und vergessen lässt. In diesem Fall ist ein Kampf
des Alten und Neuen unvermeidlich; und da sich das erstere
auf Offenbarungen und WiDenserklärungen der Gottheit benift,
hat das Neue ihm gegenüber einen weit schwereren Stand, als
wenn es sich nui* um menschliche Lehren und Satzungen han-
delte. Auch liegt diese Schwierigkeit nicht blos darin, dass
der Glaube der Gegner an das göttliche Recht ihrer Sache
dem äusseren Widerstand, den es zu übei*winden hat, eine
yiel grössere Stärke, Leidenschaftlichkeit und Ausdauer ver-
leiht, als er sonst haben würde; sondem auch die Neuerer
haben sich in der Regel von der Auktorität anerzogener Vor-
stellungen, von dem Bedürfniss der Glaubensgemeinschaft mit
ihrem Volk oder ihrer Kirche nicht so fiei gemacht, dass sie
dem Ueberlieferten und Bestehenden mit voller Voraussetzungs-
losigkeit gegenüberzutreten und seine Prüfung auf jede Gefahr
72 Ueber Unpnmg und Wesen
hin rücksichtslos durchzufahren wagten. Man sucht daher
nach künstlichen Ausw^en, um den drohenden Bruch zu um-
gehen: man greift zu jener aUegorischen Auslegung, die es
schon seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert den grie-
chischen Philosophen, in der Folge den jüdischen und christ-
lichen Theologen möglich machte, in ihre Religionsschriften
mit der masslosesten Willkür alles hineinzudeuten, was die Spä-
teren darin zu finden wünschten; oder man dreht mit dem
neueren Rationalismus und Supranaturalismus den Buchstaben
jener Schriften so lange hin und her, man ergänzt ihn mit so
vielen pragmatischen Vermuthungen , filtrirt ihn so sorgsam,
verdünnt ihn mit so viel modemer Aufklärung, dass schliess-
lich alles, woran eine fortgeschrittene Bildung Anstoss nehmen
könnte, verschwindet. Aber alle diese Künste werden immer
nur so lange vorhalten, als die Kritik ihrem Gegenstand nicht
auf den Grund geht: sobald sie das wirkliche Verhältniss der
tiberlieferten Vorstellungen zu den späteren Begriffen an's
Licht stellt, sobald sie die Frage nach dem Ursprung der
religiösen Ueberliefeiamgen und der für sie in Anspruch ge-
nommenen göttlichen Auktorität nach der religionsphilosophi-
schen und der geschichtlichen Seite unbefangen untersucht,
zeigt sich die Unmöglichkeit, bei denselben stehen zu bleiben,
die Parteien scheiden sich, sie müssen Farbe bekennen, und
auf die eine Seite treten die, welche die überlieferten Lehren
und Vorschriften als eine göttliche Offenbainmg festhalten, auf
die andere diejenigen, welche an dieselben den gleichen Mass-
stab wissenschaftlicher Beurtheilung anlegen, wie an jede
andere im Lauf der Geschichte hervorgetretene Erscheinung.
Der Untei*schied des Alten und des Neuen ist jetzt in seiner
ganzen Weite zum Bewusstsein gekommen, und es tritt an
jeden die Forderung heran, sich für das eine oder das andere
zu entscheiden.
Eine solche Krisis trat in den Religionen des klassischen
Alterthums ein, seit die Philosophen anfiengen, dem Polytheis-
mus und den Anthropomorphismen des Volksglaubens mit einer
reineren Gottesidee entgegenzuti-eten , die Ungereimtheit und
der Beligion. 73
Unwtti*digkeit der mythischen Erzählungen über die Götter,
der homerischen und hesiodischen Theologie an^s Licht zu
stellen. Auf eine wirkliche Verdrängung der Volksreligion
hatten es zwar die wenigsten von ihnen abgesehen; sie be-
gnügten sich vielmehr in der Kegel, eine Beinigung derselben
nach sittlichen Gesichtspunkten zu verlangen, ohne im übrigen
ihre Geltung als Volks- und Staatsreligion antasten zu wollen.
Ja viele von denen, welche sich über die Abenteuerlichkeit
der Mythologie, den Aberglauben der herkömmlichen Götter-
verehning aufs unumwundenste aussprachen, waren doch zu-
gleich eifrig bemüht, der einen wie der anderen durch ihre allego-
rische Mythendeutung, ihre Vertheidigung der Weissagung und
ähnliche Künste eine Stütze zu unterschieben. So besonders
die weitverbreitete und einflussreiche stoische Schule. Aber
auf die Dauer reichten diese mühseligen, innerlich unwahren
Auskünfte nicht aus. Die innere Auflösung des alten Götter-
glaubens schiitt unaufhaltsam fort; in seinem innersten Kern
ausgehöhlt, zur äusseren Form und zum poetischen ZieiTath her-
abgesunken, wurde er in wüster Beligionsmengerei unter einer
Masse fremdländischen Aberglaubens begraben ; eine neue Be-
ligion, die ihn mit ihrem Monotheismus giiindsätzlich bestritt,
gewann ihm seinen Boden Schritt für Schritt ab; und als es
endlich zwischen beiden zum Entscheidungskampf kam, zeigte
sich der Glaube der Minderheit dem der Mehrheit an innerer
Kraft so weit überlegen, dass wenige Jahrzehende ausreichten,
um den letzteren in dem ganzen Unjfang des weiten Bömer-
reiches auf wenige verlorene Posten zuiUckzudrängen.
Auch das Christenthum war nun freilich in seiner Dog-
matik wie in seinem Kultus und seiner kirchlichen Verfassung
über die Gestalt, die es bei seinem ersten Auftreten gehabt
hatte, schon weit hinausgewachsen, und noch weiter entfernte
es sich von derselben in den zwölfhunderi Jahren, die zwischen
Ck>nstantin und der Beformation in der Mitte liegen. Aber
die allgemeinen Grundzüge der christlichen Weltanschauung
blieben doch während dieser ganzen Periode unverändert.
Das fünfzehnte Jahrhundert dachte sich das Weltgebäude noch
74 Ueber Ursprung und Wesen
ebenso, wie es sich die ersten Christen gedacht hatten: unten
die Erde, als Wohnplatz der Menschen, oben das Himmels-
gewölbe, der Wohnsitz Gottes und der Engel, Christi und der
seligen Geister; im Innern der Erde die Hölle für die Teufel
und die Verdammten, und daneben Aufenthaltsoite für die
Seelen, die ihrer Aufei-stehung noch entgegeuharren. Die Erde
und der Mensch galt ihm daher noch, wie den Alten, für den
Mittelpunkt und den Zweck des Universums, Christus für den
Anfang und das Ende, nicht blos der Menschengeschichte,
sondern der W e 1 1 geschieht«. Ebensowenig nahm jemand An-
stoss an den Lehren djBr Kirche über die Gottheit und ihre
drei Personen, über die gottmenschliche Natur Christi und die
erlösende Wirkung seines Todes, über den Sündenfall und die
Erbsünde, über die alleinseligmachende Kirche und ihre Sacra-
mente, die ewige Verdammniss aller Ungetauften und von der
Kirche Getrennten, an den alt- und neutestamentlichen Wun-
dererzählungen und an den zahllosen Legenden, mit denen
die Kirche ihre Heiligen- und Reliquien Verehrung begiilndete.
Nur sehr vereinzelt waren die Männer, die es wagten, den
einen oder den andem von den äussei-sten Ausläufern des
kirchlichen Glaubens in Zweifel zu ziehen; und wenn von den
Humanisten des 15. und 16. Jahrhundert^ allerdings mehr als
Einer in seinem Innern von ihm abfiel, fanden es doch fast
alle viel zu gefährlich, diess zu bekennen, oder sie nahmen
selbst in der Hierarchie eine zu hohe Stellung ein, als dass
sie den Gewinn nicht ^u schätzen gewusst hätten, den das
bestehende Beligionswesen ihnen einbrachte. So gi*oss daher
auch die Verändeiningen sein mochten, welche thatsächlich in
dem Zustand der Kirche und dem Charakter des religiösen
Lebens eingetreten waren, so hatte doch die Dogmatik den
Boden des altchristlichen Glaubens im ganzen und grossen
nicht verlassen; und auch wo diess geschehen war, hatte sie
doch nur die Keime, die schon in jenem lagen, in einer be-
stimmten Richtung weiter entwickelt. Dieser Abweichungen
selbst aber war man sich als solcher nicht bewusst: die un-
glaubliche Willkür, mit der die biblischen Schidften erklärt
der Religion. 75
und benützt wurden, der Mangel an geschichtlicher Kritik
und geschichtlichem Wissen erlaubte der Kirche, die Fiktion
aufrechtzuerhalten, dass sie in ihren Lehren und Einrichtungen
nie eine wirkliche Neuerung vornehme, sondern nur das zur
Geltung bringe, was in ihr allgemein und von jeher anerkannt
war. Die Begillnder der protestantischen Kirche durchschauten
diese Täuschung hinsichtlich der Punkte, in denen sie Iit-
lehren und Missbräuche erkannten : sie forderten mit allem
Nachdnick, dass man von der scholastischen Theologie und den
kirchlichen Satzungen auf die heilige Schrift als die einzige
authentische Urkunde der geoflFenbarten Wahrheit zurückgehe,
sie wollten das ursprüngliche Christenthum in seiner Reinheit
wiederherstellen. Thatsächlich war diess nun freilich unmög-
lich: wenn man die biblischen oder auch nur die neutesta-
m entlichen Schlitten richtig auffasst, wenn man weder etwas,
das sie nicht sagen, in sie hineinlegt, noch das, was sie sagen,
umdeutet oder beseitigt, so kann man sich leicht überzeugen,
dass ihre Dogmatik von der eines Melanchthon oder Calvin
und aller ihrer Nachfolger viel weiter abliegt, als diese Männer
selbst wussten; dass feiner die alttestamentlichen Anschauungen
mit den neutestamentlichen vielfach im Streit liegen, dass
aber auch in den beiden Haupttheilen unserer biblischen
Schriftsammlung , jeden fttr sich genommen, verschiedene und
bei wichtigen Fragen mit einander unvereinbare Auffassungen
der Religion zum Wort kommen.*) Aber diese historisch-
kritische Betrachtung der biblischen Schriften lag auch für
unsere altprotestantischen Theologen ganz ausserhalb ihres Ge-
sichtskreises. Ihr Interesse an diesen Schritten war kein histo-
risches, sondern ausschliesslich ein dogmatisches und religiöses :
man wollte aus ihnen nicht erfahren , was ihre menschlichen
Verfasser geglaubt und gelehrt haben, sondein was ihr gött-
licher Verfasser uns zu glauben und zu thun vorschreibe ; und
man wusste de^shalb alles das in ihnen zu finden, von dessen
*) Man vergleiche hierüber, das neue Testament betreffend, meine Ab-
handlang: „Das ürchristenthum" im I.Band S. 222 ff., namentlich S. 282 ff.
76 üeber Ursprung und Wesen
Wahrheit man selbst überzeugt war, dessen man zu seiner
Erbauung, seiner Bemhigung, seiner Vertheidigung gegen an-
dere Standpunkte bedurfte. Auch der protestantischen Theo-
logie war diess aber, wie der katholischen , nur desshalb mög-
lieh, weil sie wenigstens die allgemeinen Voraussetzungen der
neutestamentlichen Dogmatik theilte und auch da, wo sie von
ihr abwich, doch nur aussprach, was im wesentlichen noch auf
ihrem Boden stand und in stetiger geschichtlicher Entwickelung
aus ihr herausgewachsen war.
Heutzutage ist dieser unbefangene Glaube an die Gleich-
heit unseres und des altchristlichen Standpunktes unmöglich
geworden. Vier Jahrhunderte der erfolgreichsten wissenschaft-
lichen Arbeit haben unsere Weltanschauung nach allen Be-
ziehungen so gründlich umgestaltet, dass es kaum noch einen
Punkt gibt, an dem sie sich nicht mit deijenigen stiesse,
welche sich aus dem Alterthum in 's Mittelalter foi-tgeerbt hat;
und andererseits ist unser geschichtlicher Blick zu geübt und
geschärft, als dass wir den Gegensatz zwischen unseren üeber-
zeugungen und denen der Vorzeit so leicht zu überaehen, die
Urkunden der letzteren nach unserem jetzigen Bedürfniss um-
zudeuten im Stande wären. Es ist nicht blos die Astronomie,
welche mit den älteren Vorstellungen vom Weltgebäude auch
der alten Dogmatik für eine ganze Reihe ihrer eingreifendsten
Bestimmungen die materiale Grundlage entzogen hat;*) nicht
blos die Geschichtsforschung, welche uns in einer Religion,
die man früher als übernatürliche Offenbaining aus dem histo-
rischen Zusammenhang herausnahm, das natürliche EiTseugniss
einer geschichtlichen Eiitwickelung erkennen lässt, zu der die
sogenannten Heiden ebensogut ihren Beitrag geliefert haben,
wie das vermeintlich allein auserwählte und zum ausschliess-
lichen Träger der wahren Religion erkorene Volk der Ju-
den:*"') sondem unsere ganze Weltanschauung, unsere ganze
**)
*) Wie diess a. a. 0. S. 288 f. gezeigt ist
') Auch hierüber habe ich mich im ersten Theil dieser Sammlung
mehrfach geäussert; vgl. S. 26 £, 76 £, 855 f., 513 ff., wo auch die ent-
sprechenden Ausführungen von Baur und Strauss berührt sind.
der Religion. 77
Art, die Dinge zu betrachten und zu beurtheilen, ist in den
letzten Jahrhunderten eine andere geworden. Der moderne
Mensch fragt überall nach dem natürlichen Zusammenhang
und den natürlichen Ursachen der Dinge, wie er sich diese
nun denken mag; er geht ebenso in seinem praktischen Ver-
halten von der Voraussetzung eines durchgängigen von natür-
lichen Gesetzen bestimmten Gausalzusammenhanges aus: er
rechnet auf keine Wunder, kein ausserordentliches Eingi*eifen
übernatürlicher Mächte, und auch diejenigen, welche ein sol-
ches in der Theorie als dogmatischen Glaubensartikel an-
nehmen, machen doch von diesem Glauben, wenn sie sonst ver-
ständige Menschen sind, in der Praxis, bei allen den Fragen,
wo ihr eigenes Interesse in's Spiel kommt, keinen Gebrauch.
Auch mit der Gottesidee verbindet das moderne Bewusstsein
nicht mehr die Vorstellung einer über dem Naturzusammen-
hang stehenden, durch kein Naturgesetz gebundenen Allmacht ;
und es gilt diess nicht blos von denen, welche sich die Gott-
heit in keiner Beziehung nach der Analogie des menschlichen
Selbstbewusstseins zu denken wissen, und ihr desshalb die
Persönlichkeit als eine endliche und beschränkende Bestim-
mung absprechen ; sondern auch von denen , welche sie zu-
geben, werden sich die wenigsten der Ei-wägung*) entziehen
können, dass sich das Wunder mit der absoluten Vollkommen-
heit Gottes ebensowenig vertragen würde, wie mit der that-
sächlich feststehenden Gesetzmässigkeit des Naturlaufes, dass
daher die göttliche Wirksamkeit in der Welt keinenfalls eine
willkürliche und wunderbare, sondern nur eine durch die Na-
turursachen vermittelte sein könne. Die christliche Barche, bis
zum Ende des Mittelalters, hat nicht blos an den Wundem
der biblischen Geschichte nicht gezweifelt, sondeni sie war
auch überzeugt, dass sie fortwährend Wunder erlebe und ver-
richte: sie wusste sich weder die göttliche Allmacht noch ihre
eigene göttliche Sendung ohne Wunder zu denken. Der Pro-
testantismus verzichtete mit der göttlichen Auktorität der
Worüber S. 60 f.
78 lieber Ursprang und Wesen
Kirche, mit der Verehning der Heiligen und der Reliquien,
auch auf ihre Wunder: er protestirte hier, wie in allem, da-
gegen, dass Menschen die Vorrechte der Gottheit sich an-
massen. Aber die Wunder der biblischen Geschichte liess er
stehen; und mit ihnen die der kirchlichen Dogmatik. DieUn-
begi-eiflichkeit einer Lehre, die Unmöglichkeit, sie mit der
Vernunft in Einklang zu bringen, war für ihn kein Grund, an
ihr zu zweifeln, da es ja vielmehr ganz undenkbar ei*scheinen
musste, dass die beschränkte und von der Sünde verfinsterte
Vemunft des natürlichen Menschen im Stande sein soDte, die
göttlichen Dinge zu fassen. Ei*st durch den Rationalismus des
vorigen Jahrhundei-ts ist die Fordeiiing, das Wunder aus der
Geschichte, das Vernunftwidrige aus der Dogmatik zu ver-
bannen, innerhalb der christlichen Theologie selbst grundsätz-
lich zur Geltung gebracht worden. Was aber mit diesem
Grundsatz gesagt ist, welche weitgreifende Folgenipgen er in
sich schliesst, darüber wusste sich der Rationalismus durch
seine Umdeutung der biblischen Ei'zählungen und Lehrreden
zu täuschen, während Schleie rmacher noch die weitere Aus-
kunft bereit hielt, alles das, was dieser Umdeutung allzu hart-
näckig widei*strebte , für etwas dem christlichen Bewusstsein
gleichgültiges, nur den wissenschaftlichen Ausdruck und Sprach-
gebrauch betreffendes auszugeben; so laut auch die Gegner
sich mit Recht gegen dieses Verfahren vei-wahrten. Erst
Strauss wai* es, der es in seinem Leben Jesu und seiner
Glaubenslehre klar und scharf aussprach, wie über die Ge-
schichtlichkeit der evangelischen Erzählungen und die Halt-
barkeit der überlieferten Dogmen geurtheilt werden müsse,
wenn sie nach den Gi*undsätzen und Ergebnissen der heutigen
Wissenschaft folgerichtig geprüft werden. Seine Kritik ist in
der Folge von anderen und von ihm selbst vielfach er^mzt,
da und dort eingeschränkt und berichtigt,"^) aber an keinem
wesentlichen Punkte widerlegt worden. Es lässt sich nicht
*) Man vergleiche, seine Evangelienkritik betreffend, Th. I, 803 iL
355 flf. 461 flf. 480 ff.
der Religion. 79
verkennen: die heutige Wissenschaft sieht sich genöthigt, den
biblischen und insbesondere den evaugelischen Geschichts-
büchern für einen bedeutenden Theil ihrer Erzählungen, und
so namentlich bei allen Wundererzählungen als solchen den
Glauben zu versagen; sie steht auch mit dem überlieferten
christlichen Lehrbegriff, sowohl in den neutestamentlichen als in
den späteren Fassungen desselben, au vielen und wichtigen
Punkten in einem Widerspruch, der sich aus der neueren Ent-
wickelung der Wissenschaft mit Nothwendigkeit ergeben musste,
und der ebendesshalb durch keinen Vermittelungsversuch be-
seitigt werden kann. Wären daher nur diejenigen berechtigt,
eich Chiisten zu nennen, welche jenem Lehrbegiiff zustimmen,
so liesse sich dem Zugeständniss nicht entgehen, dass die-
jenigen von unseren Zeitgenossen, welche mit den Gnind-
sätzen und Ergebnissen der neueren Wissenschaft einverstan-
den sind, kein Recht mehr dazu haben.
Aber wie steht es mit jener Voraussetzung ? Ist die
ehristliche Religion wirklich nichts anderes als die christliche
Dogmatik, oder ist sie wenigstens an das Dogma so unwider-
ruflich gebunden, dass niemand ein Christ sein kann, wenn er
jenes nicht annimmt ? und kann die Dogmatik einer bestinmiten
Zeit, sei diess die ui*christliche oder eine spätere, für alle
Zeiten den Masstab des Christlichen abgeben?
8.
Wenn man die Religionen in ihrer äusseren Erscheinung
betrachtet, fallen zunächst zweierlei Bestandtheile derselben
üls massgebend für ihre Beurtheilung in's Auge : die religiösen
Vorstellungen .und die religiösen Handlungen. Jene haben
bald die Form des Mythus, bald die des Dogma; diese bilden
in ihrer Gesammtheit den Kultus. Je nach dem Charakter
der Völker und der Religionen tritt das eine oder das andere
von diesen Elementen stärker hervor. Bei poetisch begabten
Völkern gelangt die Mythologie, bei solchen von spekulativer
Anlage und Neigung das Dogma zu höherer Ausbildung ; wäh-
rend sich bei anderen die Einseitigkeit ihres praktischen In-
80 üeber XJrspnmg und Wesen
teresses darin zeigt, dass ihre Religion fast ganz in den Hand-
lungen aufgeht, durch welche man sich des Beistandes der
Götter für die menschlichen Zwecke vei-sichert Auch in der
wissenschaftlichen Betrachtung der Religion hat man bald auf
die eine bald auf die andere Seite das Hauptgewicht gel^
Denn so klar es auch ist, dass der Glaube und die Gottes-
verehi-ung nicht ohne einander gedacht werden können, so
kann man doch immer noch darüber verschiedener Ansicht
sein, wie sie sich zu einander verhalten und welche Bedeutung
jedem von beiden zukomme. Haben die Vorstellungen über
die Gottheit einen selbständigen Werth für die Religion, oder
besteht ihre Bedeutung für dieselbe nur darin, dass sie die
Gottesverehiiing möglich machen? Bildet die letztere umge-
kehrt den eigentlichen Zweck und das letzte Ziel der reli-
giösen Thätigkeit, oder haben wir dieses vielmehr in dem
theoretischen Gottesbewusstsein , der Gottes erkenn tnisszu
suchen, von welcher die Gottes Verehrung zwar eine natür-
liche Folge, aber nicht ihr Zweck ist? oder sind vielleicht
beide, die religiösen Vorstellungen und die religiösen Hand-
lungen, etwas abgeleitetes, die blosse Aussenseite der Religion,
ihre eigentliche Wurzel dagegen liegt tiefer und die Bedeutung
jener beiden richtet sich nach dem Verhältniss, in dem sie zu
diesem innersten Kern der Religion stehen?
Die letztere Annahme hat sich nun seit Schleie rmacher,
dessen Bedeutung für die Religionsphilosophie und die Theo-
logie grossentheils hierauf beruht, immer mehr Bahn gebrochen.
Bestände die Religion ihrem Wesen nach in einem Wissen, so
müsste auch die religiöse Vollkommenheit der Einzelnen mit
der ihres Wissens gleichen Schritt halten, jeder müsste in re-
ligiöser Beziehung um so höher stehen, je richtiger und be-
gründeter seine Begriffe von der Gottheit und ihrem Verhält-
niss zur Welt sind. Diess ist aber in der Wirklichkeit so
wenig der Fall, dass wir vielmehr neben unvollkommenen und
kindlichen Vorstellungen über die Gottheit nicht selten eine
sehr warme und lautere Frömmigkeit, neben einer hohen Ent-
wickelung des theologischen und philosophischen Wissens einen
der Religion. gl
auffallenden Mangel an wirklicher Fi'ömmigkeit finden, und
dass Personen, deren theologische Ansichten nicht blos ihrem
Inhalt, sondern auch ihrer Begi-ündung und wissenschaftlichen
Fassung nach tibereinstimmen, in ihrem religiösen Leben weit
auseinandergehen können. Auch in der Geschichte der Reli-
gionen und selbst in der der Dogmen zeigt sich das Interesse
des Erkennens nicht als das treibende Motiv, nicht als das-
jenige, von dem ihre Entwickelung im grossen und ganzen
beherrscht wird; es kommt . vielmehr gerade bei der ersten
Bildung und Feststellung der Dogmen ausserordentlich häufig
der Fall vor, dass man Bestimmungen, mit deren wissenschaft-
licher Haltbarkeit es aufs schwächste bestellt ist, aus religiösen
und kirchlichen Motiven den vei'ständlicheren und wissen-
schaftlich begiUndeteren vorzieht, und wenn wir den Zusam-
menhang und die Gi'ünde ihrer geschichtlichen Entwickelung
verstehen wollen, müssen wir fortwährend von dem, was sie
unmittelbar sagen, auf dasjenige zurückgehen, was sie für
das religiöse Bewusstsein bedeuten. Wie wenig aber diese
Bedeutung in der Ei-weiterung unserer Erkenntniss als solcher
aufgeht, lässt sich schon daran deutlich erkennen, dass über
den Werth vieler Untei-suchungen auf dem religiösen Stand-
punkt ganz anders geurtheilt wird, als auf dem wissenschaft-
lichen. Es gibt zahllose Fragen von hohem wissenschaftlichem
Interesse, an denen die Dogmatik vorbeigeht oder deren Er-
örterung sie für unstatthaft erklärt, weil es sich bei ihnen um
Glaubensgeheimnisse handle, die über die menschliche Vernunft
hinausgehen. Sie interessii*t sich nur für die Bestimmungen,
von denen sie das praktische Yerhältniss des Menschen zur
Gottheit bedingt glaubt; was dagegen ein blos theoretisches
Interesse hat, das überlässt sie der Metaphysik, der Natur-
wissenschaft, der Psychologie: sie betrachtet ihr eigenes Thun
nicht, wie die reine Wissenschaft, als Selbstzweck, sondern nur
als dn Mittel für gewisse ausser ihr liegende Zwecke, in denen
allein sie die letzte und unmittelbare Aufgabe der Religion sieht
Das gleiche gilt aber auch von den religiösen Handlungen,
von der Gottesverehining. Die gewöhnliche Vorstellungsweise
Zeller, Vorträge und Abhandl. 6
82 Uebcr IIr8|>niiig and Wesen
fasst diese als Gottesdienst im eigentlichen Sinn auf, wie sie
auch Yon Anfang an für nichts anderes gegolten hat ; sie sucht
ihre Bedeutung darin, dass die Grottheit oder die Götter fbr
ihre Verehrer günstig gestimmt werden, also in einer Einwir-
kung des Menschen auf die Gottheit. Eine reinere AufEassung
verlegt diesen Zweck in den Menschen selbst: die Gottesver-
ehrung ist ihr theils ein natürlicher Ausdruck des religiösen
Gefühls, dem es Bedürfniss ist, sich in dieser Weise zu äussern,
theils ein Mittel, um religiöse Stimmungen und Entschlüsse
hervorzurufen, ein Mittel der Erbauung. Aber in dem einen
wie in dem anderen Fall liegt ihre Bedeutung nicht in diesen
Handlungen als solchen, sondern in ihrer Wirkung, und näher
in ihrer Einwirkung auf das Leben des Menschen; nur dass
hiebei von dem einen auf das innere, von dem anderen auf
das äussere Leben des Menschen der Hauptnachdruck gelegt,
jene Einwirkung bald als eine unmittelbar auf den Menschen
gerichtete gedacht, bald unmittelbar auf die Gottheit und nur
mittelbar auf den Menschen bezogen wird; denn auch wenn
man den nächsten Zweck des Kultus darin sieht, die Gunst
der Gottheit zu gewinnen, bemüht man sich doch um diese
nur desshalb, weil man sein eigenes Wohl von ihr abhängig
macht, sein letzter Zweck liegt daher auch nach dieser Auf-
fassung in der befriedigenden Gestaltung des menschlichen
Lebens.
Es ist aber nicht blos diese der Religion eigenthümliche
und in ihrem unmittelbaren Dienst stehende Thätigkeit, welche
hier in Betracht kommt, sondern neben ihr noch das weite
Gebiet des ganzen sittlichen Lebens. Es gibt wohl kaum eine
Religion, jedenfalls aber keine etwas höher entwickelte, -in der
nicht die sittlichen Pflichten, so weit man sich ihrer bewusst
ist, auf den Willen der Gottheit zuiUckgeführt, als ihre Ge-
bote aufgefasst würden; und je höher eine Religion steht, je
richtiger und würdiger ihre Vorstellungen von der Gottheit
sind, um so mehr wird die Reinheit des Lebens, die Recht-
schaffenheit und die Menschenliebe, als die unerlässliche Be-
thätigung der religiösen Gesinnung, der wichtigste Theil der
der Beligion. g3
Gottesverehi-ung, betrachtet werden. Diese Thatsache weist
unbedingt auf einen engen natürlichen Zusammenhang des
sittlichen Lebens mit dem religiösen; und nur die äussei*ste
Einseitigkeit konnte den Versuch machen, beide statt dessen,
nach Ludwig Feuerbach's Vorgang, in einen ursprünglichen
Gegensatz zu bringen, die Religion als die natürliche und un-
versöhnliche Feindin der Moral darzustellen. Rohe und wilde
Volksstämme werden natürlich auch eine rohe Religion haben,
Aberglauben und Vorui'theile auch auf die Sittlichkeit nach-
theilig einwirken, Eigennutz, Fanatismus und Hen-schsucht,
wenn sie die Religion zum Voi-wand oder zur Veranlassung
nehmen, ebensoviel und möglicherweise noch mehr Schaden
stiften, als 'wenn sie sich an anderes heften. Es sind nicht
blos im Namen der Religion, sondern auch aus religiösen Be-
weggründen, ungezählte Verbrechen begangen, Scheuslichkei-
ten, vor denen dem menschlichen Gefühl schaudert, verübt
worden; es haben sich Menschenopfer und ähnliche Gräuel,
weil sie von der Religion geheiligt waren, Jahrhunderte lang
bei Völkern, deren übrige Bildung längst darüber hinaus war,
erhalten; es sind in Glaubenskriegen und Ketzerveifolgungen
Hunderttausende zur Ehre der Gottheit hingeschlachtet worden.
Aber wenn man die Religion als solche für alles das verant-
vvortlich macht, wozu die Leidenschaft und der Aberglaube sie
gemissbraucht hat, so ist diess um nichts gerechter und um
nichts klüger, als wenn man wegen der Justizmorde und Fol-
tern, mit welchen die Rechtspflege sich befleckt hat, alle und
jede Rechtsprechung, wegen der Gewaltthätigkeiten und Gräuel,
die Staaten gegen einander vei-übt haben, das Staatsleben als
solches verdammen, oder ziir Verhütung von Brandstiftung das
Feueranzünden schlechtweg verbieten wollte. Wenn ein Boden
verwildert oder versumpft ist, wird er keine geniessbaren
Früchte tragen ; aber was folgt daraus, als dass man die Wild-
niss ausroden, die ungesunden Wasser ableiten muss? Wo
im Gefolge der Religion Verkehrtheiten, Unsittlichkeiten, Ver-
brechen vorkommen, da beweist diess immer nur gegen die-
jenige Religion, an welche diese übeln Folgen sich geknüpft
6*
84 Ueber Unprang und Wesen
haben, aber es beweist nicht gegen die Religion als solche,
nicht gegen jede Religion, so lange nicht dargethan ist, dass
sie mit jeder verknüpft sind und verknüpft sein müssen. An
sich selbst und ihrer wesentlichen Tendenz nach kann die Re-
ligion, wenn sie von der rechten Art ist, dem sittlichen Leben
nur förderlich sein. Denn wenn alle Sittlichkeit auf dem
Willen zur Vollbringung dessen beruht, was man als sittlich
nothwendig erkennt oder doch fühlt, so wird dieser Wille
durch den Gedanken, die sittliche Nothwendigkeit mhe auf
dem Willen der Gottheit, der Mensch müsse sich ihr dess-
halb zu seinem eigenen Heile unbedingt untei*werfen , nur ge-
festigt und gestärkt werden können. Die Unverbrüchlichkeit
des Sittengesetzes wird damit auch denen zum Bewusstsein
gebracht, die sie wissenschaftlich zu begründen nicht im Stande
sind; während sie anderereeits auch den letzteren nur um so
lebhafter und eindringlicher vor Augen treten wii*d, wenn sie
sich daran erinnern, dass die Gesetze des menschlichen Ver-
haltens mit der ganzen Weltordnung im Zusammenhang stehen
und mit ihr aus dem letzten Giiind aller Dinge entspringen.
Es kann nun freilich geschehen, dass die gleiche Heiligkeit
auch abergläubischem Ceremoniell oder rohen, einer höheren
Bildung widerstrebenden Gebräuchen beigelegt wird; und in
diesem Fall ist natürlich die Religion, die jenen Dingen
den Schein der Unantastbarkeit verleiht, ein Hindemiss des
sittlichen Fortschrittes. Aber es kann auch geschehen, dass
die Staatsgewalt sich einer Verbesserung der bestehenden Ein-
richtungen entgegenstemmt, oder das Volk von seinem Gesetz-
gebungsrecht einen verkehrten Gebrauch macht, oder die Ge-
schworenen einen Schuldigen fii-eispVechen. So wenig man in
diesem Fall die politischen Institutionen als solche für den
Missbrauch verantwortlich machen kann, der mit den von ihnen
verliehenen Befugnissen getrieben wird, ebensowenig kann man
die Religion als solche für die Verkehrtheiten verantwortlich
machen, die in ihrem Namen begangen werden. Wenn eine
Gesetzgebung Missbräuche begünstigt, soll man sie verbessern,
wenn sie eine Ungerechtigkeit befiehlt, soll man diese abstellen ;
der Religion. 85
lyenn ein Volk abergläubisch ist, soll man es aufklären, wenn
seine Religion sittliche Nachtheile herbeifühi*t , soll man es zu
einer reineren bekehren. Aber so wenig man um der schlechten
Gesetze willen alle Gesetze überhaupt aufhebt, ebensowenig
gibt die Verderblichkeit des Aberglaubens ein Recht, alle Re-
ligion überhaupt zu verwerfen.
Eine andere Frage ist es, ob die Bedeutung der Religion
in der Moral aufgeht, ob sie nach der bekannten Definition
Kant's, mit der aber vor und nach ihm nicht wenige in der
Sache übereinstimmten, ihrem eigentlichen Wesen nach nichts
anderes ist, als die Anerkennung unserer Pflichten als gött-
licher Gebote. Auch nach dieser Ansicht müsste zwar zu der
Sittenlehre und der Sittlichkeit immer noch etwas hinzukom-
men, damit sie zur Religion würde: die Beziehung der sitt-
lichen Verpflichtung auf Gott als ihren Urheber. Aber diese
Beziehung hätte keinen selbständigen Wei-th: ihre Bedeutung
läge nur darin, dass die moralische Vei-pflichtung durch sie
lebendiger vergegenwärtigt, nachdiücklicher eingeschärft würde;
veer aber dieser Nachhülfe entbehren könnte, der stände
moralisch nur um so höher, und keinenfalls würde er da-
durch für sein inneres Leben etwas verlieren. Allein der
Glaube an die Gottheit ist ursprünglich (wie unsere fi-ühere
Auseinandersetzung gezeigt haben wird) nicht blos aus dem
sittlichen Bedürfhiss des Menschen heiTorgegangen , es hat
vielmehr der Eindmck der Aussenwelt zu seiner ei-sten Ent-
stehung den grösseren Beitrag geliefeit, und auch da, wo die
Götter aUmählich zu sittlichen Mächten veredelt wurden, lässt
sich doch bei den meisten derselben ihre anfängliche Naturbedeu-
tung noch deutlich erkennen; und auch unser Gottesbegriff
ist mit der Bestimmung des obersten sittlichen Gesetzgebers
und Weltregenten nicht erschöpft: sondern wir denken uns
imter der Gottheit ebensowohl die letzte Uraache der physi-
schen, wie der moralischen Welt, und wir können die letztere
selbst nur desshalb auf sie zurückführen, weil mit der ganzen
übrigen Natur auch die Vemunftanlage des Menschen und
alles , was naturgemäss aus ihr hervorgeht , in dem Einen
86 lieber ürsprang und Wesen
unendlichen Sein begiUndet sein muss. Ebensowenig beschränkt
sich die Bedeutung der Gottesidee für den Menschen auf das
sittliche Leben als solches ; sondern der Fromme bringt jeden
Lebenszustand mit ihr in Verbindung, nimmt in jeder Be-
drängniss zu ihr seine Zuflucht: er verehrt das Walten der
Gottheit in allem, in der Natur wie in den Geschicken der
Menschen und der Völker, er wird durch den Gedanken an
die Gottheit über physische wie über moralische Noth hinaus-
gehoben, mit Standhaftigkeit und Ergebung zum Dulden wie
mit Begeisterung und Pflichttreue für's Handeln erfüllt. Die
Eeligion ist unzweifelhaft eine sittliche Macht; aber sie ist
diess nicht in dem beschränkten Sinn, als ob es sich in ihr
nur um die Moralität als solche handelte, als ob sie nur ein
Hülfsmittel wäre, um die Pflichterfüllung zu erleichtem und
zu sichern. Sie umfasst vielmehr das ganze Leben des Men-
schen, und es gibt in demselben schlechterdings keine Aufgabe
und keinen Zustand, welche sich nicht von religiösen Gesichts-
punkten aus auffassen, mit der Gottesidee in Verbindung setzen
Hessen.
So weit aber hiemach das Gebiet ist, über welches das
religiöse Leben sich ausdehnt, so schaif grenzt es sich doch
anderntheils wieder ab. Kann auch alles, was den Menschen
irgendwie berührt, der religiösen Beuilheilung unterworfen
werden, so wird es hiebei doch immer nur von einer bestimm*
ten Seite und in einem bestimmten Interesse betrachtet. Es
ist immer nur das Wohl des Menschen, um das es der
Beligion zu thun ist. Sie bedai*f allerdings gewisser Glaubens-
sätze, theoretischer Ueberzeugungen über die Gottheit und die
Welt; aber sie sucht diese, wie oben gezeigt wurde, nicht nm
ihrer selbst willen, nicht aus wissenschaftlichen Motiven, son-
dern nur weil und wiefem das praktische Verhalten gegen die
Gottheit, die wahre Frömmigkeit und die richtige Gottesver-
ehrung durch sie bedingt ist; und sie lässt sich desshalb bd
der Bildung derselben in letzter Beziehung nicht von wissen-
schaftlichen Gründen, sondern von den Bedüifnissen des from-
men Gemüths und des religiösen Gemeinlebens leiten. Die
der Eeligion. 87
Religion ti-eibt ferner tiberall und naturgemäss zu gottesdienst-
lichen Handlungen, worin diese nun bestehen und wie viel
oder wenig von dem sittlichen Leben sie in sich aufnehmen
mögen. Aber diese Handlungen haben ihren Zweck gleich-
falls nicht in sich selbst, sondeni sie erscheinen auf dem
religiösen Standpunkt selbst nur als ein Mittel, sich das Wohl-
gefallen der Gottheit zu erwerben, und um dieses ist es dem
Menschen zu thun, weil er sein eigenes Wohl von ihm ab-
hängig weiss. Innerhalb dieses Standpunktes gehen die Wege
allerdings wieder sehr weit auseinander. Es macht einen
grossen Unterschied, ob man von der Gunst der Gottheit nur
sinnliche, oder ob man in erster Reihe geistige und sittliche
Güter von ihr erwartet; ob man den Lohn der Frömmigkeit
in dem gegenwärtigen oder erst in einem künftigen Leben zu
empfangen hofift; ob man überhaupt die Vorstellung des Ver-
dienstes und der Belohnung auf das Verhältniss des Menschen
zur Gottheit überträgt, oder sich an der unmittelbaren inneren
Befriedigung eines frommen, von der Gottesidee erfüllten und
geläuterten Lebens genügen lässt. Aber auch in dem letzteren
Fall, auch dann, wenn im Innersten der Gesinnung jede Spur
von Lohnsucht getilgt ist, bleibt doch immer der Mensch und
sein Heil der Mittelpunkt der Religion : ihr letztes Motiv liegt
in dem Wunsche, durch die Verbindung mit der Gottheit sich
alle die Güter zu vei-schaflfen , zu denen sie den Zugang er-
öffnet, sich von allen den Uebeln zu befreien, von denen man
auf keinem anderen Wege frei werden kann. Der religiöse
Standpunkt selbst misst ihre Bedeutung ausschliesslich an ihrer
Wirkung auf den Lebenszustand des Menschen, die entschei-
dende Stimme führt daher in Sachen der Religion das pei-sön-
liche Gefühl und Bedtirfhiss, und der Werth, welcher ihren
objektiven Bestandtheilen, den Glaubensvorstellungen und dem
Kultus, beigelegt wird, richtet sich bei einem jeden nach dem,
YfBß sie ihm für sein persönliches Leben, sein Glück und seine
Gemüthsruhe leisten. Schleiermacher hat insofern das richtige
getroffen, wenn er die Religion dem Gefühl als solchem zu-
wies ; so einseitig es auch war, diesem Gefühl keinen weiteren
88 lieber Ursprang und Wesen
Inhalt zu geben, als den Gedanken einer absoluten Abhängig-
keit, und sein Gebiet gegen alle anderen so abzuspen*en, dass
es den Anschein gewinnt, als seien die religiösen Vorstellungen
und Handlungen, das Dogma und der Kultus, mit dem religi^ysen
Gefühl nicht seiner eigenen Natur nach, als seine unerlfiss-
lichen Bedingungen und Lebensäusseiiingen, verknüpft, sondern
nur von aussen her mit ihm in Verbindung gesetzt.
Was aber jene Beziehung auf die Gottheit, in der die
Religion besteht, dem menschlichen Leben zubringe, darüber
fehlt es zwar dem religiösen Standpunkt nicht selten an einem
klaren Bewusstsein. Die Gottesverehining und die Früchte der
Gottesverehrung, die Frömmigkeit und die Seligkeit werden
in das äusserliche Verhältniss des Mittels und des Zweckes
gesetzt: jene soll die Arbeit sein, diese der Lohn, jene die
Leistung, die während des gegenwäiügen Lebens verlangt
wird, diese der Vortheil, den man sich durch dieselbe für ein
künftiges sichert; von der grossen Zahl jener Religionen nicht
zu reden, denen die Opfer und die gottesdienstlichen Hand-
lungen nur der Preis sind, welcher den Göttern für den Sieg
in der Schlacht, den Ertrag der Felder und Heerden, die Ab-
wehr von Seuchen und Misswachs und ähnliche Dinge bezahlt
wird. Einer solchen Auffassung gegenüber haben die Gegner
natürlich ein leichtes Spiel. Wer sich über den Werth und
Zweck seiner Gottesverehrung keine würdigei-en Vorstellungen
zu machen weiss, der kann freilich der Frage nicht ausweichen,
wie er denn meinen könne, dass der Gottheit, der seine eigen-
nützigen Beweggründe doch bekannt sein müssten, mit einer
solchen Lohnarbeit gedient sei. Ihm gilt in vollem Masse der
Spott und die Entrüstung Spinoza's über jene seltsamen From-
men, die den Augenblick herbeisehnen, wo sie die Last ihrer
Frömmigkeit abwerfen und den Lohn für ihren Enechtsdienst
einstreichen dürfen. In der Wirklichkeit ist aber kein wahr-
haft Frommer in seinem Verhalten zur Religion jemals bei
dieser äusserlichen Auffassung stehen geblieben, wenn er sie
auch dogmatisch, für sein Voi'stellen und Denken, nicht zu
entbehren vermochte. Wo wirkliche Frömmigkeit ist , da
der Beligion. 89
bewirkt der GiBdanke an die Gottheit und die Abhängigkeit
aller Dinge von der Gottheit, welche Fonn er auch für
die Vorstellung annehme, doch immer eine Freudigkeit und
Sicherheit des inneren Lebens, eine Zufriedenheit mit dem
Lauf und der Einrichtung der Welt, er bildet eine Schranke
gegen Selbstübei-schätzung und Selbstüberhebung, einen An-
trieb zur Befolgung der sittlichen Gesetze, der um so kräftiger
ist, je reiner und würdiger die Gottesidee aufgefasst wird.
Wer wirklich fromm ist, der wird die Frage gewiss nicht be-
jahen, sie wird ihm vielmehr kaum jemals in den Sinn kommen,
ob er, abgesehen von der Aussicht auf diesseitigen oder jen-
seitigen Lohn, nicht besser thäte, sich in niedrigen Lüsten um-
herzuwälzen, seinen Vortheil und Genuss mit allen Mitteln zu
verfolgen. Sein Glaube bringt ihm unmittelbar durch sich
selbst eine solche Fülle von inneren Gütern, dass alles, was
er für die Zukunft weiter von ihm erwartet, nur als die Foit-
setzung und Vollendung dessen ei-scheint, was er schon hat.
HundeHe von tief religiösen Menschen haben diess oiTen aus-
gesprochen; sie haben sich in der einen oder der anderen
Form zu dem Satze des einsamen Denkei*s im Haag bekannt,
dass die Seligkeit nicht eine Belohnung der Tugend, sondeiii
die Tugend und Frömmigkeit selbst sei; und auch diejenigen,
welche Bedenken tragen wüi'den, diess ausdrücklich zu sagen,
zeigen doch thatsächUch durch ihr Verhalten, je mehr es ihnen
mit ihrer Frömmigkeit ernst ist, um so mehr, wo wir den
eigentlichen Kern, das bleibende und unter den verschieden-
sten äusseren Formen sich erhaltende Wesen der Religion zu
suchen haben.
Ist nun das religiöse Leben in diesem Sinn durch die
Bildung und Wissenschaft unserer Tage entbehrlich oder un-
möglich gemacht? Ist es demjenigen, welcher die ungenügen-
den Vorstellungen der Vorzeit über die Gottheit und ihr Wir-
ken als solche erkennt , welcher alle Ei-scheinungen auf feste
Gesetze und natürliche Ursachen zurückzuführen bemüht ist,
nicht mehr Bedürfniss, sie alle mit einem letzten Ginind alles
Seins in Zusammenhang zu setzen und durch den Gedanken
90 (Jeber Ursprung und Wesen
dieses Zusammenhangs seinem eigenen inneren Leben neue
Kräfte und Antriebe zuzuführen? Von denen, welche diess
glauben, lebt vielleicht die Mehrzahl in einer ähnlichen Täu-
schung, wie die Frommen, die den Werth ihrer Frömmigkeit
nur in den Voilheilen zu suchen wissen, die sie sich von ihr
versprechen. Jene wie diese verkennen das Wesen der Re-
ligion, sie wissen es von der Form nicht zu imtei'scheiden,
welche sie für das Bewusstsein der meisten annimmt. Die
einen glauben, der Werth der Religion, deren sie sich bewusst
sind, liege nur in dem, was die gewöhnliche Vorstellung von
ihr erwartet. Die anderen meinen, weil sie diese Voretellung
nicht mehr theilen, haben sie auch keine Religion mehr. Aber
auch diese widerlegen in der Regel ihre eigene Meinung durch
ihr thatsächliches Verhalten. Sie bestreiten vielleicht den ge-
wöhnlichen GottesbegriflF und bekennen sich desshalb wohl
auch geradehin zum Atheismus. Aber sie substituiren jenem
Begi*iflF sofort andere, mit denen sie dasselbe ausdrücken wollen,
was der Gottesbegriflf ausdiiickt, die Natur, die Weltordnung
u. s. w. Sie betrachten das unfehlbare Ineinandergreifen aller
Erscheinungen und Weltgesetze mit einem ähnlichen Gefäihl
der Bewunderung, der Erhebung, der Erbauung, wie der Re-
ligiöse. Sie können nicht läugnen, dass aus dem Spiel der
Naturkräfte, dem scheinbar so blinden Naturmechanismus, nach
festen Gesetzen alle jene Bewusstseinserscheinungen hervoi>
gehen, die dem menschlichen Geistesleben seinen Werth und
Inhalt verleihen. Sie stärken und trösten sich selbst mit dem
Gedanken, dass auch das, was den Einzelnen am schmerzlich-
sten trifft, im Zusammenhang des Ganzen und seiner absoluten
Nothwendigkeit begi*ündet, dass es nur eine Folge der gleichen
Bedingungen sei, auf denen die Schönheit; die Vollkommenheit,
die vemunftmässige- Einrichtung der Welt beruhe. Was ist
nun alles diess anders, als eine religiöse Gemüthsstimmung,
und welchen Grund haben die, welchen diese Gefühle nicht
fi*emd sind, die Frage, ob wir noch Religion haben, zu ver-
neinen ?
Auch die weitere Frage nach dem Verhältniss der Ein-
der Religion. 91
zelnen zu einer gegebenen, positiven Religion muss in anderem
Sinn, als gewöhnlich, gestellt werden. Es kann sich heutzu-
tage nicht sowohl darum handeln, ob jemand mit einem gi-össeren
oder kleineren Theil der überlieferten Lehren einvei*standen
ist, ob er dieses oder jenes Fest, diese oder jene Kultushand-
lung in ihrer ursprünglichen Bedeutung noch mitzubegehen im
Stand ist, als vielmehr darum, wie sich der Gesammtcharakter
seines religiösen Lebens, die Ginindstimmung desselben zu dem
verhält, was sich in der Gemeinschaft, der er angehört, von
ihrem geschichtlichen Ausgangspunkt aus naturgemäss und
stetig entwickelt hat Nicht das Dogma und nicht der Kultus
ist es, von dem der religiöse Charakter der Einzelnen und der
Religionsgesellschaften abhängt, sondern die Gefühlsweise, der
beide zum Ausdruck dienen; nur nach dieser lässt sich daher
auch das Yerhältniss des Einzelnen zur Gemeinschaft und der
Gegenwall; zur Vorzeit in letzter Beziehung beurtheilen. Auch
hiebei darf 'man aber die einzelnen geschichtlichen Ei-schei-
niingen nicht isoliren : man darf z. B. die Gegenwart und die
christliche Urzeit nicht einfach zusammenhalten , um je nach
dem Ergebniss dieser Vergleichung zu bestimmen, ob wir uns
heutzutage noch Christen nennen dürfen; sondern man muss
die ganze Reihe der dazwischenliegenden Ei-scheinungen mit
in /Rechnung nehmen und sehen , ob dieselbe eine stetig fort-
laufende Entwickelung dai-stellt, oder an irgend einem Punkt
abreisst und umwendet. Denn ein historisi^hes Princip lässt
sich, wie ich auch anderswo schon bemerkt habe,*) nui* aus
dem Ganzen seiner Wirkungen erkennen, uncj nur dann wird
man sein Wesen genügend und richtig bestimmt haben, wenn
man Bestimmungen aufgestellt hat, aus denen sich alle die Er-
scheinungen, die es heiTorgebracht , alle die Gestalten, die es
durchlaufen hat, begi*eifen lassen. Diese können sich aber von
seiner ersten Gestalt mit der Zeit so weit entfernt haben, dass
sich beide an keinem einzigen Punkte mehr unbedingt gleichen,
kein Zug des Fiilheren sich in dem Späteren unverändert
*) In der Abhandlung über das ürchristenthum, 1. Samml. S. 291.
92 üeber Ursprang und Wesen der Religion.
wiederholt, ohne dass sie desshalb aufholten, zu Einem ge-
schichtlichen Ganzen zu gehören. Wir nennen uns immer noch
Deutsche, wiewohl unser heutiges Volksleben und unsere heu-
tige Bildung von der jener Stämme, die mit Cäsar gekämpft
und den Varus besiegt haben, noch weiter abliegt, als das
Deutsch des neunzehnten Jahrhundeits von dem des ersten;
und ebensowenig zweifelt irgend jemand, dass er noch dieselbe
Person sei, die vor fiinfzig oder sechzig Jahren da und da zur
Welt kam, wiewohl alle Stoffe seines Leibes inzwischen mehr
als einmal gewechselt, alle seine Züge und Fonnen sich ver-
ändert haben. Nach dem gleichen Gesichtspunkt ist auch die
Frage zu b eant weiten , ob jemand heutzutage noch einer Re-
ligion angehöre, die vor Jahrtausenden in's Leben getreten ist
Diese Frage ist dann zu bejahen, wenn sein religiöses Leben
von einer geschichtlichen Strömung getragen wird, welche sich
von den Anfängen jener Religion ununterbrochen in die Gegen«
wart fortsetzt. Wer allerdings die Religion als eine unmittel-
bare OffenbaiTing der Gottheit vom Himmel herabkommen lässt,
der muss folgerichtig ihre erste Gestalt für die einzig berech-
tigte halten, und jede spätere in dem Masse, wie sie von jener
abweicht, verwerfen. Wer dagegen auch auf diesem Gebiet
daran festhält, dass jede geschichtliche Erscheinung auf natür-
lichem Wege aus ihren geschichtlichen Bedingungen entstanden
sein müsse, der darf keine einzelne Ei-scheinung zur Norm
aller späteren machen; ebendesshalb aber auch die geschicht-
liche Zusammengehörigkeit des Späteren mit dem FiHheren
wegen der Unähnlichkeit beider wenigstens dann nicht bestrei-
ten, wenn jenes von diesem in gerader Linie abstammt.
IL
Religion und Philosophie bei den Römern.
(1865.)*)
Die Römer haben ihre Religion, wie ihre Sprache und
Sitte, ursprünglich von den Völkern erhalten, aus denen das
römische zusammengeflossen ist; und den weitaus bedeutend-
sten Beitrag fttr dieselbe lieferten jedenfalls die .nahe ver-
wandten Glaubensfoimen jener latinischen und sabinischen
Stämme, deren Ansiedlungen am palatinischen Hügel und auf
dem Kapitol zu der künftigen Weltstadt den Gnind legten.
Wie nun diese Stämme ein Glied der vielverzweigten indo-
germanischen Völkerfamilie bilden, so steht auch ihre Religion
mit denen vieler anderen Völker, zunächst der Griechen, weiter-
hin aber auch der Germanen, der Peraer, selbst der Inder,
von der gi-auen Vorzeit her in einem Zusammenhang, der
nicht blos aus dem Gesammtcharakter dereelben, sondeni auch
aus einzelnen Göttemamen, Mythen und Gebräuchen nicht
selten in überraschender Weise hervortritt. Ihre allgemeine
Grundlage bildet die Verehning jener unsichtbaren, geister-
haft gedachten Wesen, welche die Natur und das Menschen-
leben durchwalten. Unter denselben treten vor allem die
lichten Himmelsmächte hei-vor, die sich in Jupiter, dem Him-
melsgott, zur weltbeheii'schenden Einheit zusammenfassen.
*) Zuerst abgedruckt in der Virchow-Holtzendorff'schen Sammlung
wissensch. Yortr. Ser. I, H. 24.
94 Religion und Philosophie
Eine zweite Klasse von Göttern ergab sich aus der Betrach-
tung der irdischen Natur und aus der Ahnung der Ki*äfte, die
in ihr wirken, die im Dunkel des Waldes und in der Einsam-
keit des Gebirges uns umgeben, die im Munneln der Quelle
und im Knistern der Herdflamme zu uns sprechen, denen wir
das Wachsthum der Saaten und das Gedeihen der Heerden
verdanken. Zu diesen zwei Gebieten kommt endlich als drittes
die Erdtiefe mit allem Geheimnissvollen und Düsteren, was sie
in sich birgt, allem Segen und Reichthum, der aus ihr ent-
springt. Ist es aber der Religion schon überhaupt, auch wenn
sie das Göttliche in der äusseren Natur sucht, doch in letzter
Beziehung nicht um die Aussen weit als solche zu thun, son-
dern um ihre Bedeutung für den Menschen, so gilt diese in
ganz besonderem Masse von der römischen Religion. Die rö-
mischen Götter sind allerdings grösstentheils pei-sonificirte
Naturkräfte; aber die Voi"stellung von diesen Kräften wii'd
nicht durch wissenschaftliche Beobachtung und ErkläiTing der
Naturei-scheinungen gewonnen; in diesem Fall hätte es ja gar
nicht zu ihrer mythischen Personification kommen können.
Sondern die Einwirkungen, welche der Mensch von der Aussen-
welt eifähi-t oder zu erfahren meint, regen die Phantasie an,
sich eine Vorstellung der Wesen zu bilden, von denen sie her-
iUhren; diese Voi-stellung hat daher zunächst auch keinen an-
deren Inhalt: die Götter sind die Mächte der Natur nach
ihrem wohlthätigen oder verderblichen Einfluss auf das mensch-
liche Dasein betrachtet, die Urheber des Segens und des Un-
heils, welches dem Menschen widerfährt, der erhebenden oder
schreckhaften Eindrücke, welche die Naturerscheinungen auf
ihn hervorbringen ; und in dem Bilde, das sich der Mensch von
ihnen macht, spiegeln sich nicht blos diese Erscheinungen selbst
ab, sondern noch weit mehr die von ihnen en-egten Empfin-
dungen und die von ihnen bestimmten menschlichen Lebens-
zustände. Ebendamit geht aber die physische Bedeutung der
Gottheiten in die ethische über; und gerade die römische R^
ligion ist eine von denjenigen Naturreligionen, in welchen diese
letztere Seite am stärksten hervortritt. Jupiter ist nicht blos
bei den Römern. 95
der HeiT des Himmels und der Gewitter, somlem er ist auch
der höchste Behenscher des menschlichen Lebens und seiner
Geschicke ; er lenkt das Schicksal der Schlachten und verleiht
den Si^ über die Feinde, er schützt das Recht und die Treue,
er ist als der Götterkönig auch das Haupt der irdischen
Staaten, der oberste von den römischen Staatsgöttem , der
„Höchste und Beste", dessen Begriff sich mit dem Anwachsen
der Römermacht immer mehr zum Gedanken der Einen weit-
heiTSchenden Gottheit erweiterte. Juno ist als die Licht- und
Geburtsgöttin zugleich der allgemeine Schutzgeist des weib-
lichen Geschlechts, so dass die Frauen ebenso bei ihrer Juno
2U schwören pflegten, wie die Männer bei ihrem Genius; sie
ist insbesondere die Göttin der Ehe, das himmlische Urbild
aller Haus£i*auen; und als die Himmelskönigin theilt sie sich
mit ihi*em Gemahl in den Schutz der Städte, auf deren Burgen
ihr geopfert wird. Die Götter des Herdfeuei*s sind zugleich
auch die Hausgeister, deren alterthümlich einfache Verehrung
den religiösen Mittelpunkt des häuslichen Lebens bildet; in
der Herdgöttin der Gemeinde, in Vesta, wird die Idee der
höchsten sittlichen Reinheit angeschaut. Die Erdgottheiten
nehmen nicht nui* das Samenkorn in ihre Hut und spenden
aus der Tiefe den Segen der Fluren; sondern zu ihnen steigen
auch die Seelen der Verstorbenen hinab, und bei ihnen haben
jene guten Geister ihren Wohnsitz, welche als Laren die Fa-
milien, die Städte, die Strassen beschützen. Noch ausschliess-
licher hat sich die ethische Bedeutung in der Folge bei Mars
oder Quirinus entwickelt. Auch er ist ursprünglich eine
Natui^ottheit, ein Gott der Wälder und der Weiden, des Früh-
lings und der Befruchtung ; er wird um Segen für die Heerden
angerufen; als Frühlingsgott ist ihm der erste Monat des alt-
römischen Jahres, der Marsmonat oder März, geweiht, und wo
man seiner ausserordentlichen Hülfe bedarf, wird ihm als
^heiliger Frühling" der Ertrag des jungen Jahres an Menschen,
Vieh und Früchten gelobt — jenes ver sacrum, das durch
Uhland's schönes Gedicht so bekannt ist. Aber an diese Na-
turbasis knüpft sich die vielseitigste Beziehung zur Menschen-
96 Religion und Philosophie
weit. Mars ist * nicht allein der Beschützer des Ackerbaus
und der Viehzucht, sondern auch eine von den Gottheiten der
Ehe und des häuslichen Lebens; er fuhrt die bewaffneten
Schaaren in die Schlacht und die Auswandere^: in ihre neuen
Wohnsitze; in seinem Bilde fassen sich überhaupt den itali-
schen Völkern alle Züge männlicher Kraft in ähnlicher Weise
zusammen, wie der griechische Geist sein ganzes sittliches
Ideal in der Gestalt ApoUo's zusammenfasse In der Folge
traten allerdings seine kriegerischen Eigenschaften im Glauben
dieser Völker um so einseitiger in den Vordergrund, je mehr
auch in ihrem Leben, unter Roms Führung, die kriegerische
Thätigkeit alle anderen vei-schlang; doch ist seine ursprüng-
liche Bedeutung, auf die zahlreiche Eultusgebräuche hinweisen^
nie ganz in Vergessenheit gerathen. Dag^en ist Minerva
aus der Lichtgöttin, welche sie ui*sprünglich, wie die giiechische
Athene 9 gewesen zu sein scheint, so frühe und so vollständig
in die Gottheit des erfinderischen Verstandes übergegangen,
(lass schon ihr Name nichts anderes ausdiilckt. Noch andere
Gottheiten, wie die vielverehrte Fortuna, wie die Fides»
die Pudicitia, die Virtus, der Honor, und wie viele
sonst noch, sind blosse Pei-sonificationen allgemeiner Begriffe;
und wenn solche Wesen allerdings unter den obersten Gott-
heiten keine Stelle fanden, so beweist doch schon ihre fast
zahllose Menge, welche Wichtigkeit auch ihnen für das reli-
giöse Leben beigelegt wurde.
Alle diese Götter sind nun aber dem Römer, wie dem
Italiker überhaupt, weit weniger Gegenstand der religiösen
Anschauung und der künstlerischen Behandlung, als des Kultus.
Die durchaus praktische Richtung und Begabung dieser Stämme
macht sich auch hier geltend. Die fromme Phantasie hat die
Götter zwar geschaffen, aber sie verweilt nicht in freier Be-
trachtung bei ihrem Bilde, um sich ihr Wesen und ihre Ge-
stalt, ihi* Leben und ihre Zustände auszumalen; sondern wie
hier alles mit verständiger Berechnung auf bestimmte prak-
tische Zwecke bezogen wird, so wirkt auch der Gedanke an
die Götter ganz überwiegend und fast ausschliesslich nach
bei den Römern. 97
dieser Seite hin. Die altrömische Religion hat keine Mytho-
logie hervorgebracht, welche der giiechischen irgend zu ver-
gleichen wäre, sie blieb daher auch freier von jenen unwürdigen
Erzählungen über die Götter, die uns in jener zum Anstoss
gereichen; der römische Kultus entbehite Jahrhunderte lang,
wie der unserer germanischen Vorfahren, der Bilder, er war
erast und keusch und ohne die sinnlich aufregenden Elemente,
die wir in anderen Naturreligionen finden; dafür war aber
diese Religion auch unfähig, zu einer Kunst, wie die helle-
nische, den Anstoss zu geben, alle menschlichen Ideale in den
Göttern verköipert und lebendig zur Darstellung zu bringen.
Die religiöse Grundstimmung des Römers ist jene Scheu vor
unbekannten Mächten, auf welche auch das Wort religio zu-
nächst hinweist; jenes Gefühl der Gebundenheit, welches von
dem Glauben an übel-natürliche Einflüsse, denen der Mensch
immerwährend ausgesetzt sei, an zauberhafte Wirkungen, die
allen möglichen Dingen und Handlungen anhaften, unzertrenn-
lich ist. Sofern die Götter als sittliche Mächte gefasst wer-
den, entspringt aus diesem Gefühl die Ehrfurcht vor dem
Sittengesetz, die Scheu vor dem Unrecht, die strenge Gewissen-
haftigkeit, welche in den besseren Zeiten des Staates als ein
Grundzug des römischen Wesens hervoitritt ; zugleich aber
allerdings auch die innere Unfreiheit, die übermässige Ver-
ebining des Herkommens und der Ueberlieferung, welche wir
mit jenen Eigenschaften als ihre Rückseite verknüpft finden.
Sofern es anderei-seits überaatürliche , nicht nach klaren und
festen Gesetzen, sondeni in unveratandener und geheimniss-
voller Weise wirkende Mächte sind, auf die hier alle Erschei-
nungen der Natur und alle Geschicke der Ttfenschen zuiück-
geführt werden, erhält die römische Religion den Charakter
des Magischen, in die Scheu vor den Göttern mischt sich das
unheimliche Gefühl der Furcht und des Grauens. Man findet
sich unausgesetzt und auf allen Seiten von unsichtbaren Wesen
umgeben, in jeder Beziehung von ihnen abhängig ; man kommt
bei jedem Schritt mit ihnen in Berührung; man bedarf ihres
Beistandes zu allem, im kleinen,, wie im grossen, man muss
Zell er» Vortr&ge und Abhandl. 7
98 Religion und Philosophie
bei jedem Wort und jeder Handlung ängstlich Bedacht nehmen,
dass man sie nicht verletze, nicht durch irgend einen Verstoss
Unheil herbeiziehe. Dieses ganze Verhältniss ist aber ein
durchaus inationales. Es wird nicht blos im allgemeinen, wie
in jeder Religion, angenommen, dass der Verehi-er der Götter
sich ihres Segens zu erfieuen, der Verächter derselben ihi-e
Strafe zu fürchten habe; sondern es werden von einzelnen
äusseren Handlungen und Worten* wohlthätige oder nachtheilige
Wirkungen erwai-tet, welche nicht in der Natur dieser Hand-
lungen, sondern in einer erträumten Bedeutung dei-selben be-
giUndet sind : der Eindmck, den ein Gegenstand oder ein Vor-
gang auf die Phantasie macht, wird mit seiner realen Wir-
kung verwechselt, das, woran etwas erinnert, in einen realen
Zusammenhang damit gesetzt Auf diesem Wege entstand in
der römischen, wie in den übrigen alten Religionen jener viel-
gestaltige Aberglaube an Vorbedeutungen jeder Ai-t, an die
zauberische Wirkung von Gebetsformeln, Cärimonien und Be-
schwörungen, an die Unentbehrlichkeit von hundert Uebungen,
Enthaltungen und Gebräuchen, welche uns fi-eilich auf unserem
Standpunkt fast kindisch ei-scheinen. Die Masse dieses Aber-
glaubens wuchs hier gerade desshalb in's endlose, weil es den
Römern mit ihrer Religion heiliger Erast war, während sie
andererseits noch nicht gelernt hatten, den wahren Gottes-
dienst in das Innere des Menschen zu verlegen und den reli-
giösen Werth des äusseren Thuns nur an seiner Wirkung auf
Gemüth und Willen zu messen. Es gibt hier nichts, was nicht
durch besondere Handlungen und Fonneln geheiligt, wofbr
nicht durch eigene gottesdienstliche Akte der Segen der Götter
erworben, Unheil find Missgeschick abgewendet werden mtlsste;
und wenn wir bedenken, mit wie vielen derartigen Pflichten
das öffentliche, wie das Privatleben des Römei^s belastet, wie
vollständig es in allen seinen Theilen und Bewegungen durch
die Religion gebunden und beherrscht war, können wir zweifel-
haft werden, ob wir mehr dem Lobe beistimmen sollen, wel-
ches die römischen Schriftsteller der Frömmigkeit ihrer Vor-
bei den Römern. 99
fahi-en spenden, oder dem Tadel, den ihre christlichen Gegner
über den Aberglauben dei-selben ausgiessen.
So mannigfaltig aber diese religiösen Uebungen und Ge-
bräuche waren, so wenig war in denselben dem Belieben der
Einzelnen überlassen ; sondern alles war bis aufs kleinste durch
das Herkommen geregelt und bestimmt. Jener im römischen
Wesen so tief wurzelnde Sinn für strenge Ordnung, für unver-
biHchliche Satzungen, für feststehende äussere Foiinen, jener
Geist, der die eiserne Disciplin der römischen Heere, den ge-
messenen Gang des römischen Staatswesens, das bewunderungs-
würdige Gebäude des römischen Rechts geschaffen hat, ver-
läugnet sich auch in der Religion nicht. Das Verhältniss des
Menschen zur Gottheit wird hier durchaus als ein positives
Rechtsverhältniss aufgefasst, in dem alles darauf ankommt,
dass die Kultushandlungen genau in der vorgeschriebenen Form
voUbi-acht werden. Genügt der Mensch allen den Ansprüchen,
welche das sacrale Recht an ihn stellt, so kann sich auch der
Gott seiner Gegenleistung nicht entziehen; aber jeder kleinste
Verstoss, den er sich zu Schulden kommen lässt, jede zufällige
Stöning, jede noch so unfreiwillige Unterlassung kann be-
wirken, dass der ganze Akt nichtig ist, oder zum Unheil aus-
schlägt; für jede Thätigkeit und jedes Verhältniss sind eigen-
thümliche Gebräuche vorgeschrieben , für jeden neuen Schritt,
den man macht, muss man sich aufs neue durch Gebete,
Opfer, Beschwönmgen , durch Befragung des Vögelflugs und
der Eingeweide, überhaupt durch alle möglichen Mittel des
göttlichen Beistandes versichern; und wie das römische Recht
an Cautelen jeder Ai-t überreich ist, so ist der römische Kul-
tus nicht minder reich an Foraieln und Wendungen , durch
welche den Nachtheilen vorgebeugt werden soll, die aus jedem
beliebigen, wenn auch noch so unbedeutenden Formfehler her-
vorgehen konnten. Je lästiger aber dieses weitläufige Formel-
wesen im praktischen Leben oft werden musste, je grössere
Uebelstände es namentlich für den Staat und die Kiiegführung
mit sich brachte, um so natürlicher war es, dass man sich
nach Mitteln umsah, die Fesseln des sacralen Herkommens zu
100 Religion und Philosophie
lockern; und da man nun doch nicht offen mit. demselben zu
brechen wagte, so wurde man unvermeidlich dazu geführt,
durch allerlei künstliche Deutungen und Ausreden, nicht selten
durch die handgi-eiflichsten Erdichtungen und Kniffe, von den
Satzungen, die man der Sache nach übertrat, wenigstens den
Schein und den Namen zu retten — wie ja dieser Pharisäis-
mus nie ausbleibt, wenn man einmal angefangen hat, die Re-
ligion statt eines Innerlichen und Geistigen als ein System
äusserer Formen und gesetzlicher Leistungen zu behandeln.
Dieser Charakter des Kultus wirkte nun bei den Römern
in eigenthümlicher Weise auf die Theologie zurück. Die Götter
des Polytheismus sind überhaupt dadurch entstanden, dass
man die verschiedenen Theile der Welt, die Erscheinungen der
Natur, die menschlichen Thätigkeiten , Zustände und Lebens-
verhältnisse nicht als ungetrenntes Ganzes auf Eine und die-
selbe unendliche Ursache zurückführte, sondern jede besondere
Klasse von Gegenständen, Vorgängen und Handlungen einer
besonderen Gottheit zur Leitung und üebei-wachung übei*trug.
Je weiter man daher bei der religiösen Betrachtung der Dinge
in der Unterscheidung und Spaltung des Einzelnen gieng, um
so gi'össer war auch die Anzahl der Götterwesen, auf die man
geführt wurde; und wenn man diese Spaltung so weit trieb,
wie diess im römischen Kultus geschah, so war für dieselbe
kaum noch eine Grenze zu finden. Indem hier alles einzelste
durch besondere gottesdienstliche Akte geweiht und der gött-
lichen Fürsorge empfohlen wurde, ergab es sich von selbst, dasA
auch für jedes, ob noch so beschränkte Gebiet, für jedes
kleinste Bedüifniss, jede untergeordnete Thätigkeit besondere
Schutzgottheiten aufgestellt wurden, dass den gi'ossen Volks-
und Staatsgötteni eine unzählbare Menge geringerer Gott-
heiten zur Seite trat. Diese Neigung zur Vervielfältigung der
Götter zeigt sich schon in der Sitte, den Hauptgottheiten eine
ganze Reihe stehender Beinamen zu geben, von denen jeder
eine bestimmte Seite ihres Wesens ausdrückte und nur in be-
stimmten Fällen bei ihrer Anrufung gebraucht wui-de. Aber
nicht wenige dieser Eigenschaftsbezeichnungen vei*dichteten
bei den Eömem. 101
sich nachher zu besonderen Gottheiten, welche sich von der
ui-sprünglichen Stammgottheit abtrennten, und sehr viele andere
wurden ganz einfach dadurch gewonnen, dass man aus dem
Namen einer Sache oder einer Thätigkeit eine Personalbezeich-
nung bildete und diese als die Gottheit derselben anrief;
und dabei tritt die prosaische Nüchternheit des römischen
Wesens sehr charakteristisch darin hervor, dass es grossen-
theils ganz abstrakte Begriffe sind, die so zu Gottheiten ge-
macht werden. So gab es z. B. neben Janus, dem Be-
schützer alles Aus- und Eingangs, noch den Forculus, wel-
cher die Hausthüren, den Limentinus, welcher die Schwel-
len, die Cardea, welche die Thürangeln unter ihrer Obhut
hatte. Der Vagitanus hatte das Schreien der neugeborenen
Kinder zu überwachen, der Levana wurden sie empfohlen,
damit sie der Vater von der Erde aufuehme und dadurch an-
erkenne, die Cunina war Schutzgöttin der Wiege, der ßu-
mina lag die Eniähning des Säuglings ob, der Nundina war
der neunte Tag heilig, an welchem die Knaben ihren Namen
erhielten, Carna beschützte die Kinder des Nachts vor den
blutsaugenden Hexen, Educa und Potina gewöhnten sie an
Speise und Trank, die Cuba legte sie von der Wiege in's
Bett. Die Ossipaga sorgte dafür, dass die Knochen des
Kindes fest werden, dem Statanus wurde geopfert, wenn es
^um erstenmal stand, dem Fabulinus. wenn es die ersten
Worte sprach; des Gehens nahm sich auch noch die Adeona
und AbeoÄa an, des Sprechens der Farinus und der Lo-
cutius. Die Iterduca fühile den Knaben in die Schule
und die Domiduca wieder nach Hause; die Numeria lehi-te
ihn rechnen, die Camena singen; Strenua förderte die Ent-
wickelung seines Leibes, Catius die seines Verstandes; auch
jede sonstige geistige Eigenschaft hatte ihren besonderen Schutz-
gott. Aehnlich verhält es sich aber auch im weiteren: mit
jedem neuen Schritt auf seinem Lebensweg erhielt der Römer
eine neue Schaar von Göttern zum Geleite, und was irgend
von einiger Wichtigkeit für ihn zu sein schien, das wui'de nicht
allein den grossen Göttern durch besondere Gebete und Kultus-
102 Beligion und Philosophie
handlungen empfohlen, sondeni es wurden auch eigene Grott-
heiten dafür geschaffen. So einfach die ui-sprünglichen Grund-
lagen der römischen Theologie waren, so mannigfaltig und fast
unübei-sehbar waren die Göttergestalten, welche noch auf alt-
römischem Boden aus denselben hervorwuchsen.
Sehr fi-ühe drangen aber auch fi-emde Elemente in die
römische Religion ein: theils von Norden her, aus Etmrien,
theils von Süden und Osten, aus den Griechenstädten Unter-
italiens und Siciliens; später auch aus dem eigentlichen Grie-
chenland und aus Kleinasien. Von den Etniskern nun schei-
nen die Römer keine neuen Gottheiten von einiger Bedeutung
erhalten zu haben; sondern was sie von ihnen annahmen, das
waren Kultusgebräuche, Anweisungen zur Zeichendeutung, zur
Stihnung von Blitzen und ähnlicher Aberglaube; weiter aber
auch die religiöse Kunst, welche ihnen in der älteren Zeit so
ausschliesslich von dieser Seite her zukam, dass sie ihi'e ersten
Tempel, Götterbilder und Schauspiele durchaus ihren etaiis-
kischen Nachbarn zu verdanken hatten. Der griechische Ein-
fluss dagegen zeigte sich von Anfang an nicht blos dui'ch die
Einführung neuer Kultusfonnen, sondern auch neuer Götter
und Göttersagen. So bürgerte sich noch unter den Königen,
bald nach dem Anfang des sechsten vorchristlichen Jahrhun-
derts, Apollo, zunächst als sühnende und weissagende Gott^
heit, in Rom ein ; und mit ihm die griechischen Orakelsprüche
der Sibylle, welche für das römische Staatsleben Jahrhunderte
lang eine so gi'osse Wichtigkeit erhalten sollten. Im Jahr
496 v.Chr. wurden Demeter, Persephone und Dionysos
unter lateinischen Namen nach Rom verpflanzt. Ein Jahrhun-
dert später begegnet uns die erste Spur von der Verehrung
des Herkules, auf den nun auch manche ältere italische
Sagen und Göttergestalten tibertragen wurden. Im Jahr 291
V. Chr. wurde aus Anlass einer Pest der Heilgott Asklepios,
oder wie ihn die Römer nannten Aesculapius, aus Epi-
dauros, im Jahr 205 , als der letzte Entscheidungskampf mit
Hannibal bevorstand, die grosse Göttermutter vom Ida aus
Pessinus in Phiygien nach Rom geholt und unter die Staats-
bei den Römern. 103
götter aufgenommen; zwölf Jahre vorher, nach der Niederlage
am Trasimenersee , war der eiycinischen Venus, in welcher
der punische Kult der Astarte mit dem giiechischen der
Aphrodite sich vermischt hatte, ein Tempel gestiftet worden.
Diese fremden Kulte konnten in Rom um so schneller ein-
heimisch werden, je grösser in den letzten Jahrhunderten der
Republik die Zahl der Ausländer war, welche sich in den ver-
schiedensten Lebensstellungen hier aufhielten; mit ihnen zog
aber bald auch eine Menge solcher Götter und Gottesdienste
dort ein, welche von Seiten des Staats nicht anerkannt und
in den öffentlichen Kultus nicht aufgenommen waren, welche
aber niclitsdestoweniger bei einem grossen Theil der Bevölke-
rang lebhaften Anklang fanden. Wie gefährlich jedoch diese
Winkelgottesdienste nicht allein für die Reinheit der bestehen-
den Religion, sondern auch für die öffentliche Sittlichkeit wer-
den konnten, diess zeigte sich bei der Untersuchung, zu wel-
cher im Jahr 186 v. Chr. die dionysischen Mysterien
Anlass gaben. Diese Mysterien hatten sich von den gross -
griechischen Städten aus in das mittlere und obere Italien
verbreitet, und auch in Rom zahlreiche Anhänger gewonnen.
Bald war aber durch eingewanderte Priester und Priesterinnen
grober Unfug darin eingerissen, und schliesslich waren sie, wie
versichert wird, zu einer Pflanzschule der scheuslichsten Aus-
schweifungen und Verbrechen entartet. Als die Sache zur
Kenntniss des Senats kam, wurde mit der äussersten Strenge
eingeschritten, es wurde aber ebendadurch auch ein ungeahnter
Umfang des Verderbens an's Licht gebracht. Die bacchischen
Geheimdienste hatten das Netz ihrer Vereine über ganz Italien
ausgedehnt; in Rom allein sollen dieselben über 7000 Mitglie-
der, mehr noch Frauen, als Männer, gehabt haben. Viele
Hunderte wurden hingerichtet, die minder Schuldigen ein-
gekerkert, die dionysischen Vereine in ganz Italien aufs
strengste verboten, ihre Kapellen zerstört; aber so lange Rom
in seinem Weltreich dieses bunte Gemenge von Religionen
vereinigte, liess sich auch dem Eindringen fremder Kulte in
die Hauptstadt kein haltbarer Damm entgegenstellen, und je
104 Religion und Philosophie
weiter die römischen Waffen in den Orient vordrangen, um so
unaufhaltsamer strömten die phantastischen Religionsanschau-
ungen, die wilden Naturkulte der asiatischen Länder zu den
Völkern des Westens. Es ist bekannt, welche Masse des
Aberglaubens, welche zügellose Religionsmengerei hieraus her-
vorgieng, wie am Ende die nationalen Elemente der römischen
Religion von den fremden vollständig überwuchert wurden.
Doch begann diese Einwanderung orientalischer Kulte erat
gegen das Ende der Republik, und ihr Uebergewicht ei*st mit
dem dritten Jahrhundert der KaiserheiTSchaft. Der Einfluss
der griechischen Religion dagegen reicht, wie bemerkt, bis
über den Anfang der Republik hinauf, und war während der
ganzen Dauer derselben fortwährend im Steigen. Nichtsdesto-
weniger würde er dem altrömischen Glauben ohne Zweifel
nicht sehr gefährlich geworden sein, wenn man es hiebei nur
mit der griechischen Religion als solcher zu thun gehabt hätte,
und er machte auch wirklich, so lange diess der Fall war, nur
langsame Foitschritte. Dagegen wurde er sofort unwidersteh-
lich, seit die eigentliche Blüthe des griechischen Geisteslebens,
die hellenische Kunst und Literatur, in den Gesichtskreis der
Römer eintrat.
Der einen wie der anderen waren diese viele Jahrhunderte
lang fremd geblieben. Erst nach der Mitte des dritten vor-
christlichen Jahrhunderts, nach Beendigung des ersten puni-
sehen Krieges, begegnen uns in Rom die ersten Spuren von
Bekanntschaft mit griechischen Dichter- und Geschichtswerken,
und die ersten Versuche, sie nachzubilden; und ei*st mit dem
Ende jenes Jahrhunderts , mit der Ueberwindung Hannibal's,
der Eroberung Grossgriechenlands und SiciUens , den Kriegen
gegen Macedonien, beginnt jene durchschlagende Kultur-
bewegung, durch welche in einem verhältnissmässig kui*zen
Zeitraum das ganze geistige Aussehen der römischen Nation
verändert, die Wissens- und Kunstschätze Griechenlands in
die Weltstadt an der Tiber verpflanzt, der römische Westen
von der hellenischen Bildung erobert wurde. Von dieser
grossen geistigen Umwälzung musste auch die Religion aufs
bei den Römern. 105
tiefste beiühili werden. So lange nur einzelne ausländische
Götterdienste unter die einheimischen aufgenommen worden
waren, hatten die überlieferten Religionsanschauungen im gan-
zen keine grosse Veränderung erlitten. Anders verhielt es
sich, wenn in wenigen Menschenaltern eine ganz neue Bil-
dungsfoim eindrang, wenn man mit dem gi'össten, was ein so
hochbegabtes Volk, wie die Griechen, in vielen Jahrhundei-ten
hervorgebracht hatte, auf einmal bekannt wurde, wenn man
einer überlegenen Kultur gegenüberstand, der man entfenit
nichts ebenbürtiges zur Seite zu stellen hatte, von der man
durchaus nur aufnehmen und lernen konnte. In der Kunst
und Literatur blieben die Römer fast durchaus auf Aneignung
und Nachbildung der griechischen Muster beschränkt. Eben-
damit mussten sie sich aber auch die religiösen Vorstellungen
der Griechen im weitesten Umfang aneignen. Die Dichter, die
man bewunderte und nachahmte, standen auf dem Boden des
giiechischen Götterglaubens; die Kunstwerke, mit denen man
seine Tempel, seine Paläste, seine öffentlichen Plätze und Ge-
bäude schmückte, stellten die griechischen Ideale, und in erster
Linie die griechischen Götterideale dar. Man konnte nicht
griechisch sprechen, ohne die lateinischen Götternamen mit
griechischen zu vei*tauschen, die altrömischen Landesgottheiten
mit den Göttern Homer's zu veiinischen. Man konnte die
griechische Poesie nicht auf römischen Boden verpflanzen, ohne
dass man die griechische Mythologie mit herübemahm. Man
konnte sich die Götter nicht in der Gestalt vergegenwärtigen,
in welcher sie Phidias und Praxiteles ihren Landsleuten dar-
gestellt hatten, ohne dass sich der altrömischen Voi-stellung
von diesen Wesen unwillkürlich die hellenische untei-schob.
So geschah es, dass die römische Religion in Rom selbst im-
mer mehr in's giiechische umgedeutet wurde. Schon zu
Cicero's Zeit war es dahin gekommen, dass viele von den ein-
heimischen Gottheiten in Vergessenheit gerathen und vernach-
lässigt, viele gottesdienstliche Gebräuche unvei-ständlich ge-
worden waren; und Cicero's Zeitgenosse VaiTO spricht geradezu
die Besorgniss aus, das Volk möchte durch seine eigene Gleich-
106 Eeligion und Philosophie
gültigkeit um seine Götter kommen. Um dieser Gefahr zu
begegnen, stellte er selbst mit den übrigen römischen Alter-
thümern auch über die Religionsalteithümer jene gelehrten
Nachforschungen an, deren Ertrag er in seinen Antiquitäten
niederlegte. Aber so unschätzbar dieses Werk auch für die
gelehrte Kenntniss der römischen Religion war, und selbst in
seinen Trümmern heute noch ist, so wenig konnten doch die
Bemühungen der Alterthumsforscher einer Umgestaltung der
Religion Einhalt thun, welche durch den Bildungsgang und
die allgemeinen Verhältnisse jenes Zeitalters unvermeidlich ge-
worden war.
Mit der griechischen Kunst und Poesie war aber auch
noch ein zweites Erzeugniss des giiechischen Geistes in Rom
eingewandert : die Philosophie, und gerade die Religion war
eines von den Gebieteu, auf welchen dieses neue Bildungs-
element seinen Einfluss am stärksten geltend machen musste.
Für die rein wissenschaftlichen Untei-suchungen hatten die
Römer im allgemeinen wenig Sinn : was sie von der Philosophie
verlangten, das war Bildung des Charaktei*s, Belehrung über
die sittlichen Aufjgaben des Menschen, über die Güter, durch
deren Besitz seine Glückseligkeit bedingt ist, und über die
Mittel, um sie zu erlangen. So aufgefasst berührte sich nun
die Philosophie aufs unmittelbarste mit der Religion; und es
liess sich die Frage gar nicht umgehen, wie sich beide zu ein-
ander verhalten, ob und wie weit sie in ihren Zielen und in
ihren Wegen auseinandergehen oder übereinstinunen. Die
gleiche Richtung hatte aber die Philosophie auch schon vor
ihrem Uebergang zu den Römern in den griechischen Schulen
selbst genommen. Schon hier hatte sie sich seit dem Anfang
des dritten vorchristlichen Jahrhunderts mit steigender Vorliebe
den praktischen Fragen zugewendet, die rein theoretische
Foi-schung dagegen zuiilckgestellt ; und noch viel früher, schon
seit Sokrates und Plato, war sie in jene durchgi-eifende Be-
ziehung zur Religion getreten, welche sich von da an immer
stärker entwickelt hat. Zugleich hatte sich aber auch deut-
lich herausgestellt, wie wenig sich diese wissenschaftliche
bei den Römern. 107
Weltbeti-achtung mit den religiösen Voi-stellungen des Volks
und der Dichter in Einklang bringen liess. Die Religion führte
alles auf das freie persönliche Wirken der Götter zurück; die
Philosophie gieng darauf aus, es aus seinen natürlichen Ur-
sachen nach festen Gesetzen zu erklären, an die Stelle der
Götter setzte sie Naturdinge und Naturkräfte. Die Volks-
religion konnte weder auf die Vielheit der Götter, noch auf
ihre Menschenähnlichkeit verzichten; die Philosophie wusste
sich umgekehi-t der Ueberzeugung immer weniger zu ver-
schliessen, dass alles von Einer letzten Ui'sache heiTühre, dass
es nur Einen höchsten Gott gebe, der über menschliche Ge-
stalt und menschliche Schwächen hoch erhaben sei. Die Re-
ligion musste als positive den gottesdienstlichen Verrichtungen,
den Opfern, den Gebeten, den mancherlei Mitteln zur Er-
forschung des göttlichen Willens den höchsten Werth beilegen ;
die Philosophie hatte es schon durch Plato's Mund ausgespro-
chen, dass alle diese Dinge bedeutungslos seien, dass die
Glückseligkeit des Menschen und das Wohlgefallen der Gott-
heit einzig und allein von seinem sittlichen Verhalten abhänge.
Die Philosophen waren allerdings über alle diese Punkte unter
sich selbst keineswegs einig, und sie nahmen auch zur Volks-
religion eine sehr verschiedene Stellung ein; aber so nahe
stand ihr doch keiner, dass er sie ohne Verläugnung seiner
Grundsätze oder ohne durchgreifende Umdeutung ihrer Lehren
auch nur in der Hauptsache sich anzueignen vermocht hätte.*)
Auch in Rom musste dieser Sachverhalt zum Voi-schein kom-
men, sobald die Religion mit der Philosophie in nähere Be-
rührung trat. Diess geschah nun in gi-össerem Umfang etwa
seit der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhundei*ts ; erst
seit diesem Zeitpunkt konnte sich daher auch das Verhältniss
der Philosophie zur Religion hier bestimmter entwickeln. Als
ein Vorspiel seiner späteren Gestaltung sind aber zwei merk-
würdige literarische Erscheinungen aus der ei-sten Hälfte jenes
*) Näheres hierüber in der ersten Sammlung S. 9 £f.
108 Beligion mid Philosophie
Jahrhunderts zu betrachten: der Euemerus des Ennius
und die angeblichen Bücher des Königs Numa.
Durch die erste von diesen Schriften wurde ein Produkt
der seichtesten Aufkläioing aus Griechenland nach Rom ver-
pflanzt: sie war die lateinische Bearbeitung eines Werkes,
worin hundert Jahre früher ein Grieche, Namens Euemerus,
ausgeführt hatte, dass die Götter des Volkes nichts anderes
seien als Menschen, die man in der Folge göttlich verehrt
habe, und die mythische Geschichte dieser Götter nichts an-
deres als die Geschichte eines alten Regentenhauses. Es ist
eine Auffassung der Mythologie, die uns heute noch durch
ihre Abgeschmacktheit zuillckstösst. Aber eben diese Auf-
fassung nahm ein Mann unter seinen Schutz, welcher von seinen
Landsleuten und von sich selbst der römische Homer genannt
wurde, und welcher fast zweihundert Jahre lang der beliebteste
und einflussreichste unter den römischen Dichtern gewesen ist
Es war von übler Vorbedeutung für die Zukunft, wenn den
Römern als erste Probe der griechischen Mythendeutung eine
so geistlose Verwässemng des Götterglaubens von einer so an-
gesehenen Hand geboten wurde.
Wie nun hier der Versuch gemacht war, diesen Glauben
nach giiechischem Vorgang in's natürliche umzudeuten, so wui^de
um die gleiche Zeit in den Bücheni des Numa der Versuch
gemacht, griechische Philosopheme in denselben hineinzudeuten.
Diese Bücher sollten sich in einem steinenien Sarge gefunden
haben, welcher 181 v. Ohr, angeblich auf einem Gute in der
Nähe von Rom ausgegraben worden war. Indessen liegt am
Tage, dass sie das Werk einer Fälschung waren, und aus den
Angaben der alten Schriftsteller über ihren Inhalt* geht her-
vor, dass es sich bei dieser Fälschung darum handelte, die
Gründe der gottesdienstlichen Gebräuche und die Bedeutung
der Göttersagen in gewissen philosophischen Ideen aufzuzeigen,
welche dem König Numa angeblich von Pythagoras (der freilich
andei-thalbhundert Jahre jünger als er war) zugekommen sein
sollten. Dieses Beginnen ei-schien jedoch dem Senat so ge-
fährlich, dass er die Bücher, deren Aechtheit übrigens nicht
bei den Kömern. 109
bezweifelt worden zu sein scheint, sofort verbrennen liess.
Blieben sie aber auch in Folge dieser Massregel ohne Einfluss,
so sieht man doch aus diesem Vorfall, wie keck bereits Ein-
zelne ihre Philosophie dem Volksglauben unterschoben, wie
erastlich man aber auch damals noch von Staatswegen der-
artigen Neuerungen entgegenzutreten gemeint war.
Mit demselben Misstrauen wurde die griechische Philo-
sophie überhaupt anfangs zu Rom behandelt. Zwanzig Jahre
nach dem oben erzählten Vorfall, 161 v. Chr., fand sich der
Senat veranlasst, den „Philosophen und Rhetoren" den Aufent-
halt in Rom zu verbieten, und einige Zeit vor- oder nachher
(173 oder 155 v. Chr.) wurden zwei Epikureer wegen ihres
Übeln Einflusses auf die Jugend aus dieser Stadt ausgewiesen.
Wie wenig diese neumodischen Studien den Römein von altem
Schlag nach ihrem Sinn waren, sehen wir namentlich an den
Urtheilen des alten Cato über dieselben. Als im J. 156 die
drei beiilhmtesten Philosophen jener Zeit gleichzeitig als Ge-
sandte nach Rom kamen und vielbesuchte Vorträge hielten,
da muiTte der Alte von Anfang an über diese neuen Lieb-
habereien, welche den jungen Leuten den Geschmack an Krieg
und Staatsgeschäften verderben werden. Nachdem er vollends
über den Inhalt ihrer Vorträge näheres gehört hatte, machte
er den Behörden herbe Vorwürfe, dass sie da Leute in der
Stadt dulden, welche die Kunst besitzen, ihren Zuhörern alles
beliebige einzureden, und er drang darauf, dass man sie mög-
lichst schnell bescheide und heimschicke. Es war diess ohne
Zweifel der Standpunkt, welchen die Zeitgenossen Cato's ihrer
gi'ossen Mehrzahl nach der Philosophie gegenüber einnahmen,
und auch später hat es ihm in Rom nie an Vertretern ge-
fehlt; wie z. B. noch der bekannte Geschichtschreiber Cor-
nelius Nepos an Cicero schreibt: man solle nur nicht
glauben, dass bei den Philosophen Lebensweisheit zu holen sei;
man sehe ja, wie viele von ihnen , trotz aller schönen Worte
über die Tugend, sich doch allen Lastern ergeben. Nichts-
destoweniger drang die Philosophie von Griechenland her im-
mer unaufhaltsamer in Rom ein, und schon in der nächsten
110 Religion und Philosophie
Zeit nach Cato's Tod, bald nach der Mitte des zweiten Jahr-
hunderts, stand ihr Erfolg ausser Frage. Der Sinn für die
griechische Sprache und Bildung war schon zu lebhaft erwacht
und wurde durch die mannigfaltigen Beziehungen, in weldie
der römische Staat seit den macedonischen und syrischen
Kriegen zu den östlichen Ländern getreten war, durch die zu-
nehmende EinwandeiTing griechischer Künstler, Gelehrten und
Sklaven, durch die Bildungsreisen nach GriechenlaiJd , welche
mehr und mehr in Aufnahme kamen, durch die Anziehungs-
kraft der giiechischen Kunst und Literatur zu wirksam ge-
nährt, als dass nicht mit den übrigen Schöpfungen des helle-
nischen Geistes auch die hellenische Wissenschaft Eingang
hätte finden sollen. Schon um den Anfang des zweiten Jahr-
hunderts hatten mehrere von den angesehensten und bedeu-
tendsten Männern, wie der ältere Scipio Africanus und
der Besieger des macedonischen Philipp, T. Quinctius Fla-
min i n u s , die Bestrebungen, welche ein Cato als Neuerungen
verdammte, unter ihren Schutz genommen; der zweite Besi^er
Macedoniens, Aemilius Paulus, und Cornelia, die Mutter
der Gracchen, gaben ihren Söhnen giiechische Lehrer; und
aus der nächstfolgenden Generation werden uns Grössen ei*sten
Ranges, wie der jüngere Scipio Africanus und sein Bru-
der, wie die beiden Gracchen, wie Lälius der Weise und
L. Für ins Philus, als Freunde, Schüler und Gönner grie-
chischer Philosophen genannt. Welchen günstigen Boden diese
in Rom fanden, zeigte sich schon bei der oben erwähnten
Philosophengesandtschaft des Jahres 156 v. Chr. Die Stadt
Athen war wegen eines Raubzuges, den sie gegen ihre Nach-
bai*stadt Oropus unteniommen hatte, durch einen schiedsrichter-
lichen Spruch der Sicyonier in eine Geldstrafe von 500 Ta-
lenten verfällt worden. Um sie davon loszubitten, schickten
die Athener eine Gesandtschaft nach Rom ; und zu Mitgliedern
derselben wählten sie die Vorsteher der drei angesehensten
Philosophenschulen, den Stoiker Diogenes, den Peripatetiker
Kritolaus und den Akademiker Karneades. Die Ge-
sandten eiTeichten auch wirklich ihren Zweck; zugleich be-
bei den Römern. 111
nutzten sie aber ihren Aufenthalt in der Hauptstadt des römi-
schen Reiches zu öffentlichen Vorträgen, die einen bedeuten-
den Erfolg hatten. Kärneades besonders machte mit seiner
glänzenden Beredsamkeit, seiner kühnen Skepsis und seiner
blendenden Dialektik einen ganz ausserordentlichen Eindruck,
Noch wichtiger war aber die Wirksamkeit des Stoikei*s Pa-
nätius, welcher nicht sehr lange nach dem eben bertihi-ten
Ereigniss nach Rom gekommen zu sein scheint und mehrere
Jahi-e dort gelehrt haben muss. Er ist der eigentliche Be-
gründer des römischen Stoicismus, und ebendamit ein Haupt-
begillnder der gesammten römischen Philosophie; wie gross
sein Ansehen und wie nachhaltig sein Einfluss war, sehen wir
aus der grossen Zahl ausgezeichneter Männer, welche ihtn ihre
philosophische Bildung verdankten. Alle namhaften römischen
Philosophen, bis über den Anfang des ersten Jahrhunderts
V. Chr. herab, sind Schüler des Panätius. Neben dem Stoicis-
mus fasste in jener Zeit auch sein Antipode, der Epikureismus,
in Rom Wurzel, und er übei-flügelte sogar jenen hinsichtlich
der Zahl seiner Anhänger; was er theils der Einfachheit, Fass-
lichkeit und Obei'flächlichkeit seiner Lehren, theils dem Um-
stand zu verdanken hatte, dass sich seine Vertreter von An-
fang an auch in lateinisch geschriebenen Werken an die Masse
des Volkes wandten, während die übrigen Philosophen bis auf
Cicero herab nur in griechischer Sprache, und daher nur für
die höheren und gebildeteren Stände , zu schreiben und zu
lehren pflegten. Auch andere philosophische Systeme blieben
aber den Römeni nicht fremd; und wenn die peripatetische
Schule allerdings mit ihrer gelehrten Thätigkeit und ihren
naturwissenschaftlichen Untei*suchungen bei ihnen wenig An-
klang fand, so fehlte es dagegen weder der Skepsis des Kär-
neades, noch der von Antiochus, dem Zeitgenossen Cicero's,
erneuerten, und mit stoischen Elementen versetzten altakade-
mischen Lehre an Freunden. So hatten sich nach und nach
alle Philosophenschulen jener Zeit in Rom angesiedelt, und
ein Cicero konnte den Versuch machen, durch die kritische
Prüfung und die eklektische Verknüpfung ihrer Lehren eine
112 Religion and Philosophie
lateinische Philosophie zu schaffen, die aber in der Wirklich-
keit freilich bei ihm so wenig, als bei einem seiner Nachfolger,
über die Nachbildung der giiechischen Muster und die Ver-
arbeitung der von ihnen entlehnten Gedanken hinauskam.
Auch ihre Stellung zur Religion war der römischen Phi-
losophie im allgemeinen durch ihre griechischen Lehrer vor-
gezeichnet. Diese selbst aber giengen in ihrer Behandlung
derselben nach drei Richtungen auseinander. Am schrofifeten
und rücksichtslosesten traten ihr die Epikureer entgegen.
Nicht als ob sie das Dasein der Götter geläugnet, oder an der
Vielheit und Menschenähnlichkeit dei-selben Anstoss genommen
hätten. Beides wurde vielmehr von Epikur ausdrücklich
behauptet : nicht allein weil ihm die Allgemeinheit des Götter-
glaubens ein Beweis seiner Wahrheit zu sein schien, sondern
auch weil es ihm selbst Bedürfniss war, sein Ideal der Glück-
seligkeit in den Göttern verwirklicht anzuschauen und zu ver-
ehren. Diese seligen Wesen wusste er sich nämlich nur menschen-
ähnlich zu denken , und wenn er ihnen statt unserer groben
Körper Lichtleiber zuschrieb , so glaubte er ihnen doch im
übrigen vieles, was wir mit dem Begi-iflf des göttlichen Wesens
nicht zu vereinigen wissen, selbst das Nahrungsbedüifniss, den
Geschlechtsuntei-schied und die Sprache, beilegen zu sollen.
Allein die gleiche Rücksicht auf die Seligkeit der Götter schien
ihm auch zu fordeni, dass sie mit keinerlei Sorge für die Welt
und die Menschen belästigt würden; und noch dringender ist
diese Annahme, wie er glaubt, um der Menschen wiUen ge-
boten: denn nur dann, meint er, haben wir uns vor dwi
Göttern nicht zu fürchten, wenn sie überhaupt nicht in den
Weltlauf eingreifen. Eben diess aber ist es, um was es Epikur
bei seinem Philosophiren vor allem zu thun ist : die Philosophie
soll den Menschen glücklich machen, indem sie ihn von jeder
Leidenschaft, Furcht und Sorge befreit, ihn zur vollkommenen
Gemüthsi-uhe hinfühi-t. Diese Gemüthsruhe hat nun keinen
gefährlicheren Feind , als die Furcht vor den Göttern und vor
dem Tode; und von dieser Furcht werden wir nie frei werden,
so lange wir nicht die Wui-zel dei*selben ausgerottet, den
bei den Römern. 113
Glauben an eine Wirksamkeit der Götter in der Welt und ein
Fortleben nach dem Tode gänzlich beseitigt haben. Wenn
die Götter eine Thätigkeit in der Welt ausübeD, sind wir nie
sicher, ob uns nicht ein Unheil von ihnen droht; und wenn
wir nach dem Tode noch fortdauern, muss uns während un-
seres ganzen Lebens der Gedanke an die Schrecken und
Qualen der Unterwelt verfolgen. Gerade diese zwei Glaubens-
artikel bilden nun eben nach Ep^kur's Ansicht den Hauptinhalt
aller Religion; und so ergab sich für ihn von selbst jene ent-
schiedene Bestreitung der letzteren, der wir bei ihm und seiner
Schule durchweg begegnen. Die ganze Mythologie ihres Vol-
kes gilt diesen Philosophen nicht blos für einen höchst un-
gereimten, sondern auch für einen grundverderblichen Aber-
glauben; solche Götter, sagen sie, seien schlimmer, als gar
keine; diesen Glauben, mit allem, was daran hängte zu zer-
stören, die Furcht vor den Göttern, das Vertrauen auf Opfer
und Gebete , auf Vorbedeutungen und Orakel auszurotten^ ist
ihrer Ueberzeugung nach eine von den wichtigsten Aufgaben
der Philosophie« Ebenso uitheilen sie selbstverständlich auch
über jede andere Ansicht, die in der Annahme einer göttlichen
Weltregierung mit dem Volksglauben übereinkommt; und aus
diesem Gesichtspunkt wird von ihnen namentlich die stoische
Theologie aufs heftigste angegriffen , welche durch ihren fata-
listischen Voi*sehungsglauben die Willensfreiheit, eine von den
Grundlehren des Epikureismus , duixh ihren Pantheismus die
Persönlichkeit und Menschenähulichkeit der Götter aufhob.
Was ihr System von der Religion übrig lässt, ist so düiftig,
und alle übrigen Bestandtheile dei*selben werden von ihnen so
ausschliesslich unter den Begriff des Aberglaubens gestellt,
dass sie der Volksreligion gegenüber durchaus nur als Auf-
klärer erscheinen, die kein weiteres Interesse an ihr nehmen,
als das der Bekämpfung und Zei*störung.
Dass sich der römische Epikureismus hierin so wenig, als
in irgend einem anderen Punkte, von der Lehre seines Stifters
entfernte, sehen wir aus dem Lehrgedicht, in welchem der
geistvolle Lucretius Carus (zwischen 60 und 50 v. Chr.)
Zeller, Vortrj^ und Abhandl. 8
114 Religion und Philosophie
die epikureische Physik dargestellt hat. So oft dieser Dichter
auf die Religion zu sprechen kommt, so geschieht es doch fast
nie, ohne den Dinick, unter dem sie die Menschheit gehalten,
den Bann, den sie über dieselbe ausgeübt habe, mit den stärk-
sten Farben zu schildern, und den Philosophen in den Himmel
zu erheben, der diesen furchtbaren Gegner überwunden, seine
Fesseln gebrochen habe. Statt aller anderen Belege mögen
hier die berühmten Verse des ei-sten Buches (V. 62 ff.) an-
geführt werden:
Als das Menschengeschlecht in tiefer Erniedrigung dalag,
Schmählich zu Boden gedrückt vom lastenden Wahne des Glaubens,
Welcher vom Himmel herab sein Haupt den Sterblichen zeigte,
Dräuend zur Erde gewandt das grauenerregende Antlitz:
Da hat ein griechischer Mann zuerst das sterbliche Auge
Frei zu erheben gewagt und dem Feind entgegenzutreten.
Nicht die Tempel der Götter vermochten den Kühnen zu schrecken.
Nicht der zuckende Blitz noch des Himmels groUende Stimme;
Nur um so muthiger rang er vielmehr, die Pforten zu sprengen.
Welche das Reich der Natur bis dahin Allen verschlossen.
Und er gewann's, mannhaften Gemüths, und wagf es, zu schreiten
Ueber die flammenden Wälle der Welt hinaus in das Weite,
Und durchwandert' im Geist die unermesslichen Räume;
Bringt, ein Sieger, uns Kunde von allem, belehrt uns, was möglich
Sei, und was nicht, und wieweit eines jeglichen Dinges Vermögen
Geht, und wo jedem die Grenze, die unverrückte, gesteckt ist
So liegt uns denn nun der Aberglaube zu Füssen,
Niedergetreten, doch uns erhebt der Sieg in den Himmel.
Diese überschwänglichen Lobspiüche auf Epikur's Ver-
dienste um die Erforschung der Natur machen nun freilich
auf uns einen seltsamen Eindruck, wenn wir uns erinnern,
wie sehr es diesem Philosophen an allem Sinn für eigentliche
Naturfoi^schung fehlte, welche gi'obe Unwissenheit in der Be-
handlung mancher Fragen, über die auch jene Zeit schon Be-
scheid wusste , bei ihm an den Tag tritt , wie leichtfertig er
sich in hundert Fällen bei den schlechtesten Auskünften be-
i-uhigt, wenn sie nur überhaupt die Ei-scheinungen aus natür-
lichen Ui*sachen, ohne Beihülfe der Götter, zu erklären ver^
sprechen. Nur um so deutlicher sieht man aber auch, welchen
Erfolg der leitende Gedanke der epikureischen Physik, der
bei den Römern. 115
Grundsatz einer rein mechanischen Naturerklärung, schon in
dieser seiner Allgemeinheit gehabt hatte. So düiftig auch
Epikur's naturwissenschaftliche Kenntnisse und Leistungen
waren , und so vollständig er fast seine ganze Physik von
Demokrit entlehnt hatte, so entschieden hatte er doch dar-
auf gedrungen, dass alles in der Welt, ohne irgend eine Ein-
mischung göttlicher Mächte, von natürlichen U]*sachen her-
geleitet, dass die Mythologie des Volksglaubens und die
Teleologie der Philosophen gänzlich beseitigt werde ; und diese
rücksichtslose Bestreitung des Religionsglaubens hat ohne
Zweifel nicht wenig dazu beigetragen, dem Epikureismus , in
Rom wie in Griechenland, Anhänger zu werben. War doch
die Ungereimtheit der Göttei-sagen und Göttervorstellungen
von den Philosophen längst nachgewiesen, und jedem leicht
klar zu machen; musste doch gerade solchen, welchen es an
einem tiefei'en Einblick in die Entstehung und die ursprüng-
liche Bedeutung der Mythen fehlte, das Urtheil doppelt ein-
leuchten, in dem Lucrez (I, 101) aus Anlass einer Betrach-
tung über das Opfer der Iphigenia die Ansicht seiner Schule
von der Religion ausspricht: „Solche Gräuel vermochte der
Aberglaube zu zeugen^. Der Epikureismus nahm daher in
seiner Zeit eine ähnliche Stellung ein, wie im vorigen Jahr-
hundert der französische Materialismus, dessen Bedeutung ja
gleichfalls weit weniger in seinen eigenen wissenschaftlichen
Leistungen, als in seinen einschneidenden und leidenschaft-
lichen Angriffen auf veraltete Lebens-, Glaubens- und Bil-
dungsformen zu suchen ist. Wenn die Epikureer nichtsdesto-
weniger dem herkömmlichen Gottesdienst sich nicht entziehen
woUten, so ist diess nur dieselbe Anbequemung an das Be-
stehende, welche sich diese Schule für ihr praktisches Verhalten
überhaupt zur Regel machte; wenn sie sich jedoch bei Ge-
l^enheit auch wohl, im Gegensatz zu den Stoikern, illhmten,
dass sie allein menschenähnliche Götter haben, wie auch das
Volk sie verehre, ja dass sie deren noch viel mehr annehmen,
als jenes, so ist diess zwar nicht völlig aus der Luft gegiiffen,
aber vor dem Vorwurf des Atheismus konnte dieser Umstand
8*
116 Heligion und Philosophie
sie nicht schützen, da dem Volksglauben natürlich mit Göttern,
welche für die Menschen nichts thun und sich nicht um sie
kümmern, schlecht gedient war.
Zu den Epikureein bildeten nun die Stoiker, wie in ihrem
ganzen System, so auch in ihrem Verhalten zur Religion, einen
ausgesprochenen Gegensatz. Ihre eigene Theologie steht zwar
an sich selbst dem Volksglauben kaum näher, als die epiku-
reische, nur dass sie sich nach einer anderen Seite von ihm
entfeiTit. Sind die Epikureer D eisten, so sind die Stoiker
Pantheisten. Jene läugneten alle Einwirkung der Götter
auf die Welt, während sie ihre Vielheit und Menschenähnlich-
keit festhielten; diese umgekehrt setzten die Gottheit mit der
Welt zwar in die engste Beziehimg, sie wollten in allem gött-
liche Wirkungen erkennen, alles auf die göttliche Vorsehung
zurückführen, aus ihrer allmächtigen Kraft, ihren weisen und
wohlthätigen Zwecken ableiten; aber dafür beseitigten sie die
Vielheit, Menschenähnlichkeit und Ueberweltlichkeit der Götter,
und setzten an die Stelle derselben das Eine unendliche We-
sen, das alle Dinge nach unwandelbaren Gesetzen und in un-
abänderlichem Kreislauf aus sich hervorbringt und wieder in
sich zurücknimmt; und wenn sie auch wohl die verschiedenen
Naturkräfte gleichfalls Götter nennen, so denken sie doch hie-
bei nicht an selbständige göttliche Pei-sönlichkeiten, sondern
nur an die einzelnen Erscheinungen und Wirkungen Einer und
dei-selben Urkraft. Auch waren sich die Stoiker dieses ihres
Gegensatzes zum Volksglauben im allgemeinen wohl bewusst:
mehrere ihrer berühmtesten Lehrer sprachen es offen aus,
dass derselbe voll unwürdiger, kindischer Mährchen sei, und
zu diesen Mährchen rechneten sie alle jene Anthropomorphifl-
men, welche für die alten Religionen, und vor allem für die
giiechische , so unentbehrlich waren; ebenso legten sie den
gottesdienstlichen Handlungen als solchen, und überhaupt dem
Aeusserlichen der Religion, keinen selbständigen Werth bei,
weil die wahre Gottesverehmng nur in der Gotteserkenntniss,
der Frömmigkeit und der Tugend bestehe. Aber doch waren
sie weit entfenit, die Volksreligion desshalb als blossen Aber-
bei den Römern. 117
glauben zu behandeln, oder jene verderblichen Wirkungen von
ihr zu fürchten, welche die Epikureer ihr Schuld gaben. Wie
vielmehr ihr eigenes philosophisches System von einer tiefen
und ernsten Frömmigkeit erfüllt ist, so wollen sie die gleiche
Gesinnung auch da achten, wo sie in unwissenschaftlicherer
Oestalt auftritt; sie wollen in dem Glauben und der Gottes-
verehrung des Volkes als ihi^en inneren Keni dieselben Wahr-
heiten anerkennen, die der Philosoph in anderer Foim aus-
gpricht. Aber wie sich manche neuere Philosophen durch
diesen an sich richtigen Grundsatz haben verleiten lassen,
äQes bestehende in der Religion ohne genauere Piüfiing in
Schutz zu nehmen, ihre philosophischen Sätze den überlieferten
Glaubenslehren gewaltsam zu unterschieben und künstlich in
sie hineinzudeuten, den Unterschied der positiven Dogmatik
und der Philosophie kritiklos zu übei*sehen, so machten es
«chon die Stoiker in ihrer grossen Mehrzahl, und so namentlich
die älteren griechischen Meister der Schule. Der Polytheis-
mus wurde durch die Behauptung gerechtfertigt, dass neben
der Einen allerfüllenden Gottheit auch alle die Kräfte und
Erscheinungen als Götter zu verehren seien, in denen sich die-
selbe an die Welt mittheilt und in ihr offenbart; aus den
Mythen des Volksglaubens, aus den oft so anstössigen Erzäh-
lungen der Dichter wurden vermittelst einer zügellosen allego-
rischen Auslegung alle mögliche metaphysische naturwissen-
schaftliche und moralische Wahrheiten herausgelesen; und je
ungereimter eine Ueberlieferung ihrem buchstäblichen Sinne
nach war, je schmählichere und kindischere Dinge darin den
Göttern zugemuthet wurden, um so sicherer konnte man sein,
dass ein Eleanthes und Chrysippus die sublimsten und
tie&innigsten Sätze darin finden würden. In derselben Weise
wussten sie den bestehenden Kultus spekulativ zu rechtfertigen.
So wurde namentlich der Glaube an Vorbedeutungen und
Weissagungen aller Art, welcher für das alte Religions- und
Staatswesen allerdings von hoher Wichtigkeit war, aufs leb-
hafteste von ihnen vertheidigt. Aus der Lehre ihres Systems
über den natürlichen Zusammenhang aller Dinge zogen sie
118 Religion und Philosophie
den übereilten Schluss, dass nicht allein alles, was in irgend
einem Theile der Welt vorgehe, bis aufs kleinste hinaus, in
jedem beliebigen anderen sich vorbereiten und vorher ankün-
digen könne, sondern dass es auch möglich sei, diese Vorzei-
chen als solche zu erkennen und zu deuten; und keine Er-
zählung von eingetroffenen Weissagungen und Träumen war
zu abenteuerlich, um nicht in ihren Sammlungen solcher Ge-
schichten Aufnahme zu finden, kein Aberglaube in Betreff des
Vögelflugs oder der Opferschau war so gi*ob, dass sie ihn nicht,
mit anscheinend ganz wissenschaftlichen Gründen, in Schutz
genommen hätten.
Mit ihren giiechischen Vorgängern sind nun auch die rö-
mischen Stoiker im allgemeinen darüber einvei-standen , dass
die Voi-stellungen des Volks und der Dichter über die Götter
unter der Hülle des ungereimten und der Gottheit unwürdigen
die philosophischen Wahrheiten enthalten, welche schon jene
darin gesucht hatten. Auch ihnen fällt die Eine Gottheit mit
dem Weltganzen, und näher mit der Seele des Weltganzen
zusammen, die vielen Götter dagegen sind nur die Theile dieses
Ganzen, die besonderen Kräfte, die es ei-fÜUen: Jupiter ist,
wie der Dichter Valerius Soranus (um 110 v. Chr.) sagt^
der Vater und die Mutter der Götter, sie alle sind seine
Glieder und werden von seiner Allmacht gezeugt, indem sie
sich in ihre verschiedenen Vemchtungen theilt. Dass auch
die allegorische Erklärung der Mythen den römischen Stoikern
nicht fremd blieb, sehen wir an Cornutus, der unter Nero
in Rom lebte: seine Schiift über die Götter ist für uns eine
Hauptquelle zur Kenntniss der stoischen Mythendeutung, und
alle Gewaltsamkeiten und Willkürlichkeiten derselben finden
bei ihm geneigtes Gehör. Ebenso wird die stoische Theorie
der Weissagung nicht allein in Cicei*o's Schrift über diesen
Gegenstand seinem Binder Quintus in den Mund gel^
sondern auch von Seneca, doch von ihm nicht sehr entschie-
den^ vorgetragen. Im ganzen ei*scheinen aber doch die römi-
schen Stoiker in ihrem Verhältniss zur Volksreligion merklich
freier, als ein Kleanthes und Chrysippus. Jene weitausgespon-
bei den Römern. 119
nenen Mythendeutungen, mit denen diese sich abgemüht hatten^
waren für den praktischen Yei-stand des Römers doch eigent-
lich zu künstlich, zu sehr nur Spitzfindigkeiten der Schule;
ihm mochten sie um so entbehrlicher ei*scheinen, da für die
römische Religion überhaupt, wie schon oben bemerkt wurde,
die Mythen weit geringei*e Bedeutung hatten, als die Eultus-
gebräuche, und da ihre Rechtfertigung auf römischem Stand-
punkt weniger in dem Erweis ihrer dogmatischen Wahrheit,
als ihrer politischen Zweckmässigkeit, zu bestehen hatte. Dazu
kommt, dass dem römischen Stoicismus von Anfang an durch
seinen Hauptbegründer Panätius eine freiere Richtung ein-
gepflanzt war. Dieser ausgezeichnete Mann, vielleicht der
freieste Kopf, welchen die stoische Schule hervorgebracht hat,
trat der Ueberlieferung derselben, wie in anderen Stücken, so
auch in der Theologie, mit selbständigem Uitheil gegenüber,
und so bestritt er namentlich die Möglichkeit der Weissagung,
auf welche die Stoiker sonst so ungemein viel hielten, dass sie
geradezu behaupteten , wenn es Götter gebe , sei es ganz un-
denkbar, dass sie sich nicht den Menschen durch Enthüllung
der Zukunft offenbai*en sollten -— wie wir sehen, ganz der gleiche
Sehluss, der auch in der christlichen Theologie gemacht worden
ist, wenn man behauptete, wer eine übematürliche Offen-
barung der Gottheit läugne, der müsse auch Gott läugnen.
Ein Schüler des Panätius ist nun auch wirklich der erste
Römer, von dem uns eine fi-eie Kritik der Volksreligion auf
stoischer Grundlage bekannt ist. Es ist diess der berühmte
Eechtsgelehrte Quintus Mucius Scävola, ein jüngerer
Zeitgenosse des Eroberers von Karthago, der Schwiegersohn
seines Freundes Lälius, der nach einem ruhmvollen Leben im
Jahr 82 v. Chr. als ein Opfer des marianischen Bürgerkriegs
umkam. Von diesem angesehenen Manne wird berichtet, *) er
habe eine dreifache Götterlehre unterschieden: die der Dich-
ter, der Philosophen und der Staatsmänner (principes civitatis).
Ueber die erste derselben hatte er sich nun sehr ungünstig
*^ Augustin Civ. D. IV, 27 nach Varro.
120 Religion und Philosophie
geäussert : was die Dichter von den Göttern sagen, sei grossen-
theils unwürdig und kindisch ; sie lassen dieselben stehlen und
ehebrechen, sich zanken, sich mit Menschen verheirathen, ihre
Kinder auffressen, zu den niedrigsten Zwecken sich in Thiere
verwandeln; kurz, es sei nichts so abenteuerlich und schänd-
lich, nichts mit dem Begriff der Gottheit so unvereinbar, dass
sie es den Göttern nicht beilegten. Von alle dem hält sich
nun die philosophische Theologie frei ; aber sie taugt, wie Scä-
vola glaubt, nicht zum öffentlichen Gebmuche, sie kann nicht
Staatsreligion werden, denn sie enthält nicht allein solches,,
was für das Volk entbehrlich ist (weil es nämlich über seine
Fassungskraft hinausgeht und mit dem praktischen Zweck der
Religion nichts zu thun hat) , sondern auch solches , das Ge-
fahr brächte, wenn es im Volke bekannt würde. Zu diesen
letzteren Bestandtheilen rechnete Scävola namentlich die Be-
hauptung, dass die Bilder der Götter in den Tempeln dem
wahren Wesen derselben nicht entsprechen, da der Gottheit
in Wahrheit weder ein Geschlecht, noch ein Lebensalter, noch
eine menschenähnliche Gestalt zukomme. Wie er nun hienach
über die dritte Form des Götterglaubens, über die öffentliche
Religion, urtheilte, .wird uns zwar nicht überliefert, aber es
lässt sich aus dem übrigen abnehmen. Denn jene mythologi-
schen Elemente, die er bei den Dichtem so abgeschmackt und
verkehi-t findet, waren auch der altrömischen Volks - und Staats-
religion keineswegs fremd . und mit der Menschenähnlichkeit
der Götter hatte er einen von den Grundpfeilern derselben
aufgegeben. Er konnte daher in der öffentlichen Religion
unmöglich etwas anderes sehen, als eine auf die Fassungskraft
der grossen Masse berechnete, ebendesshalb aber von dem
wahren Gottesbegriff weit abliegende und mit groben Irrthfl-
mern versetzte Form des Glaubens, der in reinerer Gestalt
nur bei den Philosophen zu finden sein sollte; und der mass-
gebende Gesichtspunkt bei der Bildung derselben , die er ja
ausdrücklich von den Staatsmännern herleitet, war seiner Mei-
nung nach ohne Zweifel der des öffentlichen Nutzens, denn
ebendesshalb fand er die philosophische Theologie zur Staats-
bei den Bömem. 121
religion nicht geeignet, weil sie Sätze enthalte, die zwar ganz
wahr seien , die aber nicht ohne Nachtheil allgemein bekannt
werden können. Diese Ansichten selbst nun hatte Scävola
wohl seinem Lehrer Panätius ^ verdanken; seine Ausstellungen
gegen die Mythen der Dichter sind wenigstens ganz dieselben,
welche uns auch sonst bei Stoikeni begegnen, und die Unter-
scheidung der dreifachen Theologie wird ausdiilcklich als
stoisch bezeichnet. Aber dieselben erhalten doch in seinem
Munde eine ganz eigenthümliche Bedeutung. Mucius Scävola
war nicht blos einer von den angesehensten Männern in Rom
und einer von den gelehiiesten Kennern des römischen Bechts ;
sondern er war auch als Pontifex Maximus der oberste Beli-
gionsbeamte des Staates, der Oberaufseher über alle gottes-
dienstlichen Angelegenheiten, er hatte eine Stellung, welche,
nach modernen Analogieen bezeichnet, die Befugnisse eines
Landesbischofs und eines Kultusministei*s in sich vereinigte.
Welche Vorstellung müssen wir uns nun wohl von dem Glau-
ben der damaligen römischen Aristokratie an die Staatsreligion
machen, deren Hauptstütze eben diese Aristokratie seit der
Gründung des Staates gewesen war, wenn ein solcher Mann
sich mit so tiefer Geringschätzung, so . unumwundener Ent-
rüstung über Dinge erklärte, die mit jener Religion aufs
innigste verwachsen wai*en; wenn er es offen aussprach, dass
dieselbe mit schweren Irrthümeni versetzt sei, und dass er
vieles, was für sie höchst wesentlich war. nur als ein Zu-
geständniss zu betrachten wisse, welches der ungebildeten
Masse aus Zweckmässigkeitsgründen gemacht worden sei ! Fast
noch bezeichnender ist aber die Aufiiahme, welche diese Ansich-
ten in jener Zeit fanden. Denken wir uns, dass heutzutage
ein Mann in Scävola's Stellung über den Glauben seiner Kirche
sich so ausspräche, wie er sich über die römische Staatsreligion
ausgesprochen hat, welches Aufsehen würde diess nicht her-
Yormfen, welcher Lärm, welche Protestationen von allen Seiten
würden afolgen ! Von dem damaligen Rom ist nichts der Art
bekannt Wir hören nichts davon, dass der Senat den kühnen
Pontifex Maximus zur Verantwortung gezogen, oder dass ein
122 Religion und Philosophie
Volkstribun die Beligion in Gefahr erklärt, oder dass die
römische Priesterschaft sich geweigert hätte, fernerhin unter
ihm zu dienen. Es wird auch nicht überliefert, dass auswär-
tige Eirchenbehörden , wie etwa der Areopag in Athen oder
die Priester der Göttermutter in Pessinus, sich gedrungen ge-
fühlt hätten, gegen den ketzerischen Collegen in Born Zeugniss
abzulegen und der dortigen Staatsregierung über die religiösen
Pflichten der Obrigkeit das Gewissen zu schärfen. *) Scävola's
religionsphilosophische Ansichten scheinen gar keine besondere
Beachtung gefunden zu haben, keinenfalls aber können sie
grossen Anstoss eiTegt haben. Denn Scävola blieb nicht allein
unangefochten in Amt und Würden, sondein er war auch fort-
während eine von den gefeiertsten Auktoritäten der römischen
Theologie, ein Mann, von dem einer seiner Nachfolger bei
Cicero (N. D. III, 2, 5) sagen kann: in Sachen der Beligion
wolle er sich lieber an einen Scävola halten, als an Chrysippus
oder sonst einen stoischen Philosophen; und als er von einer
marianischen Mörderbande im Tempel der Vesta niedergemacht
wurde, sah man darin in Bom wohl ein haai*sträubende8 Ver-
brechen, aber nicht eine Strafe der Gottheit g^en den Ge-
mordeten. Wir werden uns nun diese Erscheinung zu einem
guten Theil allerdings daraus zu erklären haben, dass es sich
für den Bömer, wie schon oben bemerkt wurde, bei seiner
Beligion weit weniger um das Dogma handelte, als um den
Kultus, um Gebräuche und Yemchtungen, von denen bestimmte,
nicht an den Glauben des Opfernden oder Betenden, sondern
an diese äusseren Handlungen als solche geknüpfte Wirkungen
erwaitet wurden; dem herkömmlichen Kultus aber und dem
äusseren Bestände der Staatsreligion überhaupt war Scävola
nicht zu nahe getreten, er hatte vielmehr ihre praktische Un-
entbehrlichkeit ausdrücklich anerkannt. Aber doch war der
*) Das obige eine den arsprünglichen Zuhörern dieses Yortrags wohl
verständliche Anspielung auf die Angriffe, die eben damals auch von aus-
wärtigen Kirchenbehörden und Theologen auf D. Schenkel gemacht
wurden.
bei den Römern. 12d
Zusammenhang dieses Kultus mit den Glaubensvoi-stellungen
zu augenscheinlich, als dass nicht jeder, der mit ernstlicher,
innerer Uebei'zeugung an jenem festhielt, auch dieser sich
hätte annehmen, und an so freien Ui*theilen über dieselben,
wie wir sie von Scävola gehört haben, Anstoss nehmen müssen.
Wenn dieser durch seine Kritik der Volksreligion weder sei-
nem Ansehen noch seiner Stellung geschadet hat, so weist
diess darauf hin , dass der Glaube an ihre Wahrheit in jener
Zeit schon bedeutend ei*schüttert war, und dass nicht wenige
sie ihrer eigentlichen Meinung nach für nicht viel mehr hiel-
ten, als für eine zweckmässige und unentbehrliche politische
Institution. Als solche war sie ja schon seit Jahrhundeiten
von der römischen Aristokratie thatsächlich behandelt und zu
allen möglichen Staats- und Parteizwecken verwendet worden,
und es ist diess überhaupt die Ansicht, in welche ein Glaube,
wie der römische, naturgemäss zunächst umschlägt, sobald ihn
die eindringende Aufklärung in's Schwanken gebracht hat:
wenn die Religion nur als ein Mittel, um sich gewisse Yor-
theile von den Göttern zu vei*schaffen, geschätzt wird, so wird
man kein Bedenken tragen, in demselben Mosse, wie die Furcht
vor diesen Göttern schwindet, sie als Mittel für rein mensch-
liche Zwecke, als eine nützliche politische Einrichtung, zu be-
trachten und zu gebrauchen.
Mit Scävola finden wir ein Menschenalter später den
Marcus Terentius Varro (115 — 25 v. Chr.) vollkommen
einverstanden. Dieser berühmte Alterthumsforscher, der gi'össte
Gelehrte, den Rom heiTorgebracht hat, bildet durch seine
mühevollen und tiefdringenden Untersuchungen die Quelle, aus
der alle Späteren ihre Kenntniss der altrömischen Religion zu
schöpfen pflegten; und waren es auch zunächst historisch-
antiquarische Forschungen, um die es sich hiebei handelte, so
war doch auch der allgemeine religions- philosophische Stand-
punkt eines so gefeierten und vielbentitzten Schriftstellei-s
nothwendig von bedeutendem Einfluss. Gerade in seiner Re-
ligionsansicht schloss sich aber Varro ganz an die Stoiker an,
während er bei anderen Punkten allerdings mit seinem Lehrer
124 Religion und Philosophie
Antiochus eine mittlere Stellung zwischen ihnen und den
Akademikeiii einnahm. Seinem wahren Wesen nach ist Gott,
wie er sagt,*) nichts anderes, als das Weltganze, und insbe-
sondere die Seele und Vernunft desselben; auch die Theile
der Welt können aber Götter genannt werden, weil alles von
den Ausflüssen jener göttlichen Seele erfüllt ist, und ebenso
kann die Yemunft des Einzelnen als sein Genius bezeichnet
werden. Diese Götter sind nun freilich von den menschen-
ähnlichen des Volksglaubens sehr vei-schieden ; und aus diesem
Giiinde belobte VaiTo nicht blos die alten Römer, dass sie
die Gottheit 170 Jahre lang ohne Bilder verehrt haben, indem
er bemerkte, der Gottesdienst wäre reiner, wenn es immer so-
gehalten worden wäre: sondern er untei*schied auch mit Scä-
vola und den Stoikern sehr bestimmt zwischen der natürlichen
Theologie der Philosophen, der mythischen der Dichter und
der bürgerlichen der Staaten. Die Erzählungen der Dichter,
sagt er, enthalten sehr vieles, was dem Wesen und der Würde
der Gottheit widerstreite, ja selbst unter den Menschen nur
bei den schlechtesten und verächtlichsten vorkomme. Heinere
Begiiffe über die Gottheit seien nur bei den Philosophen zu
finden; aber manche von ihren Lehren seien fi'eilich von der
Art, dass man sich damit nicht vor's Volk wagen könne. Zur
öffentlichen oder bürgerlichen Religion tauge daher nur eine
solche, die zwischen beiden die Mitte halte, indem sie reiner
sei, als die der Dichter, und volksthümlicher, als die der Philo-
sophen. Diese öffentliche Religion betrachtete nun Varro als
eine rein bürgerliche Einrichtung, und er verbarg nicht, dass
er auch in der römischen Religion nicht mit allem einverstan-
den sei. Da sie jedoch einmal die Religion seines Volks war,
hielt er es für seine Pflicht, seine Landsleute mit dem Glauben
ihrer Väter bekannt zu machen, und dadurch, wie er hoffte,
ihre Achtung vor demselben neu zu beleben.**) Das Binde-
♦) Bei Augustin Civ. D. IV, 31. Vü, 6. 9. 13. 23.
**) Man vergleiche zu dem obigen Augustin a. a. 0. VI, 2 ff. IV, 81;
zum folgenden VII, 28. 19.
bei den Bömern. 125
glied zwischen seiner philosophischen Theologie und dem Volks-
glauben bildet aber auch für ihn die Allegorie, deren er sich
in acht stoischer Weise bediente, um Vorstellungen, welche er
sich in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht aneignen konnte,
einen ihm zusagenden Sinn zu unterlegen. So deutete er z. B.
von den drei capitolinischen Göttern Jupiter auf den Himmel,
Juno auf die Erde, Minerva auf die Ideen; ein andermal
jedoch wollte er alle männlichen Gottheiten dem Himmel, alle
weiblichen der Erde zuweisen. Die Mythen von Saturn be-
zog er auf den Ackerbau: wenn er z. B. seine Kinder ver-
schlingt, sollte diess andeuten, dass die Erde den Samen, der
von ihr herstammt, wieder in sich aufnehme. Aehnliche Aus-
legungen scheinen sich in seiner Schrift viele gefunden zu
haben; durch dieses unsichere Mittel konnte aber natürlich
der Zwiespalt zwischen dem Glauben des Volkes und der
Uebei'zeugung des Philosophen kaum nothdüiftig verdeckt
werden.
Noch entschiedener spricht sich Seneca aus, den wir als
den Hauptvertreter des römischen Stoicismus im ersten Jahr-
hundert nach Christus betrachten düi-fen. Die Theologie dieses
Philosophen ist so rein, in seinem Gottesbegriflf treten die gei-
stigen Eigenschaften der weltregierenden Weisheit und der
wohlthuenden Güte so stark hervor, in seiner Auffassung der
Beligion legt er alles Gewicht so ausschliesslich auf den sitt-
lichen Willen und die fi*omme Gesinnung, dass man in älterer
und neuerer Zeit nicht selten gemeint hat, einen Standpunkt,
der dem christlichen so nahe verwandt ist, könne er nur unter
dem Einfluss der christlichen Lehre gewonnen haben. Dass
nun die Mythen und die gottesdienstliche Uebung der römischen
Beligion mit diesen reineren Grundsätzen sich nicht v^rti-ugen,
lag am Tage; und Seneca war ein viel zu klarer und freier
Kopf, um diesen Widerspnich sich nicht offen zu bekennen.
An vielen Stellen seiner erhaltenen Werke hat er sich dar-
über geäussert, und seine Schrift über den Aberglauben, voji
der uns Augustin (C. D. VI, 10 flf.) Bruchstücke aufbewahrt
bat, enthielt eine einschneidende Kritik des bestehenden Be-
126 Religion und Philosophie
ligionswesens , welche den öffentlichen Kultus so gut, wie die
Fabeln der Dichter, schonungslos verurtheilte. Was denn das
fbr Götter seien, fragt er, denen die alten Könige Heiligthümer
gebaut haben, die Gloacina und der Tiberinus, und Pa-
vor und P aller, zwei von den schmählichsten menschliche
Affekten, und jener ganze Göttei*pöbel (ignobilis Deorum turba),
den der Aberglaube im Lauf der Jahrhundei*te zusammenge-
bracht habe? Was sich ungereimteres denken lasse, als jene
Einzahlungen der Dichter, welche Jupiter alles unwürdige und
schändliche, mit Einem Woi*t alles das zuschreiben, was den
Menschen, wenn sie daran glaubten, die Scheu vor der Sünde
benehmen müsste? Wie man dazu komme, die Götter mit
einander zu verheirathen , und überdiess noch Brüder mit
Schwesteiii? und warum denn Jupiter jetzt keine Kinder mehr
bekomme, wenn er deren früher so viele gehabt habe? ob er
etwa sechzigjährig geworden sei , und sich auf das papische
Gesetz verlasse? Zum höchsten Anstoss gereicht ferner dem
Philosophen, wie schon manchem vor ihm, die Bilderverehrung.
Die heiligen unsterblichen Götter, sagt er, verlegt man in ge-
ringe leblose Stoffe ; man gibt ihnen die Gestalt von Menschen
und Thieren, ja alle möglichen abenteuerlichen Gestalten; was
man als ein Ungethüm verabscheuen würde, wenn es lebendig
würde, das nennt man im todten Stein eine Gottheit. Die
Bilder betet man an, die Handwerker, die sie gemacht haben,
schätzt man gering; über die Spielereien der Kinder lächelt
man, während man sein Leben lang in den wichtigsten An-
gelegenheiten ähnliche Spielereien treibt. Und wie werden
diese Götter verehrt! Mit Opfeni und Schlächtereien, als ob
die Gottheit am Blut unschuldiger Thiere eine Freude hätte,
mit Selbstpeinigung und Selbstverstümmelung, mit den albern-
sten Komödien und den sinnlosesten Dienstleistungen. Wenn
nur Einzelne solche Dinge thäten, würde man sie für venUckt
halten ; weil der Wahnsinn allgemein ist, gilt er für Frömmig-
keit. Der wahre Gottesdienst besteht, wie Seneca zeigt, in
etwas ganz anderem. „Man braucht nicht die Hände zum
Himmel zu erheben, und dem Tempelhüter gute Worte zu
bei den Römern. 127
geben, um beim Götterbild vorgelassen zu werden. Gott ist
dir nahe, er ist um dich, er ist in dir. Nicht Tempel aus
Stein thürme man ihm auf, sondern man weihe ihm das Heilig-
thum in der eigenen Brust. Nicht mit Lichteranzünden und
Besuchen und Dienstleistungen, deren er nicht bedaii, nicht
mit dem Blute der Opferthiere ehrt man ihn, sondern mit
reiner Gesinnung und redlichem Wollen. Wer die Götter zu
Freunden haben will , der muss an sie glauben , er muss sich
würdige Voi'stellungen von ihnen bilden, er muss sie durch
Sittlichkeit ehren: Nachahmung der Gottheit ist der beste
Gottesdienst" *) Von diesem Standpunkt aus konnte die Volks-
religion für Seneca nicht einmal so viele Bedeutung haben, wie
sie für Van-o noch gehabt hatte, und so finden wir auch wirk-
lich bei ihm kaum irgend eine Aeusserung, welche ein tieferes
Interesse an derselben veniethe. Er selbst bemerkt wieder-
holt über römische Kultusgebräuche: der Weise werde sich
ihnen unterziehen, weil es Gesetz und Sitte verlangen, nicht
weil er glaube, dass sie an sich selbst nothwen^ig und der
Gottheit angenehm seien ; und eben dieses ist überhaupt seine
Stellung zur römischen Religion. Er lässt sie sich gefallen,
weil sie einmal besteht , aber er für seine Person kann sie
nicht blos entbehren, sondern er weiss sich auch nur theil-
weise in sie zu finden.
In Seneca hat die stoische Kritik des Volksglaubens
ihren Höhepunkt erreicht. Was uns von den späteren römi-
schen Stoikern bekannt ist, beweist uns, dass sie ihn eher zu
stützen, als anzugreifen geneigt waren. So besitzen wir, wie
bereits erwähnt wurde, von Seneca's jüngerem Zeitgenossen
Cornutus eine" Schrift, welche die stoische Mythendeutung
mit der vollen Kritiklosigkeit und Pedanterie eines spekulativen
Orthodoxen vor uns ausbreitet Aber auch zwei bedeutendere
Männer, die letzten Grössen der stoischen Schule, Epiktet
und Mark Aurel, machen der Volksreligion Zugeständnisse,
^ Die näheren Belege zu der obigen Darstellung gibt meine „Philo-
sophie der Griechen^S m, a, 291 ff.; vgl. S. 626 f. 650.
128 Religion und Philosophie
die im Vergleich mit Seneca einen unverkennbaren Rückschritt
bezeichnen; so rein auch im übrigen ihr eigener Gottesbogrifi^
so geläutert ihre waime und innige Frömmigkeit ist In ge-
ringerem Masse ist diess bei Epik t et der Fall; aber doch
findet er es sehr unrecht^ das Dasein einer Demeter oder Per-
sephone und anderer Volksgottheiten zu bestreiten : nicht allein,
weil man die Wohlthaten dieser Götter (welche dem Stoiker
ja nichts anderes , als die nährende Kraft der Erde bedeuten)
täglich geniesse, sondern auch, weil man durch ihre Bezweif-
lung manchem das einzige raube, was ihn von Unrecht und
Sünde abhalte. Es ist diess der gleiche Nützlichkeitsgrund,
den man auch in neuerer Zeit der Kritik so oft und so nach-
drücklich als letzte Instanz entgegengehalten hat; es ist aber
freilich ein Grund, der jeden religiösen, moralischen und in-
tellektuellen Foitschritt verbieten müsste, da es schlechter-
dings keinen Irrthum oder Aberglauben gibt, welcher nicht
irgend jemand unter Umständen zum Guten antreiben oder
von etwas Schlechtem zuiilckhalten könnte. Eben dieser
Grund war aber ohne Zweifel von Anfang an eine Haupttrieb-
feder der stoischen Orthodoxie gewesen. Bei MarkAurel*)
verbindet sich mit dieser Bücksicht auf andere das eigene
religiöse Bedürfniss. Denn so wenig er von dem abergläu-
bischen Gaukelspiel hören will, welches in jener Zeit allent-
halben von Zauberern, Geisterbeschwörem und ähnlichen
Leuten getrieben wuide, so trostreich findet er doch den
Glauben an ausserordentliche Weissagungen der Gottheit durch
Träume und Orakel ; und wenn allerdings die stoischen Mythen-
deutungen, wie alle Spitzfindigkeiten der Schule, seinem prak-
tischen Sinn ferne lagen, so war er dafür um so eifriger in
allem, was zur Götterverehrung gehörte, und bei ausser-
ordentlichen Gefahren, die das römische Reich bedi-ohten,
wusste er sich mit fremden und einheimischen Gottesdiensten»
mit öffentlichen Gebeten und Processionen kaum genug zu
thun. Wird doch aus der Zeit seines ersten Markmannen-
*) Ueber den SammL I, 105 £ Phil, d, Gr. HE, a, 680 f.
bei den Römern. 129
kri^es, neben vielen anderen Beweisen seines fix)mmen Eifers,
erzählt, es seien auf die Anordnung eines damals gefeierten
religiösen Schwindlei*s , des Alexander von Abonuteichos , aus
dem römischen Lager unter feierlichen Opfern zwei Löwen in
die Donau getrieben worden, um in die Reihen der Feinde
am jenseitigen Ufer Verderben zu tragen; diese Barbaren
hatten dann aber freilich vor den heiligen Thieren so wenig
Respekt, dass sie dieselben nur für eine Alt ausländischer
Hunde hielten und ohne Umstände todtschlugen. '^) Wenn
diess, wie man annehmen muss, mit Yorwissen des Kaisers
geschehen ist, so wärde es beweisen, dass auch das Misstrauen
gegen fromme Gaukler, dessen er sich rühmt, nicht sehi* fest
gegründet war; und wenn man sich einmal mit den Stoikern
darauf einliess, den Weissagungs- Aberglauben und ähnliche
Dinge mit scheinbaren Vemunftgründen zu stützen, so liess
sich freilich nicht mehr sagen , wo auf diesem Gebiete die
Grenze des Möglichen und Unmöglichen liege.
Neben der stoischen und epikureischen Schule übte die
platonische auf die religiösen Ansichten der Römer, wie auf
ihre ganze Geistesbildimg, den meisten Einfluss aus. Dagegen
hatte die peripatetische Lehre , so weit sie nicht mit dem da-
maligen eklektischen Piatonismus zusammenfiel, in Rom keinen
nennenswerthen Erfolg. Noch vereinzelter scheint Cicero's
Zeitgenosse Nigidius Figulus mit dem Pythagoreismus ge-
blieben zu sein, der bei ihm mit mancherlei Aberglauben in
Verbindung stand. Aber auch der Gynismus der Eaiserzeit,
dessen Wortführer ihre Unabhängigkeit, nach dem Vorgang
der alten Cyniker, imter anderem auch durch religiöse Frei-
geisterei zu zeigen pflegten, blieb in Rom immer eine auslän-
dische Pflanze, und unter den Anhängern dieser Denkweise,
* die wir kennen, finden sich kaum ein oder zwei lateinische
Namen. Nun hatte freilich die platonische Schule, als die
Kömer mit ihr bekannt wurden, schon vei-schiedene Wand-
*) Lucian, Alex. 48.
Zeller, Vorträge und AbhandL 9
130 Beligion und Philosophie
lungen durchgemacht, die auch für ihr Verhältniss zur Religion
von Wichtigkeit waren. Plato selbst hatte durch den reinen
und geistigen Monotheifimus, zu dem er als Philosoph sich be-
kannte, die Volksreligion und ihre Mythen nicht verdrängen
wollen,, weil er von ihrer Unentbehrlichkeit fttr die Masse der
Menschen überzeugt war; aber er verlangte eine durchgrei-
fende Reinigung derselben nach sittlichen Gesichtspunkten.
Dieses refoimatorischen Strebens vergassen aber schon seine
nächsten Nachfolger, die Männer der alten Akademie: wie sie
den Piatonismus überhaupt in's Pythagoreische zurückbildeten,
so schlössen sie äich auch nach Art der Pythagoreer mit un-
klarer Symbolik an die religiöse Ueberlieferung an. Dagegen
verlangte die Skepsis, welcher sich die Akademie bald nach
dem Anfang des dritten Jahrhunderts v. Chr. zuwandte, daas
eine wissenschaftliche Ueberzeugung über das Dasein und das
Wesen der Götter für unmöglich erklärt werde; und Kar-
n e a d e s besonders, der scharfsinnigste dieser Skeptiker, dessen
Wirksamkeit einen namhaften Theil des zweiten Jahrhunderts
ausfüllt, zog diese Folgerung mit aller Schäife, indem er nicht
allein über die Volksvorstellungen, sondern auch über die
theologischen Lehren der Philosophen und ihre Beweise filr
den Götterglauben eine vernichtende Kritik ergehen liess.
Aber als eine wahrscheinliche Veimuthung wollte auch er
diesen Glauben stehen lassen, und die bestehende Religion
wollte er als solche nicht antasten. Noch weniger lag diess
in der Absicht derer, welche bald nach dem Anfang des ersten
vorchristlichen Jahrhunderts von der Skepsis des Eameades
wieder auf den älteren Piatonismus zurückgiengen und mit
demselben auch peripatetische, namentUch aber stoische Lehren
in weitem Umfang verbanden, wie diess mit Entschiedenheit
zuerst Antiochus aus Askalon, einer von Cicero's Leh-
rern, gethan hat. Die Stellung dieser Männer zur Religion
war im ganzen die gleiche wie die eines Plato und der auf-
geklärteren unter den Stoikeni.
In Rom nun war man zuerst durch Eameades und sei-
neu Schüler Klitomachus mit der neuakademischen Skepsis
bei den Römern. 131
bekannt geworden; in der Folge hatte Philo von Larissa
den Cicero und andere junge Körner in dieselbe eingeführt,
doch nicht ohne sie erheblich zu mildem und zu beschränken.
Wie ein römischer Anh'änger dieser Männer sich zur Religion
stellte, können wir aus den Aeusserungen abnehmen, welche
Cicero in den Büchem von der Natur der Götter dem Pontifex
Cotta in den Mund legt. Dieser Mann ist hier der Veiti-eter
der neuakademischen Skepsis, und er bekämpft als solcher
nicht allein die epikureische Theologie, sondem er hat auch
alle jene Einwürfe vorzutragen, die ein Kai*neades den Stoikern,
und mit ihnen dem Götterglauben überhaupt entgegengehalten
hatte. Aber wie es auch heutzutage viele gibt, die zwar keine
einzige feste Ueberzeugung haben , ebendesshalb aber jede zu
bekennen bereit sind, so erklärt auch Cotta bei Cicero (I, 22.
m, 2): die Ueberlieferungen der Vorfahren über die Götter
und die Gebräuche der Staatsreligion werden an ihm stets
einen eifrigen Vertheidiger finden, wenn er auch als Philosoph
alle Behauptungen über das Dasein, die Natur und die Vor-
sehung der Götter in Anspruch nehmen müsse; und wir wer-
den diess ihm und seinesgleichen nicht einmal als persönliche
Gesinnungslosigkeit anrechnen dürfen, sondern es ist die acht
römische Ansicht von der Sache: die Nationalreligion muss
unter allen Umständen aufrechtgehalten werden, wie es sich
nun auch mit der wissenschaftlichen Untersuchung über die
Götter verhalten mag. Damit, meint der Bömer, lasse sich
doch nicht zum Ziel kommen, aber dass er wohl daran thue,
die Götter in der hergebrachten Weise zu verehren, diess be-
weist ihm die Grösse seines Staates, der sich, wie auch Cotta
bemerkt, bei dieser Verehrung jederaeit sehr wohl befunden
habe.
Nicht viel anders machten es aber, die Volksreligion be-
treffend, auch solche, die in ihrer philosophischen Theologie
nicht bei den Zweifeln des Karneades stehen blieben, wie
diess allem nach bei der Mehrzahl der römischen Akademiker
seit Antiochus der Fall war. Wir sehen diess an demjenigen
TOn den römischen Philosophen, welcher mehr, als irgend ein
132 Religion und Philosophie
anderer, dazu beigetragen hat, dass seine Landsleute mit der
giiechischen Philosophie bekannt \nirden, an Cicero. So
beredt auch Cicero die Einwürfe ausführt, welche die Männer
der neuen Akademie aller natürlichen und positiven Theologie
entgegengehalten hatten, so wenig bezweifelt er selbst doch
das Dasein Gottes und das Walten einer weisen und gütigen,
auf das kleine wie auf das gi-osse sich erstreckenden Vor-
sehung. Der Glaube an die Gottheit ist dem Menschen, wie
er sagt, von der Natur eingepflanzt, er wird von der ganzen
uns umgebenden Welt gepredigt, er ist uns auch praktisch
unentbehrlich, denn mit der Religion giengen Treue und Recht
und alle Bande der menschlichen Gesellschaft zu Gininde.
Dieser Glaube wird von ihm ferner im ganzen sehr rein ge-
fasst , wenn er sich auch allerdings mehr in der populären
Foim xenophontisch-sokratischer Reden, als in strengeren
philosophischen Begriffen bewegt; und für die beste Gottesver-
ehi-ung erklärt er den Gottesdienst eines reinen unverdorbenen
Herzens. £bendesshalb aber ist sein Zusammenhang mit dem
Volksglauben ein ziemlich loser. Die Religion, sagt er (Divin.
n, 72), dürfe allerdings nicht angetastet werden, denn theils
werde der Weise die gottesdienstlichen Einrichtungen seiner
Voifahren aufrechthalten, theils nöthige uns die Schönheit und
Ordnung der W^elt zur Anerkennung und Verehrung der Gott-
heit. Aber wenn auch eine vernünftige und mit einer rich-
tigen Naturansicht vereinbare Frömmigkeit jede Förderung
verdiene, so müsse dagegen der Aberglaube, der uns aDe
Gemüthsruhe raube, mit der Wui'zel ausgerottet werden. Ob
diese Forderungen sich mit einander vereinigen lassen, ob
nicht die instituta majorum, die der Weise in Schutz nimmt,
von Gebräuchen und Glaubens Vorstellungen voll sind, wddie
er nur für Aberglauben erklären kann, wird nicht weiter
untersucht ; aber die Antwort auf diese Frage kann für uns
nicht zweifelhaft sein. Nennt doch Cicero selbst a. a. 0. als
Auswüchse des Aberglaubens die Wahi*sagerei, die Vorbedeu-
tungen, die Opferschau, die Sühnung der Blitze u. s. w.;
lauter Dinge, mit denen die ganze altrömische Religion stehen
bei den Hörnern. 13S
und fidlen musste; und nicht anders hätte er von seinem
Standpunkt aus auch über die Opfer und über den ganzen
Polytheismus und Anthropomoi*phismus des Volksglaubens
urtheilen müssen. Ihm für seine Person würde es an seiner
philosophischen Ueberzeugung genügen ; was ihn an die Volks-
religion bindet, ist nicht das religiöse, sondern nur das politi-
sche und nationale Interesse.
Alles zusammengenommen finden wir in Bom seit dem
letzten Jahrhundert der Republik einen tiefen Zwiespalt zwischen
den Lehren der Philosophen und dem altrömischen Glauben.
Eine weitverbreitete und in der öffentlichen Meinung sehr ein-
flussreiche Klasse von Philosophen gi*eift diesen Glauben als
den schädlichsten Wahn mit wissenschaftlichen Gründen wie
mit den Waffen des Spottes aufs bitterste an; andere suchen
ihm durch künstliche Umdeutung einen erträglichen Sinn zu
unterlegen, oder sie rechtfertigen ihn wenigstens mit den Be-
düi'fiiissen des Staates und des Volkes; aber alle sind ihm
innerlich entfremdet, und über viele von den eingreifendsten,
für die bestehende Religion unentbehrlichsten Glaubensvor-
stellungen, Einrichtungen und Gebräuche uilheilen die philo-
sophischen und politischen Vertheidiger dieser Religion kaum
weniger schneidend, als ihre erbittertsten Gegner. Was aber
in dieser Beziehung in den Schulen der Philosophen gelehrt
wurde, das war bald die Ueberzeugung aller Gebildeten ; denn
die Philosophen waren es, bei denen seit dem Eindringen des
Hellenismus auch die Römer alle wissenschaftliche Bildung zu
suchen pflegten. Stand nun so der geistige Keim der Nation
dem Glauben seiner Väter Jahrhunderte lang feindselig oder
gleichgültig gegenüber, so begreift es sich, dass dieser Glaube
auch über die unteren Volksklassen seine Herrschaft immer
mehr verlor, und dass er nicht die Macht hatte, den massen-
haft eindringenden fremden Elementen einen nachhaltigen
Widerstand zu leisten. Diese selbst aber waren zwiefacher
Art. Einerseits erfüllte sich Rom in steigendem Masse mit
polytheistischen Kultus- und Glaubensformen, die aus allen
Theilen des weiten Reiches, vorzugsweise jedoch aus dem
184 Religion und Philosophie
Orient einsti'ömten; und durch diese Yeimischung der
schiedenartigsten Götter und Götterdienste wurde nicht a
die römische Religion immer mehr ihres nationalen Charal
entkleidet, sondern der Götterglaube Überhaupt verlor s
Bestimmtheit, die einzelnen Götter, fremde wie einheimit
flössen in einander, und es entstand jenes wüste Gewirre
Glauben und Aberglauben jeder Art, welches weder
religiösen Gefühl und Bedürfoiss noch dem verständigen Dei
irgend einen Halt darbot Andererseits hob sich aber
diesem Chaos immer siegi-eicher der monotheistische 61a
welcher als volksthümlich religiöser gleichfalls aus dem Oi
kam; und wenn er schon in seiner jUdisch- nationalen Besch
kung selbst unter den Römern Foi*tschritte machte, übei
noch im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebhaft
klagt wird, so konnte sein schliesslicher Sieg nicht ausblei
nachdem er sich im Christenthum von jener Schranke be:
sich zur Universalität einer Weltreligion erweitert, sich
einem tieferen sittlichen Gehalte, einer geläuterteren Fröm
keit erfüllt hatte. Diesem Siege des Monotheismus über
Polytheismus hatte auch die Philosophie wacker vorgearb<
ja sie war eine von seinen wirksamsten und unerlässlicl
geschichtlichen Bedingungen gewesen. Als nun aber der Kt
beider wirklich ausbrach, da stellte sie sich freilich aui
Seite der alten Religionen; und der Neuplatonismus insbc
dere, welcher seit der Mitte des dritten Jahrhunderts n.
alle anderen Schulen verdrängte, wurde der letzte Vorkän
des Polytheismus. Indessen ist der Antheil, welchen die R(
an dieser Philosophie nahmen, ein sehr geringer, und >
auch Rom der Ort war, wo die neuplatonische Schule von
Aegypter P lotin US gestiftet wurde, so gehören doch alle
namhaften Vertreter nach Abstammung und Denkart theils
griechischen, theils und hauptsächlich der giiechisch - ori(
lischen Welt an. Die römische Philosophie als solche hat
zweite Jahrhundert nach Christus kaum überlebt: seit M
Aurers Zeit begegnet uns unter den Mitgliedern der
bei den RömeriL 135
•
schiedenen Schulen, von denen wir wissen, nur noch selten
ein römischer Name, und nicht ein einziger, von dem eine
irgend erhebliche Leistung zu berichten wäre. Erst in der
christlichen Zeit gewinnt Rom wieder eine Bedeutung für die
Geschichte der Philosophie, indem hauptsächlich von hier aus
den abendländischen Yölkem überliefert wurde, was sich von
griechisch-römischer Wissenschaft aus den Stürmen der Völ-
kerwanderung gerettet hatte.
m.
Eine Arbeitseinstellung in Rom.
Zur Charakteristik römischer Volkssagen.
(1865.)*)
Jene Arbeitseinstellungen im grossen, durch welche sich
der Arbeiterstand in der neueren Zeit nicht selten eine Ver-
besseioing seiner Lage zu erzwingen versucht hat, sind dem
Alteithum wenigstens in der Gestalt fremd, in der sie heutzu-
tage zu einem periodisch wiederkehrenden und an einzelnen
Orten fast zu einem stehenden Uebel zu werden drohen. Die
Verhältnisse des Erwerbslebens, welche diese Ei*scheinung in
der Gegenwart hervorgerufen haben, waren damals ganz andere;
und schon der Eine Umstand musste in dieser Beziehung von
entscheidendem Gewicht sein, dass die landwirthschaftliche
und gewerbliche Grossindustrie die ihr nöthigen Arbeitskräfte
fast ausschliesslich dem zahlreichen, in manchen Ländern zu
einer verderblichen Höhe herangewachsenen Stande der Leib-
eigenen entnahm, und dass ebendieselben die Stelle unserer
Dienstboten, und grossentheils auch die unserer Tagelöhner
und selbst unserer kleinen Handwerker vertraten. So hören
wir wohl bei Gelegenheit von Sklaven- und Helotenau&tänden
oder von massenhaftem Ausreissen der Sklaven, aber für jenen
*) Zuerst erschienen in der Festschrift, mit Welcher die Yersaminliiiig
deutscher Philologen und Schulmänner in Heidelberg 1865 von dem dortigen
philosophisch-historischen Verein begrüsst wurde.
Eine Arbeitseinstellimg in Rom. 137
organisirten , in gesetzlichen Formen geführten Kampf des
Arbeiterstandes mit den Arbeitgebern, wie er in den letzten
Jahrzehenten begonnen hat, fehlte in der griechischen und
römischen Gesellschaft, was die überwiegende Mehrheit des
eigentlichen Arbeiterstandes betrifft, schon die erste Vor-
bedingung, die bürgerliche Freiheit seiner Mitglieder. Die
Zahl derer , welche ohne eigenen , ihre wirthschaftliche Selb-
ständigkeit sichernden Besitz vom blossen Lohnertrag ihi*er
Arbeit lebten, war unter den Freien verhältnissmässig zu klein,
und ihre Dienste konnten in der Regel durch Sklavenarbeit,
in den älteren und einfacheren Zeiten auch durch die eigene
der Arbeitgeber und ihrer Hausgenossen, zu leicht ersetzt
werden, als dass sie dui*ch Arbeitseinstellungen ihre Unent-
behrlichkeit hätten beweisen und die Arbeitslöhne steigern
können. Aber doch lag dieser Gedanke selbst auch dem Alter-
thum nicht so ferne, dass nicht solche, deren Dienstleistungen
schwerer zu vermissen waren, den Versuch hätten wagen
können, durch Verweigeiiing derselben ihre Ansprüche durch-
zusetzen. In Rom besonders war diess durch die Zunftverfassung,
welche für einzelne Gewerbe bis in die ältesten Zeiten der
Stadt hinaufreicht, in hohem Grad erleichteii ; und wenn auf
dem politischen Gebiete Secessionen und Verweigerung des
Eri^sdienstes die Mittel waren, wodurch sich die Plebs ihre
wichtigsten staatsbürgerlichen Rechte errang, so konnte wohl
auch einmal bei den Genossen eines Gewerkes der Gedanke
auftauchen, die Ehre und den Vortheil ihrer Zunft durch die
gleichen Mittel zu vei*theidigen. Insofein liegt in den allge-
meinen Verhältnissen nichts, was die Erzählung von der Arbeits-
einstellung, durch welche sich einst die Zunft der Musikanten
in Rom gewisse ihr entzogene Von*echte zurückerobert haben
soll, zum voraus als unmöglich erscheinen Hesse. Ob sie aber
darum wirklich für geschichtlich zu halten ist, diess freilich
muss erst untersucht werden.
Mit der üeberlieferung über den bezeichneten Vorgang
verhält es sich folgendermassen. Unter dem Namen der Quin-
quatrus wurden der Minerva zwei Feste gefeiert, von denen
138 ^^e Arbeitseinstellung in Rom.
das eine auf den fünften Tag nach den Idus des März fUlt»
das andere auf den fünften Tag nach den Idus des Juni;
jenes dauerte nach späterer Uebung fünf Tage, dieses, wie es
scheint, drei Tage (vgL Liv. IX, 30); jenes wird daher Otm-
quatrus majores genannt, dieses Quinquairus minores. Beides
wai*en Tage öffentlicher Lustbarkeit, zunächst für diejenigen
Theile der Bevölkerung, welche unter dem besonderen Schutze
der gefeieilen Gottheit standen : die Handwerker, die Künstler,
die Aei*zte, die Schuljugend und ihre Lehrer, die Frauen und
Mädchen (wegen der Wollarbeit) ; an den kleinen Quinquatrus,
also am 19. — 21. Juni, hatten die Musikanten, die iibicines,
ihr Zunftfest, das mit einem Schmause im Tempel des capitor
linischen Jupiter, mit Maskenzügen und Maskenschwärmerd
auf den Strassen gefeieii; wurde ; in Betreff der letzteren wird
ausdiilcklich bemerkt, die Feiernden seien dabei nicht blos in
Masken, sondern auch in langen bunten Weiberkleidem umher-
gezogen. M. vgl. über diese Aufzüge, ausser den sogleich anzu-
führenden weiteren Zeugen: VaiTO 1. lat. VI,. 17. Fest S, 149,
Censorin. d. n. 12.
Den Urspiimg dieser Sitte leitete man nun in der späteren
Zeit von einem Voifall ab, welcher sich gegen das Ende des
vierten vorchiistlichen Jahrhunderts zugetragen haben soll, von
dem Auszug der Musikanten nach Tibur. Doch lauten die
Berichte darüber nicht ganz übereinstimmend. Halten wir
uns zunächst an Livius (IX, 30), so war unter der berühmtoi
Censur des Appius Claudius Cäcus und C. Plautius (312 v. Chr.)
den Pfeifern (tibicines) von den ebengenannten Censoren das
Mahl im Jupitei-tempel untei*sagt worden ; aus Verdruss darüber
zogen diese im folgenden Jahre (man könnte etwa annehmen,
vor den Quinquatiiis, nachdem sie sich vergebens um Wieder-
herstellung ihres Privilegiums bemüht hatten) wie Ein Mann
nach Tibur. Dadurch entstand denn in Rom keine geringe
Verlegenheit, wie diess allerdings in diesem Fall nicht anders
sein konnte, da die Pfeifer nicht blos für die Volksbelustigung,
sondern in erster Linie für den Kultus unentbehrlich waren,
und ohne ihre Mitwirkung kein feierliches Opfer, keine gottes-
£me Arbeitseinstellung in Rom. 139
dienstliche Procession, kein Bmutzug und keine Leichen-
bogleitung in der durch das Herkommen und die sacrale' Sitte
geheiligten Form stattfinden konnte : es war, wie Livius sagt,
niemand in der Stadt, der die Opfermusik machen konnte,
oder wie es bei Ovid (F. VI, 667) heisst: quaeritwr in scena
Cava tibia, quaeritur aris: dudt supremos naenia nuUa toros*);
die Verödung des Gottesdienstes (sacra deserta Valer. Max. I,
5, 4), die Opfer ohne Flötenbegleitung {Ugelg avavla drovzeg
Plut. qu. rom. 55) machten schwere Gewissensbedenken. Der
Senat verlegte sich also aufs Unterhandeln und bat die Ti-
burtiner durch eigene Abgesandte um ihre freundnachbarliche
Vermittlung. So gerne aber diese gewährt wuide, so hart-
näckig blieben die beleidigten Künstler auf ihrem Kopfe. Da
giiffen die Tiburtiner zur List : an einem Feiertag wui*den die
römischen Musiker in verschiedene Häuser eingeladen, um
beim festlichen Mahl aufzuspielen, und es wurde ihnen bei
dieser Gelegenheit mit Wein (cujtts avidum ferme genus estj
bemerkt Livius) so erfolgreich zugesprochen, dass man sie
sammt und sondei-s in der Nacht auf Wagen vei-packen und
fortschaffen konnte. Beim Erwachen befanden sie sich auf dem
römischen Forum. Mittlerweile hatte sich bei ihnen eine weich-
müthigere Stimmung eingestellt ((„plenos crapulae eos lux oh-
pressif*): sie liessen jetzt mit sich reden, und vei*standen sich
zu bleiben; dabei wurde nicht allein denen, welche beim Gottes-
dienst mitwirkten, das Recht, ihr Festmahl im Tempel zu
balten, zurückgegeben, sondern es wurde ihnen auch gestattet,
jedes Jahr drei Tage lang im Putz und mit den später üblichen
Scherzen in der Stadt ihr Wesen zu treiben (datum, ut triduum
quotawnis amati cum cantu atque hac, qime nunc soUemnis est^
Ucentia per whem vagarentur).
Von der Daretellung des Livius weicht nun die, welche
^rir bei Ovid (Fasti VI, 651 ff.) finden, in mehreren Punkten
ab. Fttr^s erste nämlich gibt er als Anlass der Auswanderung
*) „Auf der Bühne Yermisst man die Flöte, vermisst am Altar sie,
Und es geleiten nicht mehr klagende Weisen den Sarg.^
140 ^i^c Arbdtseinstellimg in Rom.
nach Tibur nicht das Verbot des Zunftschmauses auf dem
Capitol an, sondern eine Verordnung des Aedilen, durch welche
die Zahl der Musikanten, die beim Leichengefolge mitwirken
dürfen, auf zehen beschränkt worden sei; bei diesem Aedilen
scheint aber auch er an Appius Claudius zu denken, da er
nachher den Plautius seinen CoUegen nennt. Sodann lässt er
die Ausgewanderten in Tibur nicht einzeln von verschiedenen
Bürgem, sondern alle zusammen von einem einzigen, einem
Freigelassenen, auf dessen Landgut bewii-thet werden; mitten
im Gelage lässt dieser seinen Patron bei sich anmelden, treibt
unter diesem Vorwand seine Gäste zum Aufbinch, und lässt
sie, statt nach Tibur, auf Wagen nach Rom bringen. Hier
befiehlt ihnen Plautius (der andere Aedile), um den Senat zu
täuschen und es zu verbergen, dass sie der Verordnung seines
CoUegen zuwider (das soll wohl heissen: mehr als nur zehen
Mann stark) zuiilckgekommen seien, Masken voi'zunehmen und
Frauenkleider anzulegen. Die Sache fand Beifall, und seitdem
erscheinen die Pfeifer an den Quinquatrus in diesem Au£sug,
und singen scherahafte Lieder nach alten Weisen, d. h. impro-
visirte Gelegenheitsverse auf bekannte Melodieen.
Von diesen beiden Erzählungen scheint die ei-ste, die des
Livius, von Valerius Maximus (I, 5, 4) benützt zu sein;
derselbe hat wenigstens im Vergleich mit seinem Vorgänger,
abgesehen davon, dass er die Zeit des Vorfalls und die Cen-
soren, deren Verbot ihn veranlasst haben soll, nicht nennt,
nichts eigenes, als die Bemerkung am Schlüsse : der Gebrauch
der Masken am Quinquatrusfest sei eingeführt worden, weil
sich die Heimgekehrten über den Streich, den sie sich in der
Betrunkenheit spielen Hessen, geschämt (und desshalb — muss
man hinzudenken — sich hinter Masken versteckt) haben.
Dagegen stimmt ein vieiler Bericht, bei Plutarch qu. rom.
55, fast durchaus mit Ovid's Erzählung überein; aber doch
zeigen einige Abweichungen von dei*selben, dass er nicht aus
dieser, sondern aus einer eigenthümlichen Quelle geflossen ist
Plutarch wirft nämlich hier die Frage auf, woher die Tibicines
das Eecht erhalten haben, an den Idus des Juni (denn das
Eine Arbeitseinstelliing in Rom. 141
'lavovaQiaig eläölg in den Handschriften ist sicher ein Schreib-
fehler) in Weiberkleidern in der Stadt herumzuziehen; und er
antwortet: diese Künstler haben von Numa her wegen ihrer
gottesdienstlichen Venichtungen grosse Von-echte gehabt; als
ihnen diese von der' avdvfcaTiTii] öey^aäaQxicc („der proconsula-
rischen Decemviralgewalt") entzogen wurden, seien sie nach
Tibur ausgezogen, hier aber von einem Freigelassenen (in der
von Ovid beschriebenen Weise) betrunken gemacht und nach
Rom zurückgeschafft worden. Da die meisten von ihnen, von
dem nächtlichen Gelage her, in bunten Frauenkleidem zuillck-
gekehrt seien, habe sich seitdem die Sitte gebildet, dass sie an
dem genannten Tag in dieser Vermummung durch die Stadt
schwärmen.
Die Geschichtlichkeit dieser Erzählung scheint nun vor
dem ei-sten Ei*scheinen der gegenwärtigen Abhandlung von
keiner Seite bezweifelt worden zu sein. Allein wenn man sie
näher ansieht, drängen sich doch sehr erhebliche Einwen-
dungen auf.
Zunächst nämlich ist es schon im allgemeinen nicht eben
wahrscheinlich, dass die Quinquatrusfeier der römischen Musi-
kantenzunft, oder dass wenigstens die später übliche Art dieser
Feier, die Maskenzüge und sonstigen Strassenbelustigungen, so
jungen üi'spi-ungs sind. Die Tibicines gehörten, wegen ihrer
ünentbehrlichkeit für den Gottesdienst, in Rom augenscheinlich
zu den ältesten Gewerben, und daher auch zu den ältesten
Gewerbsgenossenschaften ; und so werden sie auch ausdrücklich
unter den neun frühesten, angeblich von Numa gebildeten
Zünften an ei-ster Stelle aufgeführt*). Dann hatten sie aber
natürlich auch ihr Zunftfest, wie diess ja auch die Angabe des
Livius über den Gmnd ihres Auszugs mittelbar voraussetzt;
und da nun alle derartigen Feste in Rom mit öffentlichen Auf-
zügen und Lustbarkeiten begangen zu werden pflegten, so ist
2um voraus zu vermuthen, dass es daran gerade bei der Zunft,
deren Beruf schon die Neigung dazu in vorzüglichem Grade
♦) Plut. Numa 17 u. A. vgl. Schwegler, Rom. Gesch. I, 547.
142 ^u^e Arbeitseinstelliiiig in Rom.
mit sich brachte, von Anfang an am wenigsten gefehlt habe,
dass der Mummenschanz und die sonstige Ausgelassenheit der
kleinen Quinquatrus nicht ei*st aus der Zeit des Appius Claudius
herstammen.
Diese Vermuthung bestätigt sich, wenn wir unsem Be-
richten selbst näher treten. Diese Berichte stimmen zwar in
gewissen Giiindzügen überein: sie alle sagen, dass die Pfeifer
wegen einer Schmäleiiing ihrer herkömmlichen Rechte nach
Tibur auswanderten; dass sie hier mittelst einer Einladung
betrunken gemacht und in diesem Zustand nächtlicher Weile
nach Rom zurückgebracht wurden; dass dieser Vorfall zu der
späteren Quinquatrusfeier Anlass gab. Aber die nähei-en Um-
stände werden sehr verschieden angegeben. Livius verlegt
den Vorfall in das zweite Jahr der Censur des Appius Claudius,
Ovid, wie es scheint, in das seiner Aedilität, Plutarch endlich
unter die ccvdvTvamfj d€y,adaQxlcc, d. h. unter die Decemvim,
welche auch in den capitolinischen Fasten decemviri consulari
imperio genannt werden (nicht die Consulartribunen, deren es
nie zehen waren); wobei freilich möglich wäi-e, dass er selbst
oder seine Quelle den Censor Appius Claudius mit seinem
AhnheriTi, dem Decemvir, verwechselt, und nur in Folge dieser
Verwechslung unsem Vorgang vom Jahr 311 iu 451—449 v. Chr.,
also um fast anderthalb Jahrhunderte hinaufgeiilckt hat
Fragen wir ferner nach dem Grunde der Secession, so nennen
Livius und Valerius die Abschaflfung des Festschmauses im
Jupiterstempel, Ovid die Beschränkung der zur Leichenbegleitung
berechtigten auf zehen, Plutarch allgemein die Aufhebung ihrer
Vorrechte. Was sodann die Art und Weise ihrer Ueberlistung
betrifft, so stimmen Ovid und Plutarch in der eigenthümlichen
Angabe zusammen, sie seien von einem Freigelassenen be-
wirthet, und durch das Vorgeben, sein Patron komme, zum
Aufbmch veranlasst worden. Von Erheblichkeit ist endlich der
Umstand, dass Livius von den Weiberkleidern und Masken,
in denen sie zurückgekehrt seien, nichts sagt, wogegen Plutarch
der ersteren, Valerius der andern, Ovid aber beider erwähnt,
und alle drei den entsprechenden Brauch bei der Quinquatrus-
Eine Arbeitseinstelliing in Rom. 143
feier daher ableiten. Warum aber die Ausgewanderten in
diesem Au£sug heimkamen, darüber sind auch sie keineswegs
einig. Nach Plutarch war es eben die Tracht, die sie in der
Ausgelassenheit des Gelages angelegt hatten; dieses selbst
aber erklärt er durch die pragmatische Bemerkung, es seien
bei demselben auch Frauenspei-sonen zugegen gewesen, dei*en
Kleider sie demnach mit den ihrigen vertauscht haben könnten.
Yalerius dagegen lässt sie ei*st in Rom die Masken (von denen
man freilich nicht recht sieht, wo sie dieselben auf einmal her-
bekamen) vorbinden, weil sie sich schämten; und ebendaselbst
hätten sie nach Ovid ausser den Masken auch die langen
Kleider angelegt, aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf
Geheiss des Plautius, welcher dadurch dem Senat und seinem
Collegen die Zahl der Zurückgekehrten habe verbergen wollen.
An sich würde nun aus diesen Abweichungen der Berichte
noch nicht folgen, dass denselben gar keine geschichtliche
Thatsache zu Grunde liege. Es könnte immerhin durch eine
Massregel des Appius Claudius, sei es des Censoi*s oder des
Decemvim, eine Secession der Tibicines veranlasst worden sein,
welche einerseits mit ihrer Rückkehr, anderei-seits mit der
Wiederherstellung der ihnen entzogenen Rechte endete, und
es könnte sich die Erinnerung daran in der Ueberlieferung
erhalten haben, wenn auch die näheren Umstände erst ver-
gessen und dann wieder nach Vermuthungen in verschiedener
Weise ergänzt wurden. Aber doch wird man, auch schon so
weit wir bis jetzt sind, sagen müssen: wenn die Erzählungen
über eine angebliche Thatsache so bedeutend von einander ab-
weichen, dass gleich glaubwürdige, und der Zeit nach sich
nahe stehende Schriftsteller (auch für Plutarch werden wir ja
eine ältere Quelle voraussetzen müssen) sowohl über die Zeit
eines Ereignisses als über seine Veranlassung und seinen näheren
Hergang widersprechend berichten, so beweist diess jedenfalls,
dass diese Berichte aus keiner genauen und zuverlässigen Ueber-
lieferung geflossen sind, und es fragt sich, ob und wieweit die
Züge, in denen sie sich nicht widersprechen, für geschichtlich
zu halten sind. Zum Beweis ihrer Geschichtlichkeit genügt
144 S«üie Arbdtseinstellang in Rom.
es aber nicht, sich darauf zu berufen, dass doch der Kern der
Geschichte bei allen Zeugen wesentlich gleich zu finden sei:
denn wie viele Fabeln gibt es nicht, die von mehreren in der
Hauptsache übereinstimmend erzählt werden! Ebensowenig
wird man sagen können : über ein Ereigniss aus so historischer
Zeit, wie das Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts,
werde keine gänzlich aus der Luft gegriffene Angabe in Um-
lauf gekommen sein und Glauben gefunden haben. Denn auch
abgesehen davon, dass Plutarch unsem Vorfall viel weiter
hinaufrückt: wissen wir denn, ob derselbe von Anfang an aus
der Zeit des Appius Claudius Cäcus erzählt, und ihr nicht erst
später, nachdem die Geschichte längere Zeit ohne Datum oder
mit einem anderen Datum im Umlauf gewesen war, zugetheilt
wurde ? wie es ja unendlich oft vorkommt, dass eine Anekdote
in der Folge an einen neuen, den Späteren bekannteren Namen
geknüpft wird. Gesetzt aber auch, die Auswanderung der
Pfeifer sei gleich anfangs in die Zeit des Censors Claudius,
und auch von Plutarch nur dui'ch ein Missvei-ständniss der
älteren Ueberlieferung in die des Decemvim verlegt worden:
warum sollte es unmöglich sein, dass gegen das Ende des
ersten vorchristlichen Jahrhunderts (und weiter gehen unsere
Quellen nicht hinauf) ein angeblicher Yoifall aus dem Ende
des vierten erzählt wurde, dem gar nichts thatsächliches zu
Grunde liegt? Oder findet sich nicht das gleiche auch noch
später ? Wie viel ist denn wohl thatsächliches an dem Wunder,
durch welches die Vestalin Claudia bei der Einholung der
Göttermutter vom Ida 204 v. Chr. ihre Unschuld bewährt
haben soll? oder an denen, welche die Verpflanzung des epi-
daurischen Asklepiosdienstes nach Bom v. J. 291 begleiteten,
und an so vielen anderen, an denen die römische Ueber-
liefemng auch aus den geschichtlich bekanntesten Zeiten so
reich ist? Wenn man jede Erzählung für wahr halten wollte,
welche in einer ihrem allgemeinen Charakter nach histoiischen
Zeit spielt, so müssten zahllose Fabeln für geschichtlich an-
erkannt werden. So wenig daher die Abweichung der Berichte
über unsem Vorfall zum Beweis seiner Ungeschichtlichkeit
Eine ArbeitseinstelluDg in Born. 145
ausreicht, so wenig reicht andererseits ihre Uebereinstimmung
in den Grundzügen zum Be^veis seiner Geschichtlichkeit aus;
wir müssen uns daher zur Entscheidung der Frage nach wei-
teren Merkmalen umsehen.
Solche finden sich aber, wie mir scheint, allerdings in dem
innem Verhältniss der Berichte. Von den zwei Versionen der
Erzählung, einerseits der des Livius und Valerius, andererseits
der des Ovid und Plutarch, hat zwar die erste dem nächsten
Anscheine nach das geschichtlichere Aussehen, und so folgt ihr
denn auch Prell er, Eöm. Mythol. 282. Nichtsdestoweniger
ist sie ohne Zweifel die abgeleitete, und nui* Ovid hat uns die
ältere und ursprünglichere, bei Plutarch bereits gleichfalls
etwas abgeschliffene Ueberliefei-ung aufbewahrt. Seine Dar-
stellung lautet nicht allein viel alterthümlicher und volks-
mässiger, als die des Livius, wie er überhaupt für den eigen-
thümlichen Geist der römischen Sage , mit ihren Märchen und
Schwänken, ohne Vergleich mehr Sinn hat, als jener; sondera
sie allein gibt auch einen in sich übereinstimmenden Hergang»
Bei Livius werden die Ausgewanderten in ihren Wagen zurück-
gebracht, lassen sich bewegen, zu bleiben, und erhalten dafür
nicht blos ihren Zunftschmaus zurück, sondern auch die Er-
laubniss, jedes Jahr drei Tage ihren Carneval auf den Strassen
zu halten. Hier fehlt jeder Zusammenhang zwischen Grund
und Folge: man sieht nicht ein, wie man in Rom dazu ge-
kommen sein soll, den Pfeifern neben der Zurückgabe ihres
Priviregium$ auch noch ein weiteres und gerade dieses Vorrecht
zu gewähren. Bei Ovid dagegen, und so weit sie mit ihm
übereinstimmen, auch bei Plutarch und Valerius findet diess
seine Erklärung: die Umzüge in Masken und Frauenkleidern
sind desshalb eingeführt worden, weil die Musikanten von Tibur
in diesem Aufzug zuiiickkehrten. Hier allein leistet die Er-
zählung, was sie bei allen Berichterstattem , auch bei Livius,
leisten soll, den bestehenden Gebrauch zu erklären; und wenn
diese Erklärung uns freilich sehr unwahrscheinlich vorkommen
muss, so passt sie dagegen (wie diess sogleich näher gezeigt
werden wird) um so besser zu dem Styl der Volkssage, und
Z e 1 1 e r , Vorträge und Abhandl. 10
146 "^^^ Arbeitseinstellung in Rom.
insbesondere der römischen Volkssage. Für einen Geschicht-
schreiber, wie Livius, lautete die Sage, so wie sie hier erzählt
wurde, zu unglaublich, und so macht er es denn auch hier,
wie er es überall macht, wo er es mit Sagen zu thun hat, in
welche sich die Aufkläining des augustischen Zeitalters nicht
mehr zu finden weiss: er streicht, was ihm zu bunt ist, um
sich aus dem Best einen Hergang von leidlich geschichtlichem
Aussehen zurechtzumachen. Aber die ursprüngliche Sage hat
uns der Dichter, der sie in ihrer ganzen Naivetät wiedergibt,
um ebensoviel treuer bewahrt, um wie viel uns der Sinn einer
ebenso lustigen deutschen Volkssage, der über die Weiber von
Weinsberg, aus dem bekannten Bürger'schen Bänkelsängerlied
unverfälschter entgegentritt, als aus dem Gemälde, in dem sich
ein neuerer Künstler abgemüht hat, den heiteren Schwank in
ein pathetisches Geschichtsbild zu verwandeln.
Gerade bei Ovid kommt nun aber auch das ursprüngliche
Motiv und der Charakter der ganzen Erzählung viel deutlicher
zum Vorschein, als bei Livius. Diese Erzählung will die Ent-
stehung der Bräuche des Quinquatrusfestes geschichtlich er-
klären. Sie thut diess in einer Weise, die dem Charakter
einer Volkssage, und näher einer komischen Volkssage, ebenso
entspricht, wie sie der geschichtlichen Wahrscheinlichkeit wider-
spricht. Die Pfeifer ziehen an ihrem Zunftfest in trunkener
Laune in Masken und Weibwkleidern hemm, weil sie seiner
Zeit betrunken in Masken und Weiberkleidem von Tibur heim-
gekommen sind, und diese Vermummung haben sie damals
angelegt, wie Ovid will, damit man nicht merke, wie zahlreich
sie zurückgekehrt seien, nach Valerius, weil sie sich schämten,
sich öffentlich sehen zu lassen, nach Plutarch, weil sie ohne-
dem von ihrer Schmauserei her in Weiberkleidem steckten.
Dass sie wirklich aus diesen Giünden bei ihrer Rückkehr ver-
mummt erschienen sein sollten, oder dass dieser vereinzelte
Vorfall zu dem jährlich wiederkehrenden Mummenschanz den
Anlass gegeben haben sollte, wird niemand glaublich finden.
Aber auch das, was die sämmtlichen Berichte behaupten, dass
die gesammte römische Musikantenzunft, welche zur Zeit des
Eine Arbeitseinstellung in Born. 147
Appius Claadius schon eine ganz erhebliche Mitgliederzahl
gehabt haben muss, in der Betrunkenheit von Tibur nach Rom
geschafiFt worden sei, ohne es zu merken, sieht einem Volks-
scherz ohne allen Vergleich ähnlicher, als einer wirklichen
Thatsache. Die ganze Geschichte ist mit Einem Woii;, gerade
in ihi-er ursprünglichen Gestalt, von der Art, dass man
überall, wo man sie anfasst, auf unmögliches und unwahr-
scheinliches stösst.
In demselben Mass aber, wie sie als thatsächlicher Vor-
gang unbegi'eiflich ist, wird sie uns als Ei'zeugniss der Sage
yei*ständlich. Die altrömische Sage besteht bekanntlich einem
grossen, vielleicht ihrem grössten Theil nach aus ätiologischen
Mythen. Irgend ein altes Denkmal war vorhanden, man.
wünschte zu wissen, wo es herkam; irgend ein auffallender
Frauch fand sich im Kultus oder in der Volkssitte, man fragte,
wie er entstanden sei. Die Antwort schöpfte man aber nicht
aus wissenschaftlicher Untersuchung, sondeni aus der Phan-
tasie : unter Benützung der Anhaltspunkte, die in der sonstigen
Sage oder in dem gegebenen Fall vorlagen, ei-sann man sich, wie
es zugegangen sein könnte, und diese pragmatische Vermuthung
ei'zählte und glaubte man dann als Geschichte. Dabei ist,
sofem es sich um die Erkläining eines Gebrauchs handelt, die
stehende Wendung die, dass die spätere Uebung von einem
Vorfall hergeleitet wird, bei welchem dasselbe vorbildlich ge-
schehen sein soll, was in der Folge, sei es in gleichaiüger oder
blos in symbolisch andeutender Weise geschah. So sollte der
Lauf nackter Jünglinge an den Luperealien daher stammen,
dass Romulus und Remus den Räubern, die während eines
athletischen Spiels ihr Vieh wegtrieben, nackt, wie sie waren,
nachgeeilt waren. Die Heimführung der Braut soll im Hoch-
zeitbrauch als gewaltsame Entfühi-ung behandelt worden sein,
weil die ei*sten römischen Frauen, die Stammesmütter der
dreissig Kurien, von ihren Männern gewaltsam geraubt worden
waren, und der Hochzeiti-uf Talassio von einem Rufe her-
stammen, der bei jener Gelegenheit gehört worden sei. Von
der fruchtspendenden Göttin Anna Perenna wurde ei-zählt, sie
10*
148 £ine Arbeitseinstellung in Rom.
sei urspiilnglich eine alte Frau gewesen, welche der Plebs bei
der Secession auf den heiligen Berg (494 v. Chr.) Brod ge-
backen habe, und zur Erinnerung daran ergebe sich die Plebs
an ihrem Feste dem Wohlleben ; und um die Beziehungen ihres
Kultus zu dem des Mai*s, und die bei demselben übliche Ab-
isingung zotenhafter Lieder zu erklären, wurde jenes Märchen
von dem Streich, welchen sie dem in Minerva verliebten Mars
gespielt haben sollte, beigefügt, das sich bei Ovid F. III, 675 S.
findet. Dass bei dem Herkulesdienst an der Ära maxima nur
den Tempeldienem ein Antheil am Opferschmaus zufiel, erklärte .
man duich die Angabe, bei der Einsetzung dieses Kultus seien
2wei Geschlechter mit seinen Functionen betraut worden, von
denen aber nur das eine sich rechtzeitig, das andere erst nach
dem Mahl eingestellt habe; und indem man auf die letzteren
den Namen eines bestehenden Geschlechtes, der Pinarier („Hun-
gerer", als ob es von neiv^v herkäme), übertrug, nannte man
die andern um des Gegensatzes willen Potitier („Besitzer");
weil es aber in Wirklichkeit gar keine poticische Gens gab,
sondern jener Kultus von Staatssklaven besorgt wurde, fügte
man bei, Appius Claudius (dei*selbe, der in unserer Geschichte
auftritt) habe die Potitier beredet, ihre Venichtungen Staats-
sklaven zu überlassen, und in Folge dieses Frevels sei das
ganze Geschlecht ausgestorben. Ebenso erklärt Plutarch qu.
rom. 60 die Ausschliessung der Frauen von den Opfeni auf
der Ära maxima daraus, dass bei ihrer Stiftung Carmenta mit
ihren Frauen zu spät gekommen sei. Noch viele andere Bei-
spiele dieser Aetiologie Hessen sich anführen ; ein sehr bezeich-
nendes wird uns sogleich vorkommen.
Der gleiche Ursprung ist nun für einige Züge unserer
Ei-zählung keinenfalls zu bezweifeln. Ihre Maskenzüge haben
die Tibicines sicher nicht desswegen gehalten, weil sie damals
von Tibur maskirt zurückkehrten, sondern um jenen Gebrauch
zu erklären, wurde erzählt, sie seien in Masken und Frauen-
kleidern zuiUckgekommen , wofür man dann bald diesen bald
jenen näheren Grund, einer so unwahrscheinlich wie der andere,
aussann. Ebenso verhält es sich mit ihrer Betiiinkenheit;
Eine Arbeitseinstellung in Rom. 14d
denn dass es bei dem ausgelassenen EUnstleifest an Betrun-
kenen nicht fehlte, würden wir auch ohne das Zeugniss Cen*
sorin's'*') glauben. Auch dieser Ziig musste in dem Hergang
bei der Stiftung der Feier sein Vorbild haben: weil sich die
Musikanten bei ihrem Feste zu betrinken pflegten, musstei
sie schon damals betmnken gewesen sein. Dass fenier der
Umzug der feieniden Künstler zu Wagen gehalten wurde, wird
zwar nicht ausdrücklich überliefeii;; aber es ist an Isich so
denkbar, dass die Vermuthung in ihrem Rechte sein wird, die
nächtliche Wagenfahrt, durch welche die Ausgewanderten,
abenteuerlich genug, von Tibur nach Rom zurückgebracht
werden, sei gleichfalls nicht aus der Erinnerung an einen ge-
schichtlichen Vorgang geflossen, sondeni zur Erklärung des
späteren Gebrauchs erdichtet. Mit diesen Zügen hängt endlich
auch das Gelage in Tibur zu eng zusammen, als dass wir nicht
auch darüber ebenso urtheilen müssten; und so mag namentlich
die eigenthümliche, von Ovid und Plutarch übereinstimmend
gebrachte Angabe über die Einladung durch einen Frei-
gelassenen und die Auflösung der Gesellschaft durch den Ruf:
„der Patron kommt", in den stehenden Schemen des Masken-
festes einen Anlass gehabt haben, wenn wir diesen auch nicht
mehr nachweisen können. Wie verhält es sich dann aber mit
dem Auszug nach Tibur selbst ? Dieser Auszug ist so sehr blos
ein Mittel, um die Rückkehr der Betrunkenen und Veimummten
herbeizuführen, dass er mit ihr steht und fällt; die ganze Ge*
schichte ist von Anfang bis zu Ende darauf angelegt, den
Mummenschanz des Quinquatrusfestes geschichtlich zu erklären :
ist nun diese Erklärung unverkennbar fabelhaft, so haben wir
kein Recht, das weitere, was ihr blos zur Unterlage dient, für
geschichtlich zu halten. Die Umzüge der Musikanten an ihrem
Zunftfest wurden davon hergeleitet, dass sie einmal in der
gleichen Weise, wie später, auf Wagen und vermummt, in
*) Di. nat 12, 2: es sei den tibicines erlaubt, Qumguatrilms mmus-
cutis, ft. e. iä/Sbus Jumis, urhem vesHtu quo veUent personctUs temtUenbisque
pervagan.
'xnak/xagsaa. Znauad, •axbsoiMRK maii «n iber eiiiiidie& la
jsrimia. niuscm Sft T^msc aosECBoas »n. nd wcmi finr duBea
JUfOsur «LO. MfjCrr z^sksc varracL 30 Lue €s in Rom, sdKm nidi
'tai SwfiffiMKiL do^ Kcte. od&e gpmy ja äse Eiinlnuig za
^euKft. '£e fi« TCTSBiaesc oaÄe. Em fbre Dienste m ent-
Z2«&^», AiK ds^eseik rmfafcAp» Xotzrem erklärt sich der ganie
i9<a^»t:üdb« luah wasatr EräUsae. Wimm äe aber gerade
aa/!Jk Tibor gcaacen seia ^cDcem. dafib*. könnte man sagen, lasse
ikh zwar kein Ixstinuster Gnmd angeben: da sie aber doch
nrnKifMiiroInn gezogen sein mnssten. habe Tibor so gut, wie jeder
andere Ort in der Xähe. gewihk werden können. Indessoi
fcatt^ obne Zweifel aneh dieser Zug seine nähere Veranlassnngi
MA^did». daflft gcb der Festzog an den Qoinqaatros, om die
ätadt itrr^ j^anzen Breite nach zo dorchschreiten. vom esqoili*
Bri^bM, mjth Tibor fthrenden Thor aas, Ober das Forom zum
T^flAp^l der Minenra aof dem Aventin bewegte. Möglich aber
aoü^h, daits da^ Kommen Ton Tibor ond daher aoch die Aos-
Wanderung nach Tibor nor einem Wortspiel, wie diese in allen
ätiolrigijichen Mythen, ond ganz besonders in den römisehoo,
eine it/i bedeotende Bolle spielen, ihre Entstehong verdanken;
ei( wäre wenigstens ganz im Styl solcher etymologischen Yolks-
witze, wenn die Tibidnes als „die ans Tibor* behandelt, und
etwa auch in diesem Sinn bei ihrem Umzug angeredet worden,
oder wenn der Zug ii^endwo angehalten und b^ngt wurde»
wo er herkomme, und darauf geantwortet wurde: von Tibur.
80 erklärt sich unsere ganze Erzählung, auch wenn ihr gar
kein bestimmter geschichtlicher Vorfall zu Grunde liegt, als
ein scherzhafter ätiologischer Mythus vollständig; und da
gerade bei denjenigen Zügen gar keine andere Erklärung
möglich ist, in denen die eigentliche Tendenz der Erzählung,
die Ableitung des späteren Brauches aus dem angeblichen frQ-
heren Vorfall, am unmittelbarsten an den Tag tritt, so werden
wir der gleichen Erklärung auch in Betreff ihi-er übrigen Be-
standtheilc überwiegende Wahi*8cheinlichkeit zuerkennen müssen.
Nur damach könnte man fragen, wie die Sage dazu gekommen
sei, den angeblichen Auszug der Musiker an den Namen des
Eine Arbeitseinstellung in Born. 151
Censoi*s Appius Claudius zu knüpfen; und es ist immerhin
möglich, dass irgend eine beschränkende Massregel, die dieser
Censor während seiner Amtsfühiiing ergiiffen hatte, den Anlass
dazu gegeben hat. Sicher ist aber auch diess nicht, denn wie
manche Fabel ist nicht ohne jeden thatsächlichen Anhalt an
geschichtliche Personen und Ei*eignisse angeknüpft worden
(z. B. die oben angeführte über die Bona Dea an die Secession
der Plebs); und es ist diess um so weniger, da Livius einen
anderen Grund des Auszugs angibt, als Ovid, Plutarch aber
statt des Censors Appius Claudius die Decemvirn nennt. Es
ist nicht undenkbar, dass der ganze Vorfall ursprünglich in
eine frühere Zeit verlegt und mit dem Appius Claudius, welcher
die Vorrechte der Tibicines gekränkt haben sollte , der durch
seine Gewaltthätigkeit vemifene Decemvir gemeint war, und
dass erst in der Folge, als sich sein gleichnamiger Nachkomme
(Liv. IX, 24) durch seine strenge, auch in das sacrale Her-
kommen und die freie Bewegung des Volkslebens lilcksichtslos
eingreifende Censur einen Namen gemacht hatte, die Verletzung
der Tibicines (ähnlich, wie die obenberührte Aufhebung des
Dienstes der Potitier an der Ära maooima) auf ihn übei*tragen
wurde.
Wie es sich nun biemit verhält, lässt sich nicht ausmachen.
Dass aber eine solche Sagenbildung, wie ich sie in unserem
Fall annehme, gerade nach dem Charakter der römischen
Volkssage leicht möglich war, dafür möge es mir erlaubt sein,
hier noch ein Beispiel anzuführen, welches auch die Erzählung
über den Auszug der Tibicines zu beleuchten geeignet ist. Am
11. und 15. Januar wurden der Geburtsgöttin Caimenta in
ihrem Heiligthum beim caimentalischen Thor von den Matronen
Feste gefeiert, bei denen sie natürlich vor allem um Kinder-
segen und Bewahrung der Gebärenden angefleht worden sein
wird, üeber diese Feier und das ihr gewidmete Heiligthum
geben nun Ovid (F. I, 616 flf.) und Plutarch (qu. rom. 56)
folgende Legende. Den Matronen sei einst das Ehrenrecht,
auf Wagen (carpenta) zu fahren, (welches sie angeblich wegen
der patriotischen Aufopferung ihres Goldschmucks nach der
152 Sin® Axbdtseinstellaiig in Rom.
Eroberung Veji's, 396 v. Chr., erhalten hatten*), vom Sraat
wieder entzogen worden. Ueber diese Kränkung erbittert,
haben die sämmtlichen Frauen sich verschworen, dem undank-
baren Staat fernerhin keine Nachkommenschaft mehr zu
schenken , und sie haben diesen Entschluss ausgeführt , indem
sie, nach Plutarch, sich der Berührung ihrer Männer entzogt,
oder gar, wie Ovid sagt, alle Kinder vor der Geburt abtrieben.
Durch diese terroristische Massregel habe sich denn der Senat
gezwungen gesehen, nachzugeben, und ihnen ihre Wagen wieder
zu gestatten. Zur Erinnerung daran sei, wie es bei Ovid
heisst, der zweite Feiertag eingeführt worden, der nach einer
anderen Angabe**) 426 v. Chr. von dem Dictator Aemilius
Mamercus gestiftet war; nach Plutarch hätte der Vorfall, als
nach der Vei*söhnung der Frauen sich der Segen der Göttin
in leichten und reichlichen Geburten sichtbar ei-wies, zur
ei*sten Stiftung ihres Heiligthums Anlass gegeben. Hier haben
wir nun die reine Fabel, und an einen bestimmten geschicht-
lichen Anlass der Erzählung ist offenbar in keiner Beziehung
zu denken: das ganze ist auf ätiologischem Wege aus der
Thatsache, dass Carmenta dieses Heiligthum hatte und an zwei
Tagen von den Matronen verehii; wurde, mittelst der unglaub-
lichen Ableitung ihres Namens von den carpenta (Ovid fi-eilich
meint umgekehlt, die carpenta seien wohl nach der Carmenta
benannt) herausgesponnen. Andererseits aber lässt sich nicht
verkennen, dass diese Erzählung der unsrigen in ihrer ganzen
Anlage und ihren Motiven ausserordentlich ähnlich ist. In
beiden Fällen soll eine Feier, die einer bestimmten Klasse der
Bevölkerung eigenthümlicb ist, erklärt werden, 'und diess ge-
schieht durch die Annahme, sie sei zur Erinnerung an einen
einzelnen, diese Bevölkerungsklasse betreffenden Vorgang ge-
stiftet worden, welcher näher darin besteht, dass dei*selben ein
ihr zustehendes Recht von der Staatsgewalt entzogen wird,
*) Liy. y, 25 u. A. Das Nähere bei Schwegler, Rom. Oesch.
229, 4.
•*) Vgl. Prell er Rom. Mythol. 358.
Eine Arbeitseinstellung in Born. 153
und sie sich die Zurückgabe desselben durch Einstellung ihrer
bisherigen Leistungen für die Gesellschaft erzwingt. Ist nun
diese Erzählung in dem einen Fall unbestreitbar eine Dichtung,
die jedes geschichtlichen Grundes entbehrt , so wird sich nicht
läugnen lassen, dass sie diess in dem andern, durchaus analogen,
ebenfalls sein kann. Beide Sagen sind nach Einem Typus ge-
bildet, so wenig sie auch sonst mit einander in Beziehung
stehen; beide sind aller Wahrscheinlichkeit nach gleich un-
geschichilich ; aber beide sind auch schlagende Beispiele des
W^es, auf welchem derartige Erzählungen sich zu bilden
pfl^ten. So unerheblich daher ein Vorfall, wie der Auszug
der Pfeifergilde, als geschichtlicher Vorgang auch wäi^e, so
beachtenswertb ist doch immerhin der Beitrag zui' römischen
Sagengeschichte, den wir ihm entnehmen können, und aus
diesem Gesichtspunkt wird auch seine eingehendere Bespre-
dnmg nicht ungerechtfertigt ei*scheinen.
IV.
Alexander und Peregrinns.
Ein Betrüger und ein Schwärmer.
(Deutsche Rundschau Januar 1877.)
Der Unglaube, sagt man, und der Aberglaube seien zwei
Brüder, die fortwährend im Streit liegen und doch nie von
einander lassen können; wo der eine von beiden sich eines
Theils der menschlichen Gesellschaft bemächtigt habe, da habe
man sicher auch Aach dem andern nicht weit zu suchen. Und
wenn wir nach Belegen für diesen Satz fragen, nennt man vor
allem zwei Perioden, welchen in der Geschichte der mensch-
lichen Geistesentwicklung eine hervon*agende Bedeutung zu-
kommt: die Zeiten der römischen EaiserheiTSchaft und das
achtzehnte Jahrhundert. Diess ist nun auch in gewissem Sinn
richtig. Aber es kommt alles darauf an, was man unter Aber-
glauben und Unglauben versteht. Will man alles das Aber-
glauben nennen, was reineren Begriffen widerstreitet, so wird
man dessen in jeder positiven Religion mehr als genug finden;
und nach dem Massstab unseres Wissens und Denkens würde
man in dem religiösen Leben und Glauben ganzer Völker und
Zeiten — wie diess ja fiilher nur allzu gewöhnlich war —
nichts als Aberglauben sehen können. Dann liesse sich aber
nicht behaupten, der Aberglaube sei immer mit dem Unglauben
verschwistei*t; da gerade bei solchen Völkern und in solchen
Zeiten ein Zweifel an der Wahrheit des überlieferten Glaubens
nur selten gewagt wii*d. Soll andererseits jeder ein ün-
Alezander und Peregrinus. 155
gläubiger heissen, der einem thatsächlich bestehenden und an-
erkannten Glauben widei*spricht , so müsste man alle Refor-
matoren, alle, die sich um Aufklärung der religiösen Begriffe,
um Läuterung des froiAmen Gefühls, um Veredlung der Gottes-
verehrung ein Verdienst erworben haben, den Ungläubigen zu-
zählen. Der grossen Mehi*zahl ihrer Zeitgenossen haben sie
ja auch alle dafür gegolten. Leibniz war als der „Glaube-
nichts** verschrieen, Sokrates ist als Götterfeind veruitheilt
worden ; und in den Jahrhunderten vor Constantin waren es die
Christen, an die man zuerst dachte, wenn von Atheisten die
Rede war. Dass aber diese Art von „Unglauben** den Aber-
glauben nicht allein zum Gegner, sondern auch zum Begleiter
habe, kann man nicht sagen. Nicht einmal von den wirklich
Ungläubigen, von denen, die überhaupt keine Religion haben
und haben wollen, wird man ohne weiteres annehmen können,
sie seien desshalb für den Aberglauben empfänglicher, als
andere ; und anderei-seits findet man gi*osse Theile der mensch-
lichen Gesellschaft, deren Religion zu einem äusserlichen Cäri-
monienwesen, einem geistlosen Aberglauben, entartet ist, ohne
dass von irgend jemand die Kraft jener Cärimonien oder die
Wirklichkeit der Wesen bestritten würde, auf die sie sich be-
ziehen. Nur dann ist der obige Satz richtig, wenn man unter
dem Aberglauben nicht jeden religiösen Inthum verateht,
sondem blos denjenigen, welcher für den Glaubenden
selbst seine Wahrheit verloren, der ihm für sein religiöses
Leben etwas zu leisten und zu bedeuten aufgehört hat, der
aber trotzdem festgehalten wird; und unter dem Unglauben
nicht jede Bestreitung des überliefeiten Glaubens, sondern nur
eine solche, die von keinem Einst der Gesinnung, keiner
eigenen Ueberzeugung getragen ist, die das, was anderen
lieilig ist, desshalb hatsst, weil ihr selbst nichts heilig ist, mit
Einem Worte, die frivol ist. Bei dieser Art von Aberglauben
und dieser Art von Unglauben ist es allerdings sehr erklärlich,
dass beide einander theils voraussetzen, theils hervorinifen.
Der Aberglaube in diesem Sinn ist ein wurmstichiger Glaube;
ein Glaube, der den Unglauben in sich trägt, dem dieser
156 Alexander und Peregrinos.
seinen innersten Keni zei-stört und nur die leere Hülse übrig
gelassen hat, der daher nur über sich selbst aufgeklärt, nur
zum Bewusstsein seiner wahren Beschaffenheit gebracht zu
werden braucht, um in Unglauben umzuschlagen. Der Un-
glaube seinei*seits ist eine Verneinung, die an keiner Bejahung
ihren Halt hat, ein Aufgeben der Religion ohne anderweitigen
Ersatz. In dieser Leere werden es die wenigsten auf die
Dauer aushalten, sie werden statt des Glaubens, den sie ver-
loren haben, einen anderen suchen ; da es ihnen aber an einer
positiven Ueberzeugung fehlt, fehlt es ihnen auch an einem
sicheren Urtheil über Wahr und Falsch. Frivol,' wie sie sind,
bezweifeln sie in ihrem Innei*sten jede Wahrheit, lassen sich
aber ebendesshalb am Ende, wenn einmal etwas geglaubt
werden soll, alles gleich sehr gefallen. Was ihnen früher
einen äusseren Halt bot, gewährt ihn nicht mehr; frei auf
eigenen Füssen zu stehen, haben sie nicht gelernt; so halten
sie sich an das nächste beste, ohne doch emstlich daran zu
glauben : der Unglaube treibt sie dem Aberglauben, die Ober-
flächlichkeit ihres Zweifels einem obei-flächlichen Fürwahrhalten
in die Anne.
Eine solche Mischung von Glaubensbedürfniss und Zweifel,
Und weiterhin von Aberglauben und Unglauben, wird sich nun
im giossen immer nur da finden, wo ein namhafter Theil der
Gesellschaft im Uebergang von einer veralteten Bildungsform
zu einer neuen begriffen ist, die, mit jener verglichen, sich als
eine freiere und aufgeklärtere darstellt. Eben diess war denn
auch wirklich in den Perioden der Fall, die uns oben als Bei-
spiele für jene Erscheinung gedient haben. Wenn uns in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts neben einer Frei-
geisterei, die ihren Atheismus selbstgefällig zur Schau trug,
eine seltsame Vorliebe für alles geheimnissvolle und magische
auffällt, wenn das Zeitalter Diderot's und Holbach's auch das
Mesmer's und Cagliostro's war, und wenn nicht selten die
gleichen Gesellschaftsklassen und die gleichen Personen für
beides zugleich schwärmten, heute mit den Aufklärern gegen
den Abei-glauben loszogen und morgen zu einem Walirsager
Alexander und Peregrinus. 157
oder Geisterbeschwörer ihre Zuflucht nahmen, so sind diess
die chai'akteristischen Züge einer Zeit, in der das Alte keinen
Halt mehr gewährt und das Neue, das man sucht, noch nicht
da ist. Eines äusserlich gewordenen Kirchenthums, eines un-
verständlichen Lehrsystems ist man überdrüssig; aber die
wenigsten sind dessen, was an seine Stelle treten soll, so
sicher, in ihrer Aufklärung so befriedigt, dass sie nicht immer
wieder der eben verlassenen Stützen bedürften. Allein zu dem
Glauben und den Gebräuchen, die dem Spott der starken
Geister erlegen sind, kann man kein Herz mehr fassen. Man
greift daher nach den alten Zaubeimitteln in anderer Um-
hüllung: die priesterliche Magie wird vei-schmäht, die neu
auftretenden Geheimnisskrämer und Gaukler finden ihre
Rechnung.
Nicht andei*s haben wir auch die verwandten Erschei-
nungen in den ei*sten Jahrhundeiien unserer Zeitrechnung zu
beurth eilen. Der alte Götterglaube der Griechen und Römer
war damals schon längst durch Zweifel erschüttert, die sich
aus den Schulen der Philosophen seit Jahrhunderten in immer
weitere Kreise verbreitet hatten. Wer einer wissenschaftlichen
Bildung bedurfte, der suchte sie bei den Philosophen, und er
konnte sie nur hier suchen. Unter allen diesen Philosophen
war aber nicht Einer, welcher die Voi-stellungen des Volkes
und der Dichter über die Götter noch ernstlich getheilt hätte.
Ob Peripatetiker oder Akademiker; ob stoische Pantheisten
oder epikureische Deisten: darüber waren sie alle einver-
standen, dass jene Vorstellungen nichts anderes seien, als
Mythen ; nur dass ihnen die einen einen tieferen Sinn unter-
legten, während sie von den andern mit der wissenschaftlichen
Vornehmheit eines Aristoteles und Plato zur Seite geschoben.
oder mit dem aufklärerischen Fanatismus Epikur's verunglimpft
wurden. Für die Gebildeten war nicht allein in der griechi-
schen, sondera auch in der römischen Welt die Philosophie an
die Stelle der Volksreligion getreten ; und auch wer kein Schul-
philosoph war, hatte sich doch in der Regel die allgemeinsten
Resultate der einen oder der anderen Schule angeeignet, oder
158 Alezander und Peregrinos.
sich auch aus den Lehren verschiedener Schulen einen Glauben,
wie er ihm zusagte, zurechtgemacht. Aus den oberen Klassen
der Gesellschaft senkte sich diese Denkweise mit der Zeit
immer mehr in die tieferen Schichten herab, und so fehlte ea
freilich vom Standpunkt der alten Religion aus nicht an Ver-
anlassung, über die zunehmende Ausbreitung des Unglaubens,
das Vei-schwinden der Gottesfurcht und Frömmigkeit zu klagen.
Aber wenn schon von den Philosophen nicht wenige, im ersten
und zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung wohl die Mehr-
zahl, sich bemühten, den offenen Bnich mit der Volksreligion
zu umgehen, in die mythischen Göttergestalten und ihre Ge-
schichte, je abenteuerlicher sie sich ausnahm, um so gewisser,
mit der vollen Willkür der ausschweifendsten Allegorie philo-
sophische Lehrsätze hineinzudeuten, so begnügten sich die Un-
gelehiten in der Regel noch viel weniger mit den Brosamen,
die ihnen von den Tischen der Gelehrten zugefallen waren ; je
weniger sie vielmehr auf dem Boden ihres altväterlichen
Glaubens noch feststanden, in den herkömmlichen Religions-
übungen und Kultusgebräuchen sich befriedigt fanden, um so
lebhafter und allgemeiner entwickelte sich die Neigung, durch
den Beistand auswärtiger Gottheiten und durch ungewohnte
Formen der Gottesverehrung die innere Beruhigung und die
äusseren Lebensgüter zu erlangen, welche man von der Ver-
ehning und der Gunst der einheimischen Götter zu gewinnen
nicht mehr recht vertraute. Von Rom aus wandte man sich
hiefür in der älteren Zeit vorzugsweise an die Griechen; aus
Griechenland, seit Alexander und seine Nachfolger den Orient
den Hellenen erschlossen hatten, an die asiatischen Völker,
die aus dem unerschöpflichen Vorrath ihrer vielgestaltigen
Religionen immer neue Götter und Gottesdienste spendeten.
Seit vollends die römischen Waffen über den Nil und den
Euphrat vordrangen, seit zahllose Bewohner der östlichen
Länder als Kriegsgefangene, als Sklaven, als Soldaten, als
Handelsleute, als Handwerker, als Astrologen, Magier, Gaukler
und Priester in das Abendland einwanderten, seit Syrien und
Kleinasien, Nordafrika und Aegypten von römischen Beamtea
Alexander und Peregrinns. 159
regiert, mit römischen Heeren besetzt waren, ergoss sich ein
immer breiterer Strom orientalischen Glaubens und Aber-
glaubens in den Westen, und vor allem in die Hauptstadt des
grossen Weltreichs, nach der alle guten und sihlechten Ele-
mente der Zeit hindrängten, um sich an dem Orte zur Gel-
tung zu bringen, wo sie sich im Fall des Gelingens auf den
grössten Gewinn und den durchgi-eifendsten Erfolg Rechnung
machen' konnten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Religions-
mengerei seit dem Ende des zweiten christlichen Jahrhundei*ts,
als längere Zeit Orientalen und Halborientalen den römischen
Eaiserthron einnahmen, und bald auch die Philosophie im Neu-
platonismus sich einem immer massloseren Synkretismus in die
Arme warf. Zu welcher Macht aber der Aberglaube auch
schon um die Mitte des zweiten Jahrhundeii;s in der römisch-
griechischen Welt herangewachsen war, welche Bewundening
selbst die unsinnigsten Excesse der Schwärmerei fanden, was
sich anderei*seits alle Theile der damaligen Gesellschaft von
gewandten Beti-ügera bieten Hessen, davon hat uns, neben
anderen, der bekannte Satyriker Lucian aus eigener Anschau-
ung zwei denkwürdige Beispiele in der Geschichte seiner Zeit-
genossen, des paphlagonischen Propheten Alexander von Abonu-
teichos und des Cynikers Peregiinus, aufbewahit.
Die Geburt Alexander 's fällt unter die Regierung Tra-
jan's, sein Tod in das letzte Jahrzehend Mark Aui-ers; jene
etwa 102—105, dieser 172—175 unserer Zeitrechnung. Lucian,
der mit ihm, wie wir sehen werden, in seinen späteren Jahren
in eine gefährliche Berührung kam, beschreibt ihn als einen
hochgewachsenen, stattlichen Mann von würdigem Aussehen,
ehrfurchtgebietendem Blick und gewinnendem Wohlklang der
Stimme; nur die Haare, welche sein Haupt in reicher Fülle
ximgaben, waren damals gi*össtentheils fremde. In seiner Jugend
war er nach Lucian ein ungewöhnlich schöner Mensch gewesen.
Ebenso hervorstechend war seine geistige Ausstattung, wie
man diess nach der Bolle, die ihm zu spielen gelang, gerne
glauben wird. Schlau und verwegen, gewissenlos und frech,
wusste er doch jeden durch seine entgegenkommende Freund-
1^ Alexander und Peregrinos.
lichkeit, seine anscheinende Biederkeit und Einüadbliat fibr
sich einzunehmen ; kühn und erfindeiisch, war er um die Mittel
zur Ausführung seiner Pläne nie verl^en. Als junger Mensch
hatte er sein^ Schönheit zu dem schjnählichsten Gewerbe ge-
missbraucht Auf diesem Wege war er mit einem finheren
Schüler des beiilhmten neupythagoreischen Wundermanns
Apollonius von Tyana bekannt geworden, einem Arzte, der
abei: auch mit magischen Künsten gute Geschäfte machte. Von
diesem wurde er zum Gehülfen angenommen und nicht blos
in sein ärztliches Wissen, sondern auch in seine übrigen Ge-
heimnisse eingeweiht ; mit der neupythagoreischen Schule, einer
von den Bmtstätten abergläubischer Speculation, sehen wir
ihn auch später im Zusammenhang, indem er den Weisen aus
Samos anpreist, sein Dogma von der Seelenwanderung fOr sich
verwendet, und sich selbst als wiederei'schienenen Pythagoras
aufspielt. Nach dem Tode seines Meisters verband er sich mit
einem Spiessgesellen ähnlichen Schlages, Namens Eokkonas,
zu gemeinschaftlichem Gewerbebetrieb ; und nachdem sie BiUiy-
nien und Macedonien als Zauberer und Wahrsager durch-
zogen hatten, fassten sie den Plan, ein neues Orakel zu be-
gründen. Als der geeignete Ort dafür wurde Alexander's
Heimath, die kleine paphlagonische Stadt Abonuteichos , ge-
wählt, welche an der Südküste des schwarzen Meeres, westlich
von Sinope, lag; denn seine paphlagonischen Landsleute, ver-
sicherte Alexander, seien so abergläubisch und dem Orakel-
wesen so blind ergeben, dass sie nirgends günstigere Aussichten
haben könnten. Um aber den Plan schon von weitem vorzu-
bereiten, wurden zunächst im Apollotempel zu Chalcedon (ar
der kleinasiatischen Küste, gegenüber von Byzanz) ein paa
Erztafeln vergraben und dann wieder aufgefunden, die vei
kündeten, dass Asklepios und sein Vater Apollo sofort nac
Abonuteichos übersiedeln werden. Was die beiden Gaun
damit bezweckten, traf ein: die Kunde von dem merkwtlrdig
Funde verbreitete sich schnell über die benachbarten Land
die guten Büi'ger von Abonuteichos fühlten sich durch
Absicht des Heilgottes, ihr Landstädtchen zu seiner Resi(?
Alexander und Peregrinus. 161
ZU machen, ausserordentlich geschmeichelt, und beschlossen,
ihm einen Tempel zu errichten, an dessen Bau sie auch sofort
durch Ausgrabung der Fundamente Hand anlegten. Um die
Sache dort weiter in Scene zu setzen, begab sich Alexander
in seine Heimath ; Kokkonas, der ihm später nachfolgen sollte,
starb noch in Chalcedon. Orakelspiiiche , die der neue Pro-
phet in Umlauf gesetzt hatte, darunter auch einer der alten
Sibylle, kündigten ihn seinen Mitbürgern als einen Nachkommen
des Perseus und einen leiblichen Sohn des Podaleiiios an, der
selbst bekanntlich der Sohn des Asklepios war. Dieser hohen
Abkunft entsprach denn auch sein Auftreten. Im Pui^ur-
gewand, mit einem Säbel umgürtet, wie ihn sein Urahne Per-
seus getragen haben sollte, hielt er seinen Einzug; wenn der
Gott über ihn kam, gerieth er in Ekstase und zeigte, wie ein
Schamane, einen künstlich gemachten Schaum vor dem Munde ;
er that mit Einem Wort alles, um seine leichtgläubigen Lands-
leute zu überzeugen, dass sie wirklich einen Liebling der
Gotter und einen Pi-opheten höheren Ranges unter sich hätten.
Nach diesen Vorbereitungen ward nun der Ausführung des
schwindelhaften Unternehmens näher getreten. Eine Haupt-
roDe war dabei einer grossen gezähmten Schlange zugedacht,
die der Gaukler schon fiiiher angekauft und an sich gewöhnt
hatte. In der Gestalt dieses seines heiligen Thieres sollte
nämlich Asklepios in seine neue Residenz einziehen. Zu dem
Ende nahm Alexander zunächst eine kleine Schlange, steckte
8ie in die leere Schale eines Gänseei's und legte dieses nächt-
Keher Weile in das Wasser eines Grabens, der für die Fun-
damente des neuen Tempels ausgehoben war. Am anderen
Morgen lief er dann nackt, mit einem Guil um die Lenden
nnd seinem Säbel an der Seite, auf den Markt und verkündete
in enthusiastischen , halb verständlichen Worten die Ankunft
des Gottes. Von da rannte er auf die Baustätte des Tempels,
die halbe Stadt hinter ihm her, und nach mancherlei Gebeten
nnd Hymnen wurde dann wirklich der neugeborene Gott vor
aller Augen in seinem Ei aufgefunden. Statt seiner zeigte der
Prophet nach einigen Tagen der Menge, die von allen Seiten
Zeller, Vorträge und Abhandl. 11
162 Alexander und Peregrinus.
herbeiströmte, die ausgewachsene Schlange, welche er hiefür
schon längst in Bereitschaft gehalten hatte; was natürlich bei der-
selben kein Bedenken, sondern nur ein gläubiges Staunen über
das schnelle Wachsthum des Gottes hervomef. Ebensowenig
kam man darauf, dass das wunderbare Aussehen der göttlichen
Schlange das Werk eines gemeinen Taschenspielei*stücks war.
Statt ihres eigenen Kopfes liess nämlich Alexander, wenn er
sich mit der Schlange um den Hals in seinem halb dunkeln
Gemach zeigte, einen aus Leinwand verfertigten bemalten
Schlangenkopf aus seinem Gewand hervorstehen, der eine ge-
wisse Aehnlichkeit mit einem Menschengesicht zeigte und so
eingerichtet war, dass er durch einen Zug mit Pferdehaai*en
geöffnet und geschlossen werden konnte. In der Folge wurde
sogar eine Röhre in diesen Kopf geführt, mittelst deren ein
Helfershelfer den Gott sprechen lassen konnte; doch waren
solche „selbstgesprochene" Orakel eine grosse Vergünstigung,
die besondei-s gut bezahlt werden musste.
Nachdem für den Gott gesorgt war, wurde das Orakel
eröffnet. Die eben geschildei-ten Vorgänge hatten ein hin-
reichendes Aufsehen erregt, um demselben von vonie hereim^
den nöthigen Zulauf zu sichern. Durch Paphlagonien \m(%
Galatien, Bithynien und Thracien verbreitete sich das Geruch^
von dem neu ei-schienenen Gott Glykon, wie er sich nannte
Bilder desselben aus Erz und aus Silber, Zeichnungen xai^
Gemälde wurden verfertigt und fleissig gekauft; und als sei
Prophet ankündigte, dass der Gott an einem bestimmten Tag
seine Sprüche ertheilen werde, fehlte es nicht an Gläubige
welche die Zukunft durch ihn zu erfahren begehrten. D
Orakel erfolgten in der Regel in der Art, dass die, welche f
nachsuchten, ihre Anfragen in einer versigelten Schrift üb«
gaben; diese wurde ihnen dann im Asklepiostempel feierl'
zurückgegeben, und bei ihrer Eröffnung fanden sie die Antw
des Gottes darunter geschrieben. Alexander hatte natür
die Sigel unbemerkt geöffnet und wieder vei*schlossen; d
diese Kunst stand schon im Alterthum nicht weniger in Bl(
als in den schwai-zen Kabineten der Neuzeit, und Luciav
Alexander und Peregrinus. 163
schreibt uns die Kunstgriffe des näheren, deren man sich hieftir
bediente. Nur wenn der Prophet die Eröffnung einer beson-
ders sorgfältig vei-schlossenen Schrift zu schwierig fand, er-
theilte er die Antwort auch wohl mündlich; dann aber meist
in so zweideutigen Worten, dass man alles beliebige darin
finden konnte. In der Abfassung der Orakel, die herkömm-
licher Weise in Vei^sen zu erfolgen pflegte, scheint Alexander
mit vielem Geschick verfahren zu sein. Die zahlreichen Bitten
um Heilmittel gegen Krankheiten half ihm seine äratliche
Kunst beantwoi-ten ; und wenn auch die Mittel nicht immer
anschlugen, so hätte es doch wunderbar zugehen müssen, wenn es
ihm nicht leicht gemacht worden wäre, den Glauben an die-
selben ebensogut aufrechtzuerhalten, wie diess heute noch Hun-
derten von Quacksalbem, Wunderdoctoren und Verkäufern von
Geheimmitteln gelingt. In anderen Fällen wusste er sich durch
die Dunkelheit und Zweideutigkeit seiner Sprüche zu decken,
oder er liess den Gott seine Versprechungen verclausulirt geben :
„Eure Wünsche sollen erfüllt werden, wenn es mein Wille ist
und mein Prophet für euch bittet." Hatte endlich der Erfolg
eine seiner Weissagungen zu augenscheinlich widerlegt, so
fehlte es ihm nicht an der Unverschämtheit, dieselbe abzu-
läugnen und sie in den Orakelsammlungen, die er von Zeit zu
Zeit erscheinen liess, durch eine andere, die das Gegentheil
aussagte, zu ersetzen. Bisweilen setzte er auch Weissagungen
in Umlauf; die er erdichteten Personen gegeben ^ haben wollte,
um durch die unbegi*eifliche Genauigkeit ihrer Vorhersagen
Staunen zu erregen. Dabei wusste er die Reclame trotz den
neuesten Ei-findem von Gnaden- und Wallfahrtsoiten, Wunder-
wassem und Universalmitteln zu handhaben. Gab es damals
auch noch keine Zeitungen, die man dazu benutzen konnte, so
war dafür die Sage um so geschäftiger, und der fromme
Gaukler unterliess nichts, um diese zu seinen Gunsten in Be-
wegung zu setzen. Er verschickte seine Sendlinge in ferne
Provinzen, um von den Wundem zu erzählen, die sein Gott
durch ihn verrichtet haben sollte: wie er Diebe und Räuber
ermittelt, entlaufene Sklaven aufgefunden, verborgene Schätze
11*
164 Alexander und Peregrinus.
nachgewiesen, selbst den einen oder anderen Todten erweckt
habe. Er wusste sich feiner sehr geschickt über die Verhält-
nisse und die Wünsche der Pei*sonen zu untemchten, die seinen
Rath einholten. Die Boten, die man ihm schickte, wurden
ausgefragt und bestochen, in Rom und anderen grossen Städten
wurden Agenten unterhalten, die ihm Gläubige zuführten und
zugleich deren Anliegen auskundschafteten. Sehr wohl be-
rechnet war es auch, dass er die, die ihn befragten, bisweilen
an andere berühmte Orakel verwies: die Priester dieser Orakel
wussten ein so collegialisches Verhalten zu schätzen, und
schliesslich gewannen beide Theile, wenn eine Hand die andere
wusch. Die Mittel, deren er sich bediente, sind so, wie man
sieht, im wesentlichen die gleichen, welche das geistliche, und
vielfach auch die gleichen, welche das weltliche Gründerthum
bis in unsere Tage herab mit immer neuem Erfolg in An-
wendung gebracht hat.
Derjenige, den Alexander erreichte, war allerdings ein so
glänzender, wie er nur selten einem so ganz und gar nur auf
den Betinig gestellten, jeder höheren Bedeutung und jeder
eigenen Ueberzeugung seines Urhebere eimangelnden Untei>
nehmen in den Schoss gefallen ist. Wie gross der Zudrang zu
seinem Orakel war, sieht man aus der für jene Zeit ausser-
ordentlich hohen Summe, die es ihm einbrachte. Füi* jede
Frage, die man ihm vorlegte, Hess er sich eine Drachme und^
zwei Obolen, etwa eine Mark unseres Geldes, bezahlen, und err
soll auf diesem Wege siebzig- bis achtzigtausend Drachmeni
(56,000—64,000 Mark) im Jahre verdient haben, da ihm seine
zahlreichen Besucher nicht selten zehn oder fllnfeehn Fragei
auf einmal übeneichten. Durch diese gute Einnahme wurdf
er in den Stand gesetzt, eine ganze Schaar von Gehülfen de
verschiedensten Ait zu besolden und mittelst dei-selben sei
Geschäft immer schwunghafter zu betreiben. Nach Luciao
Versichei-ung waren schliesslich zwei eigene Exegeten mit d
Erklärung seiner räthselhaften Sprüche beschäftigt, die sich da)
so gut standen, dass jeder von ihnen von seinem Einkomn
ein attisches Talent (4800 Mark) an Alexander abgeben koni
Alexander und Peregrinus. 165
Am meisten kamen aber diesem die Verbindungen zu
statten, die ihm in Rom anzuknüpfen gelang; und hier war es
namentlich ein gewisser Rutilianus, den er mit Leib und Seele
in sein Netz zu ziehen wusste. Dieser Mann, sonst ganz ehren-
werth, hatte bedeutende Staatsämter bekleidet und stand nicht
allein in der vomehmen Gesellschaft sondern auch am kaiser-
lichen Hof in hohem Ansehen; dabei war er aber so aber-
gläubisch, dass er, wie Lucian sagt, an keinem bekränzten
öder mit Oel gesalbten Stein (wir würden sagen: an keinem
Heiligenbild) vorbeigehen konnte, ohne niederzufallen und sein
Gebet zu venichten. Als er von dem neuen Licht hörte, das
in Paphlagonien aufgegangen sein sollte, bestüimte er sofort
den Propheten mit Botschaft, übei: Botschaft. Alexander seiner-
seits wusste die Diener des vornehmen Mannes so geschickt zu
behandeln, und diese selbst wussten so gut, was ihr Herr von
ihnen hören wollte, dass ihre Nachrichten den letzteren in
Feuer und Flamme versetzten: Rutilianus wurde der be-
geistertste Apostel des paphlagonischen Propheten, er warb für
ihn bei allen seinen Bekannten und brachte es wirklich so
WjBit, dass das Orakel von Abonuteichos bei den Spitzen der
römischen Gesellschaft förmlich Mode wurde. Die Abgesandten
der reichen und vornehmen Römer drängten sich um den
Wahrsager, und selten kam einer nach Hause, der nicht von
seiner liebenswürdigen Aufnahme entzückt, durch seine Ge-
schenke gewonnen gewesen wäre, der nicht alle die Wunder,
welche von ihm erzählt wurden, bereitwillig weitererzählt und
ntthigenfalls mit neuen Erfindungen bereichert hätte. Die
Herren selbst freilich hatten es mitunter zu bereuen, dass sie
sich an Alexander gewandt hatten ; denn ihre Anfi'agen waren
nicht immer so ganz harmlos ; sie betrafen nicht blos Krank-
heiten, Erbschaften und ähnliche Dinge, sondeni bisweilen
aach Staatsangelegenheiten: wie lange der Kaiser noch leben,
wen er zum Nachfolger haben werde und dergleichen. In Rom
wai'en aber Fragen dieses Inhalts bei Wahrsagern eine gefähr-
liche Sache; sie waren gesetzlich verpönt und konnten ihrem
Urheber einen HochveiTathsprocess zuziehen. Es war daher
166 Alexander und Peregrinus.
zwar ein schmählicher Vertrauensmissbrauch, im übrigen aber
ganz schlau von Alexander, wenn er die Schreiben, weldie
derlei verfängliche Dinge enthielten, zurückbehielt: er hatte
die Verfasser derselben damit in der Hand und war sicher,
dass sie seine Ve i'schwiegenheit mit reichen Geschenken er-
kaufen würden.
Rutilianus selbst wurde von dem Propheten in der un-
glaublichsten Weise übertölpelt; aber er forderte freilich, wie
auch Lucian bemerkt, den Betrug durch seine kindische Leicht-
gläubigkeit in einer Weise heraus, dass man in diesem Falle
dem Betrogenen fast noch mehr Schuld beimessen muss, als
dem Betrüger. Als er Alexander befragte, wen er seinem
Sohne zum Lehrer geben sollte, antwortete dieser: Pythagoras
und Homer. Der Junge starb nun zwar wenige Tage darauf.
Allein der Vater selbst gab nun dem Orakel die Deutung:
eben diess habe der Gott zu verstehen geben wollen, dass sein
Sohn demnächst mit dem Dichter und dem Philosophen im
Hades zusammen sein werde. Ein andeimal fragte der Römer,
zu dessen Glaubensaitikeln die pythagoreische Lehre von der
Seelenwanderung gehörte, wessen Seele in ihm selbst sei, und
war ohne Zweifel sehr befriedigt von der Antwort : er sei erst
Achill, dann Menander gewesen*), und werde demnst ein
Sonnenstrahl werden, nachdem er sein Leben auf 180 Jahr^
gebracht habe. Fühlte sich doch einer seiner Glaubensgenossen —
ein gewisser Sacerdos aus Tios, von der Auskunft, dass e^k.
nach seinem Tode zuei*st zwar ein Kamel und alsdann
Pferd, schliesslich aber ein Prophet, wie Alexander, werdea
solle, so beglückt, dass er die Unterredung mit dem Gott--
Glykon, worin ihm dieser Aufschluss eitheilt worden war, L*:
einer Inschrift verewigte, die Lucian selbst gesehen zu hab^
*) Eine Zusammenstellung des homerischen Helden mit dem attisch«
Lustspieldichter, die wir uns vielleicht aus der Vorliebe des Ratüianiis
den einen und den andern zu erklären haben. Abgesehen davon ist ^^
für uns freilich etwas auffallend; doch immerhin erträglicher als das, y^^
der Setzer beim ersten Abdruck dieser Abhandlung daraus machen woü.'fc^
indem er den Menander in Neander verwandelte.
Alexander und Peregrinus. 167
versichert. Das ärgste aber, was sich Rutilian aufbinden liess,
betraf seine Heirath. Nach dem Tode seiner Frau befragte er
seinen geistlichen Berather über seine Wiederverheirathung,
and dieser gab ihm ohne vieles Bedenken den Bescheid : „Freie
die Tochter du nur Alexander's und der Selene." Von der
letzteren nämlich, der Mondsgöttin, die sich in ihn verliebt
habe, wollte er seine Tochter haben. Und sein Verehrer war
Thor genug,. auch diesem Orakel zu gehorchen und als sechzig-
jähriger Mann, ein Römer vom höchsten Range, die Tochter
des paphlagonischen Schwindlei*s zu heirathen; wobei er es,
sagt Lucian, nicht unterliess, sich der Gunst seiner Schwieger-
mutter, der Selene, durch ganze Hekatomben zu versichern.
Mit dieser Verwandtschaft im Rücken kannte nun die
. Frechheit des Beti-ügers vollends kein Mass. Nachdem er in
Som festen Fuss gefasst hatte, benahm er sich wie ein öffent-
lich anerkannter Vertreter der Gottheit. Er bot den Städten
im römischen Reiche durch Abgesandte seinen Beistand
gegen Seuchen, Feuei-sbrtinste und Erdbeben an ; und wie man
in der christlichen Kirche seiner Zeit zur Abwendung der
Türkengefahr und anderer Uebel eigene Gebetsformeln em-
pfohlen hat und deren heute noch empfiehlt, so verbreitete er
während der Pest, die unter Mark Aurel grosse Verheerungen
anrichtete, einen Vei*s auf Apollo, den man allenthalben an die
Thüren schrieb, um die Krankheit dadurch zu bannen. Um
die gleiche Zeit (169 n. Chr.), als der eben genannte Kaiser
an der Donau gegen die Markomannen zu Felde lag, brachte
er es durch einen Orakelspruch zu Stande, dass jene alberne
Komödie mit den zwei Löwen aufgeführt wurde, von der aus
anderer Veranlassung schon S. 128 f. die Rede war. Als dann
aber das römische Heer eine schwere Niederlage erlitt, wusste
sich der Prophet nur mit der verbrauchten Ausrede zu helfen :
er habe zwar einen Sieg geweissagt, ob aber die Römer oder
die Deutschen siegen werden, habe er nicht gesagt. Den
Städten in Pontus und Paphlagonien entbot Alexander, sie
sollten ihm eine Auswahl schöner junger Leute zum Tempel-
dienst schicken, die dann von ihm in die Schule des Lasters
168 Alexander und Peregrinus.
genommen wurden ; wie er denn überhaupt das sittenlose Leben
seiner Jugend auch im Alter fortsetzte, aber bei seinen An-
hängern damit so wenig Anstoss erregte, dass nach Lucian's
Versicherung manche Frauen sich geradezu mit den Kindern
brüsteten, die sie von ihm hatten, und die Pinsel von Männem
auf die Ehre noch stolz wai'en, die der Halbgott ihrer Familie
damit erwiesen hatte. Zu seiner und seines Gottes Verherr-
lichung veranstaltete der Gaukler, nach dem Vorgange der
Mysterien, mit denen in jener Zeit so viel Unfug getrieben
wurde, eine dreitägige mystische Feier, bei der in theatrali-
schen Auffühioingen die Gebuit des Apollo und seines Sohnes
Asklepios, die Erscheinung des Glykon in Abonuteichos, die
Verbindung des Podaleirios mit der Mutter Alexanders, und
der Selene mit ihm selbst dargestellt wurde, und er unterliess
es nicht, bei dieser Gelegenheit die goldene Hüfte zu zeigen,
die er sich nach dem Vorbild der Pythagoras-Sage beigelegt
hatte, so dass unter seinen Verehrern alles Ernstes darüber
verhandelt wurde, ob die Seele des samischen Philosophen
selbst oder nur eine ihr verwandte in ihm sei. Ja er trieb
die Anmassung so weit, dass er an den Kaiser die Bitte rich-
tete, es möge der Name seiner Vaterstadt aus Abonuteichos
(Burg des Abonas) in Jonopolis (Stadt der Jonier) verwandelt
und ihr zugleich fllr ihre Münzen ein neues Gepräge verliehen
werden, welches auf der einen Seite den Gott Glykon, auf der
andem ihn selbst im Priesterschmuck darstellen sollte. Dass
auch diesem Ansinnen mehr als zur Hälfte entsprochen wurde»,
sehen wir aus einigen noch erhaltenen Münzen von Abonu —
teichos*), welche auf der Vorderseite zwar die Brustbilder de^
Kaiser Antoninus Pius und Mark Aurel und des von denen
letztem zum Mitregenten angenommenen Annius Verus tragei
auf der Rückseite dagegen das Bild einer Schlange mit einei
Menschenkopfe, einige mit der Untei-schrift: „Glykon". Amjäf
einer von ihnen (der mit dem Brustbild des Verus) wird auc^li
der Prägeort, welcher bei den andem noch AbonuteidLOS
*) Bei Eckhel Doctr. num. vet. II, 883.
Alexander und Peregrinus. 169
heisst, Alexandei-s Wunsch entsprechend „Jonopolis" genannt,
und dieser Name scheint wirklich in der Folge den älteren
verdrängt zu haben.
Es ist bezeichnend für die damaligen Zustände, dass in
einer Zeit, in welcher der öifentliche Geist und das wissen-
sdiaftliche Leben allerdings unverkennbar im Rückgang be-
griffen waren, die sich aber doch noch einen reichen Schatz
überliefei-ter Bildung bewahrt hatte, unter der Regierung eines
so veratändigen Fürsten, wie Antoninus Pins, und eines Philo-
sophen, wie Mark Aui'el, eine so offenbare Betrügerei ein
Menschenalter hindurch nicht etwa nur beim Pöbel, sondern
in den oberaten Schichten der Gesellschaft und in der nächsten
Umgebung der beiden Kaiser, einen so ausserordentlichen Er-
folg haben konnte. Ohne allen Widerspruch sollte es dem
Schwindler fi'eilich nicht hingehen. Aber von denen, welche
die nächste Veranlassung gehabt hätten, ihn zu erheben, den
Philosophen, waren die meisten entweder in den Vonirtheilen
ihrer Zeit selbst zu tief befangen, oder sie bekümmerten sich
zu wenig um die Sache; nur die Epikureer sind es, welche
als die unerbittlichen Feinde alles Abei-glaubens, die sie waren,
sich auch hier das Verdienst erwarben, die Sache des gesunden
Menschenverstandes gegen den Betrug und den Abei-witz zu
vertreten. Und wenn es sich nur um Vemunftgiilnde gehandelt
hätte, musste es ihnen ein leichtes sein, den Betrüger zu ent-
larven. Aber Alexander kannte sein Publikum gut genug, um
zu wissen, wie er sich in diesem Fall zu verhalten hatte. Er
machte es, wie es Seinesgleichen noch immer gemacht haben:
wo ihm die Gründe ausgiengen, appelliite er an den Fana-
tismus; wer seine Schliche aufzudecken drohte, dem hetzte er
den Pöbel auf den Hals. Sobald er bemerkte, dass man ihm
zu Leibe gieng, verbreitete er das Gerede: die ganze Provinz
sei voll von Atheisten und Christen ; diese Götteif einde müsse
man mit Steinwüifen vertreiben, wenn man die Gnade des
Gottes nicht vei-scherzen wolle, lieber Epikur brachte er
Gföttersprüche unter die Leute, die von den Strafen erzählten,
welche er wegen seiner Gottlosigkeit zu erdulden habe; und
170 Alexander und Peregrinus.
den Einwohnern der Stadt Amastris, in der sich die epiku-
reische Philosophie besonderen Beifalls eiireute, versagte er
den Zutritt zu seinem Orakel. Epikur's gelesenste Schrift, die
„Grundlehren", verbrannte er feierlich auf dem Markte und
warf ihre Asche in's Meer. Seine eigene mystische Feier wurde
mit dem Heroldsruf eröffnet : „Falls ein Gottesläugner oder ein
Christ oder ein Epikureer gekommen ist, die Weihen zu be-
lauschen, mög' er entweichen!*' wobei seinen Zuhörern ohne
Zweifel die uns so befremdende Zusammenstellung der Christen
mit den Epikureern nicht im mindesten auffiel ; denn diese wie
jene galten der öffentlichen Meinung (wie schon im Eingang
bemerkt wurde) einfach als Atheisten: die einen, weil sie die
Volksgötter läugneten und ihre Verehning für ein Teufelswerk
hielten, die andern, weil sie nicht zugaben, dass die Götter in
den Weltlauf eingreifen. Es lässt sich übrigens nicht an-
nehmen, dass jemals ein Christ den Vei*such gemacht habe,
mit Alexander und seinen Weihen in Berührung zu konmien,
da er in dem Treiben des Goöten nur etwas dämonisches sehen
konnte, dessen Nähe ihn befleckt hätte: die Nennung der
Christen sollte nur dazu dienen, die Epikureer durch die Zu-
sammenstellung mit den verhasstesten Götterfeinden in den
Augen des Volks noch schwäi-zer zu machen, als sie ihm ohne-
dem schon erschienen. Man sieht: der Mann vei*stand sein
Handwerk ; man sieht aber auch, dass die Mittel der priester-
lichen Agitation immer die gleichen waren : in allem dem, m
soeben aus Lucian mitgetheilt wurde, ist kein Zug, für dei^
sich nicht noch aus der Gegenwart Parallelen in Menge find«c=:
liessen. Was insbesondere die Zusammenstellung der Epikuri
mit den Christen betrifft, so ist sie ein Kunstgiiff, gerade
gewissenlos und so wohlberechnet, wie wenn man staatstreu^
Katholiken als Protestanten verdächtigt, oder wenn seiner
Lessing nachgesagt wurde, dass ihn die Juden bestochen habe:
die Wolfenbüttler Fragmente herauszugeben, in denen
dem Judenthum noch übler mitgespielt wird, als dem Christer
thum. Dass aber diese Hetzereien nicht auf die Erde fiel<
bekam mehr als Einer von Alexanders Gegnern zu empfind«
Alexander und Peregrinus. 171
Wen er als Epikureer brandmarkte, der war geächtet: „kein
Obdach nahm ihn auf, weder Feuer noch Wasser ward ihm
gereicht;" und als einmal ein Mitglied dieser Schule die Kühn-
heit hatte, dem Propheten öffentlich vorzuhalten, es seien auf
sein Anstiften ein paar Sklaven, deren völlige Unschuld sich
später herausstellte, wegen eines vermeintlichen Mordes den
wilden Thieren vorgeworfen worden, konnte ihn nur das so-
fortige Einschreiten eines muthigen Mannes vor der Steinigung
retten, mit der die Anhänger des Propheten auf seine Auf-
forderung hin schon den Anfang gemacht hatten.
Auch Lucian gerieth dui-ch den Hass, den er sich von
ihm zuzog, in keine geringe Gefahr. Alexander hatte in Er-
• fahrung gebracht, dass er ihn mit sorgsam versigelten An-
fragen, deren Inhalt der Ueberbringer falsch angab, auf's Eis
geführt und zu Antworten, die ihn lächerlich biosstellten, ver-
leitet hatte. Es war ihm ferner bekannt, dass jener den Ru-
tilianus vor ihm und vor der Verbindung mit seiner Tochter
g'ewamt hatte. Allein gewandt, wie er war, wusste er den
Liiacian, als dieser nach Abonuteichos kam, so für sich einzu-
n ^hmen und so sicher zu machen, dass dieser wirklich glaubte,
öir habe sich mit ihm vei*söhnt, und das SchiflF annahm, welches
ihxn Alexander zur Weiten-eise anbot. Auf offener See erfuhr
^^* zu seinem Entsetzen, dass der Prophet der Mannschaft be-
fc>lilen habe, ihn in's Meer zu werfen. Wäre der Steueiinann
^icht dazwischengetreten, der sein Gewissen nicht mit der
ölutsdiuld beladen wollte, so war er verloren. Aber als er
6 Sache, um sie weiter zu verfolgen, dem Statthalter von
Lthynien vortnig, beschwor ihn dieser aufs dringendste, jeden
^^danken an eine Klage aufzugeben, da es ihm die Rücksicht
^iif Rutilianus unmöglich machen würde, den Schwiegervater
d^esselben zu besti*afen, die Beweise möchten so schlagend sein,
^ie sie wollten.
So gelang es dem Betrüger, sein Blendwerk bis zum Ende
seinog Lebens in ungeschmälerter Geltung zu erhalten. Nicht
ö^ninal sein Tod machte der Vergötterung, die der Lebende
^^ zu erschwindeln gewusst hatte, ein Ende, wiewohl er eine
172 Alexander und Peregrinus.
seiner Prophezeihungen Lügen strafte. Alexander hatte näm-
lich geweissagt, er werde 150 Jahre lang leben und dann vom
Blitz getödtet werden, starb aber an einer schmei-zhaften Kmnk-
heit, ehe er das 70. Jahr en-eicht hatte. Wie wenig sich jedoch
seine Anhänger dadurch in ihrer blinden Verehrung in*e machen
Hessen, dafür findet sich ein merkwürdiger Beleg bei einem
Zeitgenossen Lucian's, dem christlichen Apologeten Athena-
goras. In seiner Schutzschrift für die Christen, die in den
letzten Jahren Mark Aurel's, also in der nächsten Zeit nach
Alexanders Tod und noch vor Lucian's Bericht, abgefasst
wurde, erzählt dieser Schriftsteller (c. 23) : In der Stadt Parium
in Mysien (am südöstlichen Ende des jetzigen Marmorameeres)
befinden sich Bildsäulen des Alexander und jenes Proteus, der
sich selbst (wie wir sogleich des näheren hören werden) in
Olympia verbrannt habe. Die des x\lexander stehe auf dem
Markte der Stadt, neben ihr sein Grab, mit dem aber ohne
Zweifel ein Kenotaph gemeint ist, da es Lucian doch wohl
gesagt hätte, wenn er so entfernt von seiner Heimath gestorben
wäre. Diese Bildsäule werde als ein Gott verehrt, der Gebete
erhöre ; es werden ihr auf öffentliche Kosten Opfer dargebracht
und Feste gefeiert. Aus den weiteren Aeusserungen des
Athenagoras geht hervor, dass mit diesem Kultus ein Orakel
verbunden war, wie nach Lucian auch das in Abonuteichos
den Tod seines Stifters überdauerte; durch die Aninifung des
verstorbenen Propheten sollten in Parium wunderbare Heilungen
bewirkt worden sein, deren Thatsächlichkeit auch Athenagoras
nicht bezweifelt, nur dass er sie, nach der gewöhnlichen An-
nahme der damaligen Christen, auf Dämonen zuiiickführt. Ei
anderes merkwürdiges Zeugniss für die gi-osse Verbi-eitun,
dieses Kultus besitzen wir in drei Inschriften, die allen An-
zeichen nach noch vor Alexanders Tod gesetzt wurden. Zw<
davon sind zu Karlsburg in Siebenbürgen, die dritte ist i" ^
Uskub, dem alten Scupi in Mösien (in der nordwestlichen Epl
der türkischen Provinz Macedonien), gefunden worden.*) Jene
*) Die beiden ersten finden sich im Corpus Inscript. lat. XU, 188 il
1021. 1022, die dritte in der Ephemeris epigraph. II, 331 n. 493.
Alexander und Peregrinus. 173
sind „auf Befehl des Gottes" dem Glyko (dem Asklepios
Alexanders) geweiht, diese „dem Jupiter und der Juno, und
dem Drachen und der Drachenfrau (Draconi et Dracenae) und
Alexander," welcher demnach, wenigstens nach dem Glauben
seiner dortigen Verehrer, ausser dem von Lucian beschriebenen
Drachen auch noch ein weibliches Exemplar ^er gleichen Gat-
tung gehabt haben müsste, dessen dieser nicht erwähnt. Er-
innei*t man sich nun auch, dass die Alten mit dem Begriff
eines Gottes nicht alle die Merkmale verbanden, die wir da-
mit verbinden, dass ihre Götter durch weite Abstände der
Macht und der Würde von einander getrennt waren, und dass
ein vergötterter Mensch, wie Alexander, in dem Kultus jener
Völker im wesentlichen keine andere Rolle spielte, als die
Heiligen in dem der katholischen Kirche, so erhalten doch
immer Lucian's Aussagen über die abgöttische Verehrung,
welche dem betrügerischen Propheten gezollt wurde, durch
das Zeugniss des Athenagoras und der Inschriften eine Be-
stätigung, die um so schwerer in's Gewicht fällt, da diese
Zeugnisse durchaus unabhängig von einander sind. Athena-
goras bekräftigt übrigens Lucian's Schilderung seines Alexander
auch noch nach einer anderen Seite, wenn er auf ihn die schel-
tenden Worte anwendet, die Hektor bei Homer seinem Bruder
Alexander (oder, wie er gewöhnlich heisst: Paris) zunift:
^ Weibertoll, an Gestalt, nur ein Held, ein Schwindler, ein
XJnheil."
Es trifft sich günstig genug, dass uns Lucian auch mit
clem zweiten von jenen Männeni, die in Parium neben einander
Verehrt wurden, dem Peregrinus, in einer eigenen kleinen
Schrift bekannt gemacht hat. Unter den satyrischen Sitten-
Schilderungen aus seiner Zeit, die wir ihm verdanken, sollte
rieben dem Bilde des Betrügei-s auch das des Schwärmers
nicht fehlen. Denn als solcher erscheint Peregrinus ; und wenn
siuch Lucian mit der Bemerkung ohne Zweifel im Recht ist,
class die Eitelkeit und die Sucht, Aufsehen zu machen, an
seinem wunderlichen Treiben einen Hauptantheil gehabt habe,
so hat er ihn doch schwerlich richtig aufgefasst, wenn er ihn,
174 Alexander und Peregrinos.
wie Alexander, einfach als einen Betrüger behandelt; sondern
es zeigt sich in diesem Urtheil nur, wie unfähig die Auf-
klärung gewöhnlichen Schlages jederzeit war, die Selbst-
täuschungen und die Phantastik eines in diesem Fall aller-
dings unlauteren und verworrenen Enthusiasmus zu begreifen.
Auch Peregiinus gehörte nun von Geburt Kleinasien an, aber
dem westlichen, schon seit unvordenklichen Zeiten vollständig
gräcisirten Theil dieser Halbinsel; seine Vatei*stadt war eben
jenes Parium, in dem Athenagoras später seine Bildsäule ge-
sehen hat. Der Sohn eines wohlhabenden Mannes, hatte er
sein ganzes Vennögen seinen Mitbürgern geschenkt. Miss-
günstige wollten jedoch wissen, es sei diess ziemlich unfreiwillig
geschehen. Nachdem er nämlich als junger Mann schon einige
andere schlechte Streiche gemacht hatte, habe er sich beim
Tode seines Vaters der Anklage auf Vatermord nur durch die
Flucht zu entziehen gewusst. Das Wanderleben, das er nun
trieb, habe ihn unter anderem auch nach Palästina geführt.
Hier habe er die „seltsame Weisheit" der Christen kennen ge-
lernt, habe sich ihrer Partei angeschlossen und sei als einer
ihrer Sprecher und Propheten bei ihnen zu hohem Ansehen
gelangt; vollends seit er um seines Glaubens willen in's Ge-
fängniss geworfen, aber von dem Statthalter von Syrien als-^
ein Narr, dem das Martyrium gerade erwünscht gewesen wäre.^ -
ohne Strafe wieder entlassen worden sei. Denn die Christen ^^
fügt Lucian bei, haben sich von dem Stifter ihrer Sekte weis-.^
machen lassen, wenn sie die giiechischen Götter verläugnei
dafür aber ihn selbst, den in Palästina gekreuzigten Sophistei
anbeten und seinen Gesetzen nachleben, seien sie alle BrüdeK^^
Da sie überdiess meinen, sie werden unsterblich sein und
leben, so machen sie sich nichts aus dem Tode und stellen si<
meist fi-eiwillig der Verfolgung. Und wenn einer von ihn(
in's Gefängniss geworfen werde, sei ihnen für einen solchi
kein Opfer zu gross. Ein geschickter Gaukler könne dah«^ — ft
bei diesem einfältigen Volk leicht sein Glück machen, m^^d
diess sei denn auch Peregrinus gelungen. Vom frühen Morg—^K?
an sei sein Gefängniss von Witwen und Waisen belag^^^
i
Alexander und Peregrinus. 175
worden ; die Vorateher der Christengemeinde haben die Wachen
bestochen, um die Nacht bei ihm zubringen zu können; man
habe ihm die besten Bissen in den Kerker geschickt, ihn wie
einen zweiten Sokrates gepriesen; selbst aus kleinasiatischen
Städten seien von den doi-tigen Christen auf Gemeindekosten
Abgeordnete zu ihm geschickt worden, um ihn durch ihren Zu-
spruch zu ermuthigen und ihm vor, Gericht Beistand zu leisten ;
und von den Geschenken, mit denen er aus Anlass seiner Ge-
fangenschaft t\berhäuft wurde, habe er ein recht hübsches Ein-
kommen gehabt. Indessen sei Peregrinus wieder in seine Hei-
math zurückgekehrt. Da er aber gefunden habe, dass sich die
Entrüstung über ' seinen Vatermord hier noch nicht gelegt
hatte, und dass die Anklage immer noch drohe, so sei er, um
sich die Gunst seiner Mitbürger zu erwerben, im Aufzug des
Cynikers in der Volksversammlung aufgetreten und habe er-
klärt, dass er die ganze Hinterlassenschaft seines Vaters der
Stadt schenke. Jetzt habe er mit Einem Mal bei dem Volke
All- einen Patrioten, einen Philosophen, einen ebenbürtigen
Nachfolger des Diogenes und Krates gegolten, und wer des
Mordes noch erwähnt hätte, wäre gesteinigt worden. Pere-
grinus habe nun sein herumziehendes Leben aufs neue be-
gonnen ; für seinen Unterhalt brauchte er dabei nicht zu sorgen,
da es ihm die Christen an nichts fehlen Hessen. Als er aber
^us irgend einem Grund auch mit ihnen zerfiel, habe er die
Abtretung seines Vermögens wieder bereut und durch eine
Angabe an den Kaiser rückgängig zu machen gesucht. Ei*st
xiachdem er auf die Einsprache der Stadt damit abgewiesen
x?orden war, sei er in seiner späteren Rolle aufgetreten.
Es ist nun freilich schwer zu sagen, was und wieviel dieser
Srzälilung thatsächliches zu Grunde liegt. Lucian selbst scheint
«iie Verantwortlichkeit für dieselbe nicht unbedingt übeniehmen
zu wollen und sie gerade desshalb einem Dritten, einem aus-
S^rochenen Gegner des Peregi-inus, in den Mund gelegt zu
liaben ; und in ihrem Inhalt ist das eine und andere geeignet,
bedenken zu eiTegen. So kann namentlich der angebliche
^atermord des späteren Cynikers unmöglich eine so ausge-
176 Alexander und Peregrinus.
machte Sache gewesen sein, wie Lucian es darstellt; denn in
diesem Fall hätte er es nicht wohl wagen können, auch da
noch in seine Vaterstadt zurückzukehren, als er derselben sein
ihr geschenktes Veimögen wieder zu entziehen versuchte, da
die Gefahr doch zu nahe lag, dass er durch diesen gehässigen
Schritt die Anklage sofort wieder hervorrufe. Noch grösseren
Anstoss hat man an dem genommen, was hier über Peregrinus'
Verbindung mit den Christen erzählt wird. In der christ-
lichen Kirche sah man darin eine so abscheuliche Lästerung,
dass unser Schriftsteller zur wohlverdienten Strafe dafür von
Hunden zerrissen worden sein sollte. Aber auch unbefangene
neuere Forscher waren geneigt, diesen Zug für eine Erfindung
Lucian's zu halten, welcher dadurch das Ghristenthum als eine
von den aberwitzigen VeriiTungen der Zeit, als einen thörichten
und verderblichen Aberglauben, mit der Schwärmerei eines
Peregrinus auf Eine Linie stellen, und namentlich den Mär-
tyrerheroismus der Christen als ein Erzeugniss verblendeter^!:
Eitelkeit brandmarken wollte. Und dass Lucian von denLfSB
Ghristenthum und den christlichen Märtyrern diese Meinuni
hatte, lässt sich allerdings um so weniger bezweifeln, da ir^r Jn
jener Zeit selbst ungleich emstere Geister nicht anders darübeir^^r
ui-theilten. Ebenso klar ist, dass es ihm aufrichtiges VergnügeK",^n
macht, mit seinem Haupthelden zugleich auch die Christen zr
geissein, ihn als den Betrüger, sie als die Betrogenen, bei<
aber als Thoren, die in dem gleichen Spital krank liegen,
behandeln. Allein daraus folgt nicht, dass die Spitze seint
ganzen Erzählung gegen die Christen gerichtet und alles andei
und so namentlich das zeitweilige Ghristenthum des Peregrii
eine blosse Erdichtung sei. Läge der Schwerpunkt unser-^urer
Geschichte in dem Angriff auf das Ghristenthum und die üuii ■ iit-
lichen Märtyrer, so würde Lucian diess ohne Zweifel eberez^so
deutlich und unumwunden zu erkennen gegeben haben, wie er
überhaupt die Gegenstände seiner satyrischen Angriffe zu bc^e-
zeichnen gewohnt ist. Es gab ja doch nichts, was ihm Ä:>e-
sondere Rücksichten gegen das Ghristenthum auferlegen x^Jid
ihn veranlassen konnte, bei seiner Polemik gegen die Chri&^öB
Alexander und Peregrinus. 177
einen solchen Umweg zu nehmen, sie in einem Angriif auf
einen cynischen Philosophen zu verstecken. Und er hat ja
auch keine Rücksichten genommen, sondern sich über die
Christen, wo er von ihnen redet, in den stärksten und weg-
werfendsten Ausdrücken geäussert. Hätte er aber einmal,
wesshalb immer, unter der Gestalt des Peregrinus das Christen-
thum angi'eifen wollen, so hätte er andei-s verfahren müssen,
als er verfahren ist. Er hätte die Rolle, die Peregrinus ihm
zufolge gespielt hat, und namentlich den Gipfel seiner Schwär-
merei, seine Selbstverbrennung in Olympia, ihm als Christen
zuschreiben müssen. Statt dessen lässt er ihn der Christen-
sekte nur voiHbergehend angehören und vor seinem öffentlichen
Auftreten in Griechenland und Italien aus ihr wieder aus-
scheiden; und im Zusammenhang damit kommt er von da an
nicht wieder auf die Christen zu sprechen, und enthält sich
namentlich bei Gelegenheit der Schlusskatastrophe in Olympia
der ihm so nahe liegenden Hinweisung auf die Christen und
cüe Holzstösse christlicher Märtyrer vollständig. Diess spricht
entschieden gegen die Annahme, es sei ihm bei seiner Er-
zählung über Peregrinus in erster Reihe um einen Angriff auf
das Chiistenthum zu thun gewesen. Er will nicht die Christen
mit dem Cyniker schlagen, sondern diesen mit jenen ; er will
vms nicht das zu verstehen geben, dass die Christen eben
solche Schwänner seien, wie Peregrinus, sondern umgekehrt,
dass dieser, um keinem schwäiinerischen Aberwitz fremd zu
>)leiben, auch durch's Christenthum hindurchgegangen sei.
^uch bei dieser Auffassung wäre es nun freilich immer noch
denkbar, dass der Satyriker diesen Zug eifunden hätte, wie er
sich ja offenbar starke Uebei-treibungen erlaubt hat, wenn er
uns einzahlt, Peregrinus sei von den Christen, noch vor seiner
Terhaftung, wie ein Gott verehrt worden, sie haben ihn zu
ihrem Gesetzgeber und Vorsteher (also zum Bischof) gemacht.
Aber an sich selbst steht der Annahme, dass Peregrinus wirk-
lich eine Zeit lang der christlichen Kirche angehört habe,
keine innere Unwahrscheinlichkeit entgegen. Gerade eine
liatur, wie die seinige, konnte in dem unruhigen Suchen nach
Zell er, Vorträge und Abhandl. 12
178 Alexander und Peregrinus.
Wahrheit und innerer Befriedigung dem Christenthum ebenso
leicht zugeführt, als in der Folge, wenn Unterordnung unter
den kirchlichen Glauben und die kirchliche Sitte von ihm ver-
langt wurde, wieder von ihm weggefllhii; werden.
Wie es sich aber hiemit verhalten mag : in seiner späteren
Zeit finden wir Peregrinus als einen entschiedenen Anhänger
der cynischen Philosophie; jener strengen Schule, die uns bei
ihren berühmten Lehrern im vierten vorchristlichen Jahr-
hundert, bei einem Antisthenes, Diogenes und Krates, durch
den männlichen Ernst ihrer Moral, durch die Willensstärke und
die Bedtirfnisslosigkeit, zu der sie ihre Jünger erzog, trotz
aller ihrer Uebertreibungen , Härten und Sonderbarkeiten
immer wieder Achtung abnöthigt; die aber damals längst ent-
artet und bei vielen nur ein Vorwand für die Roheit und
Schamlosigkeit eines müssigen Vagabunden- und Schmarotzer-
lebens geworden war. Lucian zufolge wurde Peregrinus nach
seinem Zerwüi-fniss mit den Christen und dem misslungenen
Versuch zur Wiedererlangung seiner Güter in Aegypten durch
einen Cyniker Namens Agathobulus in die ganze Ascese dieser
Schule, bis auf ihre abstossendsten VeriiTungen hinaus, ein-
geführt. Von da kam er nach Italien, wo er alsbald durch
öfi'entliche Schmähreden gegen alle Welt, und vor allem gegen
den Kaiser, Aufsehen erregte; was für ihn unter dem milden
und hochherzigen Antoninus Pius zwar keine Bestrafung, aber
doch eine Ausweisung zur Folge hatte. So verdient diese aber
auch sein mochte, so verschaffte sie ihm doch den Ruhm eines
philosophischen Märtyrei^s. Auch in Griechenland, wohin er
sich nun begab, legte er seiner Zunge keinen Zaum an, polterte
in seiner heftigen Weise bald gegen ganze Bevölkeningen, bald
gegen einzelne hervoiTagende Männer, kehrte überhaupt die
rauhe Seite des Cynismus, die herbe Menschenverachtung des-
selben, so stark hervor, dass selbst ein Mitglied dieser Schule,
der milde Demonax, den er seinerseits wegen seiner Heiterkeit
gar nicht für einen Cyniker gelten lassen wollte, ihm erwiederte :
„Und Du bist kein Mensch". Lucian berichtet sogar von Hern
unsinnigen Einfall, die Griechen zur Abschüttelung der römi-
Alexander und Peregrinus. 179
sehen HeiTScbaft aufzufordern. Dabei soll er nicht immer den
Muth gehabt haben, zu seinen Worten zu stehen, und in einem
von Lucian besprochenen Fall durch unwürdige Retractationen
sich verächtlich gemacht haben. Doch haben wir über ihn
auch ein günstigeres Zeugniss. Aulus Gellius nämlich, ein
römischer Zeitgenosse Lucian's, der sich längere Zeit in Athen
aufhielt, ei-zählt uns (N. A. XII, 11. VlII, 3), der Philosoph
Peregi-inus habe damals in einer Hütte ausserhalb dieser Stadt
gewohnt, in der er von ihni, wie von andern lernbegierigen
jungen Männern, fleissig aufgesucht wurde. Er nennt ihn einen
ei-nsten Mann von festen Grundsätzen, von dem er manches
gute und heilsame Woi-t gehört habe, und als Probe davon
^bt er eine Erörterung darüber, dass der Weise nichts Un-
rechtes thun werde, wenn auch kein Gott und kein Mensch
etwas davon erfahren würde. Denn nicht aus Furcht vor
Strafe oder Schande, sondern aus Liebe zum Guten müsse man
•das Schlechte unterlassen. Für diejenigen aber, denen es an
<iieser höheren sittlichen Kraft fehle, sei der Gedanke, dass
kein Unrecht verborgen bleibe, sondern die Zeit alles am Ende
-^-n's Licht bringe, ein sehr wirksamer Beweggrund zur Ver-
^^rieidung des Unrechts. Dieser Bericht und dieses Urtheil des
Ciellius lässt den Philosophen nun doch in einem etwas anderen
icht erscheinen, als die Schilderung eines so ausgesprochenen
egnei-s, wie sie uns in Lucian's Satyre vorliegt. Sie beweist,
ass es ihm neben den Verirrungen des damaligen Cynismus
uch an den tüchtigen und gesunden Elementen nicht fehlte,
>i?velche uns in dieser Erscheinung immerhin eine nicht ganz
'Erfolglose Reaktion gegen die Weichlichkeit und Genusssucht
^^er Zeit sehen lassen, so vielfach sie auch von den meisten,
Xond so auch von Peregrinus, zum Zerrbild übertrieben wurden.
Nebenbei erfahren wir aus Gellius, dass Peregrinus den Bei-
>iamen „Proteus", dem er nach Lucian vor seinem eigent-
Xichen Namen den Vorzug gab, erst nach dem Zusamnientreflfen
^es Gellius mit demselben erhalten hatte; was er bedeuten
sollte, und ob er ihm von Bewunderern oder von Gegnern
^beigelegt worden war, wissen wir nicht.
10*
180 Alexander und Peregrinos.
Wir kommen nun zu dem bekanntesten Ereigniss im Leben
dieses Mannes, seiner öffentlichen Selbstverbrennung bei den
olympischen Festspielen des Jahres 164 n. Chr. Diese That-
sache, die begieiflicherweise kein geringes Aufsehen machte,
wird öftei-s, unter den gleichzeitigen Schriftstellera von Athena-
goi-as a. a. 0. und bald nachher von Teitullian (ad Mart 4)
erwähnt; den näheren Hergang hat uns aber nor Lucian, der
öfters darauf zuillckkommt, berichtet. Den Beweggrund zu
dem abenteuerlich ausgefQhi-ten Selbstmord sucht er, wie sich
nach allem bisherigen nicht anders erwarten Hess, lediglich in
der Eitelkeit des Mannes. Als Peregrinus mit der Zeit sein
Ansehen eingebüsst hatte, erzählt er, und niemand mehr von
ihm Notiz nahm, habe er eines Tages, in Eimanglung eines
anderen Mittels, um Aufsehen zu erregen, unmittelbar nach
den olympischen Spielen eine Schrift ausgehen lassen, worii
er ankündigte, dass er beim nächsten Feste sich selbst ver — ^^y^
brennen werde. Er sei denn auch in der That auf dem8elVen::»-«n
ei-schienen, habe sich unweit Olympia eine klafteiüefe Grub^ ^^e
gegi'aben und in dieser den Scheiterhaufen eiiichtet, in der^^n
er sich stüi-zen wollte. Indessen habe er es mit der AusfOhr^Ti-
rung seines Vorhabens nicht sehr eilig gehabt. Er habe era— _«st
lange Reden an die neugierige Menge gehalten, die ihn natu' ..adr-
lich, wo er sich blicken Hess, umdrängte, habe von seinem hLMr «is-
herigen Leben, von aHen den Gefahren, Entbehrungen war^mi
Misshaudlungen erzählt, denen er sich im Dienst der PhiÄT JIo-
sophie ausgesetzt habe, und schliesslich seine Absicht iM^san-
gekündigt, ein Leben, in dem er Herakles nacheiferte, Bxmr- ich
mit dem Ende dieses Helden zu krönen und die Mensctar — :jeo
durch sein Beispiel Todesverachtung zu lehren. Dabei h » -i be
er im Stillen gehofft, dass man ihn an der Verwirklicht — mg
seines Planes verhindem werde; wie er ja seine Liebe z-^ um
Leben noch kurz vorher in einer Krankheit und fillher ein^araa/
bei einem Sturm auf der See durch weibische Furcht ven^at^Äea
habe. Wirklich habe sich auch, sagt Lucian, der eine sol cAe
ßede mit anhörie, von vielen Seiten der Ruf vernehmen lassöo;
„Erhalte Dich den HeUenen!" Aber andere haben ihn zur
Alexander und Peregrinus. 181
Ausführung seines Entschlusses ermuntert, und so habe er sich
denn, als er sah, dass man ihn beim Worte nahm, bleich und
vor Todesangst zitternd, zur Besteigung des Scheiterhaufens
yerstanden. Aber er habe dieselbe immer wieder hinaus-
geschoben, bis er sie endlich unwiderruflich für die nächste
Nacht ankündigte. Als Lueian mit einem Bekannten um Mitter-
nacht an die Stelle kam, welche für dieses Schauspiel bestimmt
war, sei Proteus beim Aufgang des Mondes („denn Selene
inusste es doch auch. mitansehen") mit einem Gefolge cynischer
Philosophen gekommen, von denen einer eine Fackel tmg, um
-als Philoktet dem neuen Herakles seine Dienste zu leisten.
Dieser selbst habe zunächst seine cynische Uniform, den Knoten-
stock und den Ranzen und das rauhe Oberkleid abgelegt, und
Tiachdem der Scheiterhaufen hell aufloderte, eine Handvoll
"Weihrauch in das Feuer geworfen und mit den Worten: „Ihr
Oeister meiner Elteni, nehmt mich freundlich auf", sich in die
IFlammen gestürzt, in denen er alsbald verschwunden sei.
Dieser Vorgang hat nun freilich für uns viel befremdendes.
"^Venn man mit unseni modernen Vorstellungen an ihn heran-
tritt, fragt man sich zunächst schon, ob es denn damals in
Griechenland gar keine Polizei gab, dass eine Scheuslichkeit,
^ie die Selbstverbrennung eines Menschen, mit aller möglichen
Oelfentlichkeit, Jahre lang vorher angekündigt, auf dem be-
suchtesten und angesehensten Nationalfest, in der Nähe der
^efeiei-tsten Tempiel, vor den Augen von ganz Hellas vor sich
-gehen konnte? Unser Erstaunen darüber wird auch durch die
Bemerkung nur theilweise gehoben, dass die Griechen und
Römer das Leben als ein Privateigenthum des Einzelnen be-
trachteten, woillber ein jeder nach Belieben verfügen könne,
und dass eben so gut, wie sich jemand durch einen rechts-
gültigen Vertrag als Gladiator verkaufen konnte, um vor den
Augen des römischen Volkes zu morden und gemordet zu
werden, wie er dem Inhaber der Fechtschule die Befugniss
einräumen konnte, ihn „mit Eisen zu schneiden und mit Feuer
zu brennen", es am Ende auch jedem freigestanden habe, sich
selbst zu verbrennen und dazu beliebig viele Zuschauer ein-
182 Alexander und Peregrinus.
zuladen. Uns erscheint diess immer noch als ein Unfug, von
dem man kaum begreift, dass weder eine obrigkeitliche Behörde
noch die Zuschauerschaft selbst dagegen einschiitt. Indessen^
ländlich sittlich: wenn ein Boxer dem andern vor einem ge-
wählten Publikum den Schädel einschlägt, oder ein Duellant
dem andern eine Kugel durch die Brust schiesst, und meilen-
weit keine Polizei zu sehen ist, wird man diess vielleicht auch
einmal unbegreiflich finden.
Auch an sich selbst ei-scheint uns aber die That des Pere-
grinus fast unerklärlich. Selbstmorde kommen ja leider immer
noch nur zu oft vor. Aber dass jemand dazu den Feueitod
wählte, dass er sein Vorhaben so lange zuvor bekannt machte
und mit solchem Pomp ausführte, ist nicht mehr möglich und
wird niemand mehr in den Sinn kommen, während es bei
Peregrinus offenbar gerade diese Oeflfentlichkeit und dieser dra- — ^.-
matische Effekt ist, auf den er vor allem ausgeht. Es ist nicht .c#^^t
ein Selbstmord aus Lebensüberdruss, sondern der Selbstmörder^TÄr^r
will mit seiner That eine bestimmte Wirkung hervorbringen^ .ä":äi,
er will durch dieselbe der Wirksamkeit seines Lebens die^.^ie
Krone aufsetzen, die Todesverachtung, die er mit Worten ge— ^^ e-
predigt hat, nun auch durch sein Beispiel einschärfen. Wi^^ ^ie
soll man sich diess psychologisch zurechtlegen? Das Moti^^Jtiv
der Eitelkeit und der Ruhmsucht, auf das Lucian alles zurttck:3fef ^k-
fllhrt, reicht hiefür doch kaum aus. Dass es mit im Spiel» -IT^^ele
war, ja dass es sehr erheblich mitwirkte, lässt sich allerdings^ -Ä^igs
nicht verkennen. Aber doch wird man schwerlich einen zweite^^^jJten
Fall beibringen können, in dem jemand sich selbst getödte*^^*3et,
und vollends in einer für das natürliche Gefühl so schauer ^^ -er-
lichen Weise getödtet hätte, blos um von sich reden zu macheiÄ-^SBi];
denn der angebliche Sprung des Empedokles in den Aetn-Är«na,
und was etwa sonst noch ähnliches erzählt wird, gehört imi:mzB'8
Reich der Fabeln. Die Selbstverbrennung des Peregrinus d-^Ba-
gegen ist eine unantastbare, durch zeitgenössische Zeugnis^^sse
und selbst durch Augenzeugen festgestellte Thatsache. Je" -ne
Erkläi-ung wäre jedenfalls nur dann genügend, wenn Pei* '^^
grinus nicht blos der Charlatan, als den ihn Lucian schilde= """»^^^
Alexander und Peregrmus. 183
sondera geradezu veiTückt gewesen wäre. Allein diess war er
denn doch nicht ; wie gross wir uns vielmehr seine Ruhmsucht,
seine Excentricität und sein Bedtirfniss, Aufsehen zu eiregen,
vorstellen mögen, so muss doch nach dem, was oben aus Gellius
angeführt wurde, trotzdem ein Kern von sittlichem Ernst und
Charakter in ihm gewesen sein. Er war ein Schwärmer, aber
kein Schwindler. Lucian's Behauptung, dass er gehofft habe,
an der Ausführung seines so laut angekündigten Vorsatzes ver-
hindert zu werden, und dass er, als diess unterblieb, alle
Fassung verloren habe, lautet nicht sehr glaubwürdig, und
Liucian war auch über das, was im Innern des Cynikers ver-
meng, gewiss nicht unterrichtet. Wenn dieser seinen Selbst-
mord so feierlich vorher ankündigte und alle Vorbereitungen
dazu traf, so musste er, falls es ihm nicht damit Ernst war,
sich wohl sagen, dass diess ein sehr gewagtes Spiel sei ; wenn
er andererseits so am Leben hieng, wie Lucian will, so hätte
ihn niemand gehindert, nach jener letzten Rede in Olympia
sich von denen erweichen zu lassen, die ihn baten, sich seinem
Taterland zu erhalten. Aber so gewiss es die Eitelkeit war,
welche ihm diese theatralische Ausführung seines Selbstmord-
gedankens eingab, so wenig werden wir diesen Gedanken selbst
hieraus allein erklären können. Dei^selbe war vielmehr nichts
anderes, als die Anwendung einer alten und lange vor Pere-
grinus in Uebung gestandenen Lehre der Schule, der er an-
gehörte. Schon die ersten Cyniker, ein Antisthenes und seine
Schüler, hatten mit allen anderen äusseren Gütern auch das
Leben für etwas gleichgültiges erklärt und sich für den Noth-
fall das Recht vorbehalten, es freiwillig zu verlassen. Ihre
Nachfolger,' die Stoiker, giengen noch weiter: ihnen galt der
Selbstmord geradezu als die höchste Bethätigung der sittlichen
i^reiheit, als der thatsächliche Beweis von der Erhebung über
alles das, woran die Menschen sonst zu hängen pflegen; und
es hat sich desshalb von den ersten Meistern der Schule mehr
^Is einer nach dem Vorgang ihres Stifters aus unbedeutenden
^^«ranlassungen getödtet. Die gleichen Grundsätze pflanzten
sich zu den jüngeren Cynikeni fort, als sich diese Schule um
184 Alexander und Peregrinus.
den Anfang unserer Zeitrechnung von der stoischen wieder ab-
zweigte; so hat sich z. B. der oben erwähnte Schul- und Zeit-
genosse des Peregrinus, der von Lucian gefeierte Demonax, in
hohem Alter ausgehungert. Dass es Peregiinus ebenso machte,
könnte an sich nicht auffallen. Aber was andere thaten, ohne
viel Wesens davon zu machen, das musste bei ihm mit Auf-
sehen en-egendem, theatralischem Gepränge geschehen. Nach
allem, was wir von ihm wissen, muss er einer von den Men-
schen gewesen sein, die nichts andei^s als mit Leidenschaft-
lichkeit und Uebertreibung zu thun wissen. Als er Christ
wurde, scheint er sich sofort zum Martyrium gedrängt, seinen
neuen Glauben in herausfordenider, die Anhänger der an-
erkannten Religionen verletzender Weise verkündigt zu haben;
denn da damals in Syrien offenbar keine allgemeine Christen-
verfolgung stattfand , seine Glaubensgenossen vielmehr auch
nach seiner Verhaftung offen und ungehindert mit ihm ver-
kehren konnten, und da der Statthalter dieser Provinz dem
Christenthum als solchem so geringe Wichtigkeit beilegte, dass»
er auch ihn schliesslich als einen ungefährlichen Schwärmeir"
wieder laufen liess, so lässt sich seine Einkerkerung nur dui*clM.
die Voraussetzung erklären, er habe seinei^seits eine bestimmte
Veranlassung zu derselben gegeben. Aehnlich trat er spätei- -
nach seinem Uebertritt zur cynischen Schule, in Rom auf^.
Wie schon vor ihm einzelne Mitglieder dieser Schule dui'cl:^
Schmähungen gegen die Regierung . sich Ausweisung, Au&-
peitschüng, selbst die Todesstrafe zugezogen hatten, so konnt-c
auch er es nicht lassen, in den Ton jenes renommistischexi
Republikanismus einzustimmen, durch den die Cyniker dei*
Kaiserzeit ihre philosophische Unabhängigkeit beweisen zu
müssen glaubten. Der gleiche Zug zeigt sich in dem Pomp,
mit dem er seinen Selbstmord umgab. Auch dieser letzte
Schritt muss möglichst viel Aufsehen machen. Er will sich
der Welt als ein zweiter Herakles zeigen , will das Menschen-
geschlecht durch sein Beispiel den Tod verachten lehren. Seine
Sprache und seine Handlungsweise ist die eines ehi'geizigen
Schwärmers, eines Menschen, von dem man zwar nicht sagen
Alexander und Peregrinns. 185
kann, dass es ihm mit seiner Sache nicht Ernst sei, der aber
sich selbst von der Sache nicht zu trennen weiss, ihren höch-
sten Triumph in dem Effekt sucht, den sein Thun heiTorbringt.
Ein solches Pathos übernimmt sich fortwährend, seine hohle
Erhabenheit schlägt in Lächerlichkeit um, und es wird uns am
Ende begreiflich, wenn ein Satyriker,' wie Lucian, die That
des Peregrinns schlechterdings nur von dieser Seite, als eine
abgeschmackte Komödie, zu fassen weiss. Auch die Todesart,
die er gewählt hat, trägt dieses theatralische Gepräge. Er
wül dadurch dem Herakles, den die Cyniker als ihren Schutz-
patron und ihr Vorbild verehrten, auch in seinem Ende ähn-
lich werden; er will es den damals vielgefeierten indischen
Philosophen, den Brahmanen, gleichthun, von denen namentlich
einer, der mit Alexander aus Indien nach Babylon gekommen
war, Kaianus, durch seine Selbstverbrennung das Staunen der
Hellenen hervorgenifen hatte. Der Spott des Satyrikers wurde
natürlich auch durch diese Parallelen, deren Benutzung sich
Lucian nicht entgehen lässt, herausgefordeit : der Knittel des
Cynikei-s war eben keine Herakleskeule, und seine schmutzige
Kutte keine Löwenhaut; und wenn ein Kaianus nach dem
Glauben seines Volkes den Göttern in seiner Pei-son das ihnen
gefälligste Opfer darbrachte, so war die mildere und mensch-
lichere Religion der Hellenen schon längst über die Stufe
kinausgeschritten, auf der man die Bewohner des Olymp durch
freiwillige oder unfreiwillige Menschenopfer versöhnen zu können
meinte.
So seltsam uns aber der Selbstmord des Peregiinus er-
scheinen muss, und so sehr die Art seiner Ausführung auch
schon die Zeitgenossen dieses Cynikers befiemdete, so fehlte
es ihm doch unter denselben nicht an Bewunderern. Wir sehen
aus Lucian, wie verschieden dieser Schritt schon vor seiner
Ausführung beuilheilt, wie er von den einen ebenso lebhaft
gepriesen als von den andern getadelt und verlacht wurde.
Er erwähnt anderswo (adv. Ind. 14) eines Verehrers von Pere-
grinns, welcher den Stock, den dieser Philosoph vor seinem
Tode getragen hatte, für ein ganzes Talent erkaufte. Er theilt
186 Alexander und Peregrinus.
eine Weissagung mit, die von seinen Anhängern als sibyllinisc-"
in Umlauf gesetzt worden sei, um ihn nach seinem Tode al
einen Heros zur Verehrung zu empfehlen. Er erzählt, es habei
sich noch an Peregrinus' Todestage GeiHchte verbreitet, di-
auf eine Apotheose des Vei-storbenen hinzielten. Er selbst
sagt er, habe sich den Spass gemacht, einfältigen Zuhören
vorzuschwindeln, dass sich aus der Flamme von Peregrin*^
Scheiterhaufen, unter dem Gebrüll eines Erdbebens, ein Gei^
erhoben habe, der mit lauter menschlicher Stimme, den Rii
erschallen liess: „Ich verlasse die Erde, ich steig' auf zun
Olympos" ; und ganz kurz darauf habe ihm ein würdig aus
sehender Greis betheuert, dass er nicht allein diesen Geie
selbst gesehen habe, sondern dass ihm auch der verklärte Pere
grinus in weissem Gewand, den Kranz auf dem Haupt, be
gegnet sei. Unter diesen Umständen, fügt Lucian bei, wän
es kein Wunder, wenn ihm bald genug Altäre und Bildsäulei
errichtet würden, wenn sich Thoren fänden, die versicherten
dass ihnen der neue Dämon des Nachts begegnet sei und sii
von Krankheiten geheilt habe, wenn an der Stätte seines Todei
ein Orakel gegi'ündet würde. Habe doch er selbst darauf hin
gearbeitet, indem er Sendschreiben an die angesehensten Städte
mit allerlei Ermahnungen und Vorschriften hinterlassen unc
diejenigen von seinen Schülern bezeichnet habe, welche ihnei
dieselben überbringen sollten. Wissen wir nun auch nicht
was von diesen Angaben geschichtlich, was eine Erfindung dej
Satyrikers, theilweise vielleicht geradezu eine Parodie auf di<
Erzählungen von der Auferstehung Jesu ist, so gieng doch di(
Weissagung, welche Lucian daran anknüpft, thatsächlich ii
Erfüllung. Wir sehen aus Athenagoras, dass Peregrinus ii
seiner Vaterstadt, wenige Jahre nach seinem Tode, nicht bloi
eine Bildsäule gesetzt war, sondern dass man auch — ii
welcher Form wissen wir nicht — Orakel von ihm zu erhaltei
meinte. Auch Lucian hat aber das, was angeblich unmittelbai
nach Peregrin's Tod oder gar noch vor diesem Ereigniss übei
die Verehrung desselben vorhergesagt wird, wahrscheinlicl
grösstentheils bereits aus dem Erfolge geweissagt. Jedenfalls
Alexander und Peregrinus. 187
ist so viel sicher, dass es auch ihm an Anhängern nicht ge-
fehlt hat, die ihn nicht blos, wie Gellius, als Moralphilosophen
hochschätzten, sondeni auch in seinem Lebensende eine be-
wunderungswürdige That und in dem schwärmerischen Selbst-
mörder einen weissagenden Dämon verehrten. Neben der
Bildsäule Alexanders stand in Parium die des Peregrinus, dem
Orakel des einen machte das des andern Concurrenz; und ist
uns auch dieser Kultus, den Peregrinus betreffend, nur von
Paiium bezeugt, so können wir doch schon nach Lucian nicht
annehmen, dass er sich auf diesen Ort beschränkt hat.
Eben diess ist es aber, worin das Interesse der Erschei-
nungen, mit denen wir uns hier beschäftigt haben, an erster
Stelle liegt. Betrüger, wie Alexander, Schwärmer, wie Pere-
grinus, hat es viele gegeben; aber nur den wenigsten ist es
gelungen, auch nur vorübergehend einen Erfolg, wie diese
Männer, zu erreichen. Diess war nur in einer Zeit möglich,
die ihrem Treiben eine besondere Empfänglichkeit entgegen-
brachte, deren geistige Atmosphäre mit allen den Elementen
gesättigt war, welche Schwärmer erzeugen und Betrügern den
T^eg ebnen. In dem Bilde einer solchen Zeit dürfen auch
cLie Züge nicht fehlen, welche uns an einem Peregrinus und
einem Alexander so abstossend entgegentreten; und die Er-
innerung an diese Züge macht uns auch in edleren und be-
deutenderen Erscheinungen, die der gleichen Zeit angehören,
manches verständlich, in das wir uns sonst schwer linden
^würden. Andererseits zeigt aber gerade die Vergleichung der
einen und Andern, was für ein Unterschied zwischen solchem
ist, das von Anfang an auf Betrug beruht, oder dessen
besserer Gehalt sich in schwärmerischer Uebertreibung ver-
loren hat, und solchem, an das sich diese unsauberen Ele-
Dieate nur als äusserliche Entstellung angehängt haben. Es
8ibt keine Religion, welcher der Kampf mit Einflüssen erspart
Söblieben wäre, die ihrem innersten Wesen widerstrebten,
^lochten sie ihr nun von ihrem Ursprung her anhaften oder
^i^st im Verlauf ihrer Entwicklung sich in sie eingedrängt
l**ben, mochten sie aus abergläubischer Beschränktheit und
188 Alexander und Peregrinus.
Phantastik oder aus tendenziöser Erfindung und hierarchischer
Berechnung herstammen. Aber der grosse Unterschied liegt
in der Bedeutung, welche diese Elemente im gegebenen Falle
haben. Ein kräftiger Organismus kann Entwicklungskrank-
heiten durchmachen und Störungen überwinden, an denen der
schwächere zu Grunde geht; er kann unter günstigen Um-
ständen und bei zweckmässiger Lebensweise selbst Fehler seiner
ursprünglichen Anlage verbessern. Auch mit den geistigen
Organismen verhält es sich nicht anders. Wie kein Körper
vollkommen schön und gesund ist, so gibt es auch auf dem
geistigen Gebiete keine Erscheinung, die nicht in mancherlei
Gebrechen dem Geist ihrer Zeit und den allgemein mensch
liehen Schwächen ihren Zoll entrichtete. Aber so wenig wi
alle Menschen körperhch krank nennen werden, ebensowenij
werden wir das Grosse und Gesunde, das aus der Geschieht,
unseres Geschlechts hervorglänzt, desshalb in den Staub zieheMz^.,
weil es sich nicht von aller Befleckung durch Ungesundes ucÄ.ci
Verkehrtes freizuhalten vermocht hat; sondern die Frage ist
eben die nach dem Verhältniss, in dem beide gemischt siad.
Wie es aber damit steht, erfähi-t man am besten aus den Wir-
kungen, die eine Erscheinung für die Menschheit gehabt hat.
Was dem Fortschritt ihrer Gesittung zum Träger gedient, was
ihr neue Lebenskräfte zugeführt hat, das muss in seinem Kerne
gesund sein, wie viel sich auch von Beschränktheit, Missver-
ständniss und Uebertreibung daran angesetzt habe; wo um-
gekehrt statt dieser Wirkungen die entgegengesetzten hervor-
treten, da wird uns kein äusserer Glanz über die Leerheit
und Unfruchtbarkeit des inneren Wesens täuschen dürfen. Was
von den Einzelnen gilt, das gilt auch von den geschichtlichen
Ganzen: „An ihren FiHchten sollt ihr sie erkennen."
r
V.
Römische und griechische ürtheile über das
Ghristrathuin.
(Vorgetragen im November 1876.)
Der grosse Verkündiger des Christenthums unter den
Heiden, der Apostel Paulus, nennt (1. Kor. 1, 23) seine Pre-
digt vom Gekreuzigten ein Aergerniss für die Juden und eine
Thorheit für die Griechen; und er bezeichnet damit kurz und
treflFend die Gesichtspunkte, von denen der Widerstand gegen
dieselbe bei den zwei ungleichen Hälften. der nichtchristlichen
Welt, auf deren Gewinnung er ausgezogen war, vorzugsweise
ausgieng. Den Juden war das Christenthum auch dann,
^enu sie sich ihm feindlich entgegenstellten, in gewissem
Grade veratändlich ; denn es wurzelte in dem Monotheismus
^d in der messianischen Hoffnung ihres Volkes. Bei den
Heiden dagegen, oder, wie Paulus sie nennt, den Hellenen,
fehlte es von Hause aus an allen den Voraussetzungen, an die
^ in der jüdischen Welt anknüpfte. Der polytheistischen
^olksreligion trat es durch seinen Monotheismus in un-
^^J'hüUter Feindschaft entgegen ; und andererseits mussten den-
[ J^nigen , welche sich mit dem Monotheismus als solchem eher
L 2^ befreunden vermocht hätten, die Lehren um so unver-
l ständlicher sein, die sich auf der Grundlage des jüdischen
k Messiasglaubens entwickelt hatten. Die Verehining eines
»f^den, der den schmählichen Tod des Verbrechei-s erlitten
"^tte; der Glaube an sein Fortleben im Himmel, an seine
190 Römische und griechische Urtheile
göttliche Abstammung und Natur ; die Erwartung, dass er mit
den himmlischen Heerschaaren kommen werde, um dem
jetzigen Weltzustand und den Reichen dieser Welt jählings
ein Ende zu machen; die Hoffnung auf eine dereinstige Auf-
ei-stehung des Leibes: welchen hellenisch Gebildeten konnte
es geben, deni dieser Glaube und diese Erwartungen nicht
beim ersten Anblick als die äusserste Thorheit, als die Aus-
geburt einer schwärmerischen Phantasie oder das Werk eines
plumpen Betruges hätten erscheinen müssen? Nehmen wir
dazu alle die auffallenden Eigenthümlichkeiten der chris^
liehen Lebensweise und Sitte: das Geheimniss, mit dem die
Christen ihre gottesdienstlichen Handlungen umgaben; das
feste Zusammenhalten der Partei, welches den aussenstehen-
den den Eindruck einer geheimen Verbindung , einer Ver-
schwörung gegen die bestehende Ordnung machte; die ängst-
liche Scheu vor jeder Berühning mit der heidnischen Götter-
verehrung, die zur völligen Zurückziehung von der nicht-
christlichen Gesellschaft führen musste; die Abneigung gegen
Kriegsdienst und öffentliche Aemter; den Grundsatz, dass
Christen ihre Streitigkeiten unter sich ausgleichen sollen und.
vor keinem heidnischen Gericht Recht suchen dürfen; die Ver—
Weigerung der Theilnahme an öffentlichen Festlichkeiten und
Vergnügungen, an den Opfern für Kaiser und Reich; über-
sehen wir auch die Geringschätzung nicht, mit der ein gebil —
deter Grieche oder ein vornehmer Römer auf eine Gesellschaft
herabsehen musste, die sich lange Zeit ganz überwiegend aus
den untersten Volksklassen rekrutirte, in der kleine Hand
werker, Sklaven und Freigelassene mit den wenigen höh(
Stehenden, die in sie eintraten, auf dem Fusse vollkommene^^
Gleichheit und BiHderlichkeit verkehrten, in welcher deic^
künstlerischen Schmucke des Lebens, der wissenschafüichen — ^
ästhetischen, geselligen Bildung, den Grossthaten des Kriegei
und dem Ruhm des Gelehrten schlechterdings kein Werth bei-
gelegt wurde — vergegenwärtigen wir uns alles dieses,
werden wir uns nicht wundern können, wenn die Freunde det'^
hellenischen Kunst , die Schüler der attischen Philosophie, di^ ^
über das Christenthum. 191
Söhne des weltheiTSchenden Rom und seiner Helden einer
Religion nicht gerecht werden konnten, die sich ihnen in einer
für sie so abstossenden und unvei*ständlichen Gestalt dar-
stellte.
In Wahrheit fehlte es nun freilich dieser Religion keines-
wegs an zahlreichen und tiefgreifenden inneren Beziehungen
zu der geistigen Verfassung, der Denkweise und den Bedürf-
nissen ihrer Zeit. Das Christenthum ist ja ein Erzeugniss
dieser Zeit selbst, ein Werk der gleichen geistigen Mächte,
von denen sie in ihrem innersten Grunde bewegt wurde. Auch
lagen die Bedingungen seiner Entstehung und seiner geschicht-
lichen Entwicklung nicht blos im Judenthum; sondern erst
nachdem dieses mit der hellenischen und hellenistischen Bil-
dung in die umfassendste und dauerndste Berühning gekommen,
in der vielfachsten Weise durch sie befruchtet war, konnte
das Christenthum aus ihm hervorgehen. Wie die Weltreiche
Alexanders und der Römör durch eine tiefgi-eifende Umge-
staltung der politischen Zustände der Weltreligion äusserlich den
Weg bahnten, so haben wir die wesentlichste innere Bedingung
dei'selben in jener Lehre zu suchen, die schon seit Jahrhunderfen,
hauptsächlich durch den Einfluss der stoischen Philosophie, die
Weiteste Verbreitung gewonnen hatte, der Lehre, dass alle Men-
schen Ein gi-osses Gemeinwesen bilden, dass sie an Pflichten
^^d Rechten sich gleich stehen und nur durch ihr sittliches
^^rhalten sich untei^scheiden, dass sie alle dem gleichen Natur-
^^d Sittengesetz unterthan seien. Die hohen sittlichen An-
*^i*derungen des Christenthums stimmten mit dem überein,
^^ die hervon*agendsten unter den alten Weisen von jeher
S^lehi-t hatten. Wie Paulus dem Glauben, so legten die
^^iker der sittlichen Gesinnung, der Tugend und Weisheit,
^Üein einen Weith bei ; wenn jener die allgemeine Sündhaftig-
*^®it der Menschen nicht stark genug zu schildern weiss, so
^'^den wir ganz ähnliche Schilderungen bei seinen römischen
^^itgenossen und vor allen bei dem Stoiker Seneca; wenn den
^hiisten alle Menschen in die zwei grossen Klassen der Wieder-
geborenen und ünwiedergeborenen zerfallen, so zerfallen sie
192 Komische und griechische ürtheile
den Stoikeiti nicht minder scharf in die zwei Klassen der
Weisen und der Thoren; wenn jene sich aus dem Verderben
dieser Welt nach der himmlischen Heirlichkeit hinwegsehnen,
so freuen diese sich ebenso lebhaft auf den „Geburtstag der
•
Ewigkeit" , wie auch sie den Todestag nennen , auf die Be-
freiung aus der Sklaverei des Leibes, den Eintritt in den
„grossen ewigen Frieden".
Noch viele Punkte Hessen sich hervorheben, in denen das-
Christenthum den tiefsten Bedürfhissen seiner Zeit entgegenkam^
mit ihren achtungswerthesten Bestrebungen, mit Bewegungen.,
welche schon längst die weitesten Kreise ergriffen hatten, sicla
verwandtschaftlich beruhigte; und so könnte man glauben, da.^s
es wenigstens bei denen auf eine unbefangene WürdiguKig
Aussicht gehabt hätte, welche mit ihm die sittlichen Gre-
brechen der Zeit erkannten und an ihrer Heilung mit einem
Ernst und einer Hingebung arbeiteten, der wir imsere Äcsh-
tung nicht versagen können. Allein dem war doch nicht so»
So wenig die Christen bei der Beurtheilung des römischen und
griechischen Wesens von den Voraussetzungen ihrer supra-
naturalistischen Dogmatik und von den jüdischen Voinirtheilen
gegen das Heidenthum abzusehen vennochten, ebensowenigr
wussten sich die Griechen und Römer über den Bildungsstolz-
zu erheben , der es ihnen nicht erlaubte , die syrischen Bar-
baren, von denen die neue Religion ausgieng, mit den hodi-
gefeierten Weisen des eigenen Volkes zusammenzustellen und
hinter den fremdartigen TJeberliefenmgen derselben einö
tiefere, ihren eigenen philosophischen TJebei-zeugungen ver-
wandte , ihrer ernsteren Beachtung würdige Wahrheit zu veir-"
muthen. Wenn die Christensekte bei der Masse der heidai^
sehen Bevölkei-ung verhasst war, so wurde sie von dem gebil-^
deten Theil derselben verachtet; und es wai-en Jahrhundert^
nöthig, bis auch nur bei den letzteren die anfängliche GeriDg""
Schätzung und ünkenntniss etwas richtigeren und würdigeröli
Voi-stellungen Platz machte.
Dem heidnischen Volke galten die Christen in erst^
Reihe für Atheisten: denn mit diesem Namen hat »öb
über das Christenthum. 193
jederzeit die gebrandmarkt , welche mit den herrschenden
Vorstellungen über die Gottheit nicht übereinstimmten; nicht
allein, wenn sie das Dasein derselben ganz läugneten, sondern
ebensogut , wenn sie eine richtigere und würdigere Gottesidee
zur Geltung zu bringen suchten. „Nieder mit den Atheisten!"
so lautete der Schlachtmf des heidnischen Pöbels gegen die
Christen. Mit diesem Ruf wurde z. B. im Jahr 156 der ehr-
würdige Bischof Polykaipus in der Rennbahn von Smyma
empfangen. Die -Götter, von denen das Volk allein wusste,
deren Tempel es besuchte, deren Bilder es verehrte, an die
es seine Opfer und Gebete richtete — diese Götter wurden
ja auch wirklich von den Christen geläugnet, sie wurden bald
ftr Geschöpfe des menschlichen Aberglaubens, bald auch für
böse Geister, für Teufel erklärt. Kann man sich wundem,
wenn das Volk, das diesen Göttern noch anhieng, den Angriff
auf dieselben als einen Angriff auf sich selbst, auf sein Hei-
lstes und Liebstes, empfand? wenn es über denselben um so
tiefer empört war, je enistlicher es befürchtete, durch seine
Duldung die Gunst der Götter zu verlieren, an die es sein
^i&enes Wohlergehen nun einmal geknüpft glaubte? Der Vor-
^^vf des Atheismus war daher der gefährlichste, der den
Cliinsten gemacht werden konnte. In jenem „Nieder mit den
^^heisten!", das der Pöbel von Smyrna Polykarp entgegen-
^^"ttllte, war das Todesurtheil ausgespi'ochen, an dessen Voll-
^^Ixung sofort durch Aufschichtung seines Scheiterhaufens
H^Xid angelegt wurde. Und ähnliche Folgen hatte das gleiche
^^xnirtheil unzählige Male. Wenn irgend ein öffentliches Un-
8'^ck, irgend ein Ereigniss eintrat, das Schrecken verbreitete
^^^T die Ungnade der Götter anzuzeigen schien, eine Seuche,
^^^ Misswachs, eine Ueberschwemmung, eine Sonnenfinsteniiss,
^^ Erdbeben : immer war der Aberglaube geneigt, die Götter-
feinde, die Christen, dafür verantwortlich zu machen; immer
*^Örte man wieder den Ruf: „Mit den Christen vor die Löwen!"
Wie aber der gebildete und der ungebildete Pöbel von
Jöl^er den Feinden seiner Götter auch jede andere Schlechtig-
keit zugetraut hat, so machte er es auch den Christen. Da
Zell er, Vorträge und Abhandl. 13
194 Römische und griechische Urtheile
sie einmal für Atheisten galten , hielt man sie auch für Ver-
brecher, und alle möglichen Schauergeschichten wurden von
ihnen erzählt. Nicht genug, dass ihnen nachgesagt wurde,
sie beteten jenen Gott mit einem Eselskopf an, den wir heute
noch auf einer Caricatui* aus jener Zeit, dem bekannten
Spottcrucifix des Kircher'schen Museums in Rom, darge-
stellt sehen: sie sollten auch in ihren geheimen Zusammen-
künften Gräuel aller Art begehen, Kinder schlachten und ver-
zehren, sich den scheuslichsten Ausschweifungen überlassen.
Der chnstliche Fanatismus hat im Mittelalter Juden und
Ketzern kaum irgend einen Frevel schuldgegeben, den nicht
der heidnische Volksglaube ehedem den Christen beigelegt
hätte. Wie alt diese üble Meinung über sie war, sehen mt
aus Tacitus' Bericht von der Neronischen Ghristenverfolgung.
Als unter Nero mehr als zwei Drittheile der Stadt Rom durch
eine beispiellos heftige Feuersbinnst in Asche gelegt wurden,
und das GeiHcht den Kaiser selbst bezüchtigte, den Brand
angestiftet zu haben, suchte dieser sich Leute, denen er die
Schuld zuschieben konn1;p; und er wählte sich dazu, sagt
Tacitus, die Partei, „die, wegen ihrer Schandthaten allgemein
verhasst, vom Volke mit dem Namen der Christen bezeichnet,
wurde". Jene unsinnigen Vorstellungen über die Christen
waren also schon damals, wenige Jahre nach der ereten Ent-
stehung einer Christengemeinde in Rom und nur zwei Jahre
nach der Ankunft des Paulus in dieser Stadt, nicht blos im
Umlauf, sondern sie wurden auch so allgemein geglaubt, dass
ein Nero es wagen konnte, die Christen als bekannte Ver-
brecher für jenes namenlose öffentliche Unglück verantwort-
lich zu machen. Seine Berechnung täuschte ihn allerdings:
der Verdacht blieb an ihm haften, und die Unmenschlichkeit
der Mai-tern, unter denen er die unglückhchen Schlachtopfer
seiner Grausamkeit massenweise hinmordete, erregte am Ende
selbst das Mitleid ihrer Feinde. Aber das liegt am Tage:
Nero hätte die Christen gar nicht als die Brandstifter verfolgen
können, wenn sie nicht dem Volke für Leute gegolten hätten,
über das Christenthum. 195
die für eine solche Unthat nicht zu gut seien; und Tacitus
sagt uns ja auch ausdrücklich, dass sie dafür galten.
Doch wenn die leichtgläubige und unverständige Masse
keine richtigeren Voi-stellungen hatte, so kann uns diess we-
niger Wunder nehmen. Viel auffallender muss es uns sein,
wenn auch der grosse Geschichtschreiber, dem wir diese erste
Erwähnung der Christen in der Profanliteratur verdanken,
die Voi*stellungen des Pöbels über sie getheilt hat. Indessen
können wir ihn von dieser Anklage nicht freisprechen. Er
behandelt nicht allein die Schandthaten, welche das Gerücht
den Christen schuldgab, wie ausgemachte Thatsachen, son-
dern er fügt seiner Angabe auch noch die Bemerkung bei:
„Den Stifter dieser Partei, Namens Christus, hatte unter Ti-
berius der Procurator Pontius Pilatus hinrichten lassen. Da-
durch wurde der heillose Aberglaube für den Augenblick
zurückgedrängt; aber bald verbreitete sich die Ansteckung
^uf s neue, nicht allein über Judäa, wo die Krankheit ursprüng-
lich zu Hause war, sondern auch in die Hauptstadt, in der
JÄ alles schandbai-e und vei-worfene überall her zusammen-
strömt und Anklang findet.'' Und mit Bezug auf die Anklage,
Welche gegen die Christen erhoben war, bemerkt er: „Der
Brandstiftung seien sie zwar nicht überführt worden, aber der
Feindschaft gegen das menschliche Geschlecht." Diesen
Eindruck machte auf den Römer, was ihm von dem Glauben
^iJ^xd dem Verhalten der Christen zu Ohren gekonämen war.
I>e8 Atheismus, welcher den Feinden der Volksgötter doch
ohne Zweifel auch schon damals vorgeworfen wurde, geschieht
kleine Erwähnung: in den Augen des Tacitus ist eben der
Hauptfehler der neuen Religion nicht der Unglaube, sondern
^& Aberglaube. Für sein Gesammturtheil nützt diess aber
d^n Christen wenig; sie sind Feinde des menschlichen Ge-
8<^hlechts, und von solchen hat man sich jedes Verbrechens zu
Vorsehen. Und nachdem Tacitus der entsetzlichen Qualen
^d des gi'auenhaften Hohnes gedacht hat , mit dem Nero gegen
^^^ Christen wüthete, schliesst er seine Erzählung mit den
*^örten: „So schuldig sie daher waren, und so sehr sie die
13*
196 Komische und griechische Urtheile
äusserte Strafe verdient hatten, so bemitleidete man sie
doch, weil man annahm, dass sie nicht dem Gemeinwohl, son-
dern nur der gi-ausamen Laune eines Einzelnen geopfert wer-
den/' Er gibt zu, dass sie des Verbrechens, das man ihnen
schuld gab, nicht tiberwiesen, dass ihre Hinrichtung auf
diesen Gi-und hin ein Justizmord, die Art ihrer Vollziehung
eine Scheuslichkeit war: aber er hält sie für eine so ver-
worfene und gemeingefährliche Partei, dass ihre Ausrottung
an sich selbst im öffentlichen Interesse gelegen hätte.
Das Vorurtheil gegen die Christen musste wirklich sehr
tiefe Wurzeln geschlagen haben, die Geringschätzung, mit der
die Gebildeten auf diese neue Foim orientalischer Supersti-
tion herabsahen, musste ganz allgemein sein, wenn der grösste
Geschichtschreiber, den Rom hervorgebracht hat, noch um den
Anfang des zweiten Jahrhunderts die Vorstellungen des Pöbels
von den Schandthaten der Christen als baare Münze annahm und
weiter gab, ohne dass er es nur der Mühe werth gefunden hätte,
ihre Wahrheit zu prüfen. Unter solchen Umständen konnte die
Sache des Christenthums an sich nur gewinnen, wenn der Process,
den es unter Nero verloren hatte, unter einer besseren Re-
gierung wieder aufgenommen, wenn vor gerechteren Richtern
die Frage untersucht wurde, wie es sich mit den Verbrechen
verhalte, welche das GeiHcht seinen Anhängern aufbürdete,
und an welche selbst ein Tacitus geglaubt hat. Diess geschab
denn auch noch zu Tacitus' Lebzeiten, wenige Jahre, nachdem et
seine ebenbesprochenen Aeusserungen über die Christen nieder^
geschrieben hatte. Es war der gi-össte der Cäsaren, Trajan»
welcher neben den zahllosen übrigen Angelegenheiten, die it»
dem unermesslichen Reiche zu ordnen waren, auch mit döt*
Christen und ihrem Verhältniss zum römischen Staat sict>
zu beschäftigen Veranlassung fand ; und es war einer von de:*^
edelsten und gebildetsten Männern jener Zeit, der jünger^
PI in ins, dem die Aufgabe zufiel, die Anschuldigungen geg^^
die Christen zu untersuchen. In dem westlichen Kleinasiec:^
und namentlich in der von Plinius verwalteten Provinz BithjT^
nien, hatte der christliche Glaube solchen Anklarfg gefundeU^
über das ChristenthanL 197
«
dass an vielen Orten, in den Städten und selbst auf dem
Lande, die Tempel der Götter leer standen, ihre Feste nicht
mehr gefeiert wurden, das Fleisch der Opferthiere kaum noch
einen Käufer fand. Die Erbitterung der Heiden über diesen
Erfolg ihrer Gegner führte zu Klagen. Erst einzelne, bald
immer mehrere wurden bei Plinius als Anhänger der Christen-
sekte zur Anzeige gebracht, wozu ein unlängst ergangenes
Verbot aller vom Staat nicht anerkannten Vereine die Hand-
habe bieten konnte. Plinius war in Verlegenheit : gesetzliche
Bestimmungen über die Christen waren damals noch keine
vorbanden, und auch in der gerichtlichen Praxis hatte sich
für die Behandlung dieser Angelegenheit noch* keine feste
üebung gebildet; Plinius wenigstens war, wie er selbst an
Trajan schreibt, noch nie bei einer Untersuchung gegen
Christen zugegen gewesen. Solche Untersuchungen waren
eben seit der grossen Neronischen Verfolgung nur sehr ver-
einzelt unter Domitian, und seit dessen Ermordung gar nicht
mehr vorgekommen. Aber als ächter Römer behandelte er
die Sache nach einem einfachen und durchgreifenden politi-
schen Gesichtspunkt. Mochte das Christenthum sein, was es
tollte: sobald es den Anspruch machte, seine Eigenthümlich-
teit im Gegensatz gegen die Staatsreligion und die öffentlichen,
^t dem Staatsleben verflochtenen Kultushandlungen zu be-
l^upten, erwies es sich als staatsgefährlich. Nach diesem
GiTindsatz vei-fuhr Plinius. Die Personen, welche als Christen
*Dgezeigt waren, wurden vorgeladen und befragt, ob sie
Christen seien. Bekannten sie sich als solche, so wurden sie
^ter Androhung der Todesstrafe aufgefordert, diesen Glauben
^ verläugnen; weigerten sie sich dessen , so wurden sie hin-
gerichtet, oder wenn sie das römische Bürgerrecht besassen,
^® einst Paulus, zur Aburtheilung nach Rom geschickt,
»öeiin ich war," sagt Plinius, „darüber nicht im Zweifel, dass
^^ Hartnäckigkeit und unbeugsame Widerspenstigkeit jeden-
^'s Strafe verdiene, was auch der Glaube, zu dem sie sich
^^annten, eigentlich sein möge." Wer umgekehrt läugnete,
"^^ er ein Christ sei, oder sein anfängliches Bekenntniss
198 Bömische und griechische üriheile
wieder zurttcknahm, der wurde freigelassen, sobald er den
Bildern der Götter und des Kaisers seine Verehrung bezeigte
und Christus verfluchte. Diess war nun freilich ein selir
summarisches Verfahren. Aber doch benützte der Statthalter
die Gelegenheit , sich über den Glauben und das Treiben der
Christen theils bei solchen, die sich zur Verläugnung des
Christenthums bereit finden Hessen, theils auch bei zwei
christlichen Diakonissinnen, die er dem peinlichen Verhör
unterwarf, genauer zu untemchten. Aber die einen wussten
so wenig wie die andeni von den Gräueln und Verbrechen zu
erzählen, welche das Gerücht den Christen schuldgab : sie be-
richteten von ihren religiösen Zusammenkünften, ihren Liebes-
mahlen, ihrer Anbetung Christi, ihren sittlichen Giomdsätzen.
Er habe, schreibt Plinius, in den Bekenntnissen der gefol-
terten Christinnen nichts gefunden, als einen unvernünftigen,
masslosen Aberglauben. So verbreitet aber dieser auch sei,
so hoflPt er doch, durch Strenge gegen die, welche hartnäckig
an ihm festhalten , und Begnadigung deijenigen , die ihn auf-
geben, werde er sich noch ausrotten lassen.
In diesem Bericht des Plinius an Trajan spricht sich nu^
immerhin eine genauere Kenntniss und eine gerechtere BeuL
theilung des Christenthums aus, als in den Aeusserunge^
des Tacitus. Hatte dieser den verläumderischen GeiHchte^
über die Laster und Verbrechen der Christen noch Glaubet
geschenkt, so ist bei Plinius davon nicht mehr die Rede: e^
überzeugt sich, dass sie mit dem Christenthum als solchen^
nicht nothwendig verbunden seien. Diese Beschuldigung
bleibt auch wirklich foi-tan auf die unteren Volksklassen be^
schränkt; von den Schriftstellern der Zeit wird sie nicht meh
wiederholt. Aber für einen thörichten und wunderlichen Aber*
glauben hält man das Christenthum allerdings nach wie vor^
und so duldsam das kaiserliche Rom im allgemeinen gege^^
Aberglauben jeder Art war, so fand diese Duldsamkeit doo
im vorliegenden Fall an der Eigenthümlichkeit des chrisÄC
liehen Glaubens ihre Grenze. Jede andere Religionsübun^
konnte neben dem bestehenden öffentlichen Kultus hergehe«»
I über das Christenthum. 199
die christliche musste ihn bestreiten: die Christen waren
Fände der Götter, Atheisten. Plinius gebraucht dieses Wort
nicht, aber der Sache nach ist es doch dieser Zug, der ihm
die Chiisten als Staatsverbrecher erscheinen Hess; sie wei-
gerten sich, den Staatsgötteni und dem Kaiser zu opfeni,
und dieser Trotz sollte gebeugt werden. Nicht andei-s ui-theilte
aber auch Trajan selbst. In seiner Antwort auf Plinius' Be-
richt billigt er dessen Verfahren und verfftgt: es solle zwar
nicht von Amtswegen gegen die Christen eingeschritten wer-
den, aber wenn sie zur Anzeige kommen und sich weigeni,
durch Verehrung der Staatsgötter ihr Christenthum zu ver-
laognen, sollen sie bestraft werden. Er betrachtete das
Christenthum offenbar als einen verhältnissmässig unschäd-
lichen Aberglauben, eine Veririaing, die man dulden könne,
80 lange es möglich sei, sie zu ignoriren, der man aber die
offene Auflehnung gegen die Staatsreligion und die Staats-
gesetze nicht nachsehen, und die man, wenn sie einmal vor
Gericht gezogen und hartnäckig festgehalten werde, nicht un-
bestraft lassen könne.
Trajan's Erlass an Plinius blieb für anderthalbhundert
Jahre die Nonn, nach welcher die Stellung der römischen
Staatsgewalt zum Christenthum sich richtete; und auch die
Ansicht über das letztere, aus der er hervorgegangen war,
behauptete sich längere Zeit unverändert. Während sich im
Volk der alte Hass gegen die „Atheisten", die alten, unsin-
^Ugen Verläumdungen in ungeschwächter Kraft erhielten,
'^'^Tissten die Gebildeten in dem neuen Glauben nur eine von den
'V'ielen Ausgeburten des Abei'glaubens zu sehen, welche damals
"Vom Orient her das römische Reich überschwemmten; und
^öiochte man nun diesen Abefglauben an sich selbst milder
Oder häiler beuilheilen , mochte man ihn mehr verderblich
Oder mehr lächerlich finden, seine Anhänger als Betrüger ver-
'ttrtheilen oder als Betrogene bemitleiden: daiHber war jeder-
*^ann einvei-standen, dass es ihm nicht gestattet werden könne,
^e Staatsgesetze über Proselytenmacherei und unerlaubte Ver-
bindungen zu verletzen, dass die Hartnäckigkeit gebrochen
200 Römische und griechische ürtheile
werden müsse , mit welcher die Christen jede Theilnahme an
der öffentlichen Götterverehrung auch in den Fällen verwei-
geilen, in denen sie nach den herrschenden Begriffen und den
bestehenden Einrichtungen von der Erfüllung der Pflich-
ten gegen das Gemeinwesen und seine Beherrscher unzer-
trennlich war. Nicht andei-s hat noch zwei Menschenalter
nach Trajan der dritte Nachfolger dieses Kaisers, der treff-
liche Marcus Aurelius Antoninus, über die Christeiv
geurtheilt. Dieser Kaiser war einer der mildesten, menschen —
freundlichsten, gewissenhaftesten Fürsten, welche je eine
Thron geziert haben. Er war ferner ein eifriger Anhäng
der stoischen Philosophie, die sich in ihrer Sittenlehre un.^
selbst in ihrer Theologie dem Christenthum so vielfach veÄ.--
wandt zeigt. Und dennoch hatten die Christen unter sein
Regieining härtere Verfolgungen zu erdulden, als unter eins
seiner Vorgänger seit Nero. Er glaubte eben, als römisch.
Kaiser die Staatsreligion gegen ihre ausgesprochenen Feind
schützen zu müssen; und er hatte als Mitglied einer Schul
welche sich selbst durch die kritikloseste Gleichsetzung
sophischer Ideen und religiöser Mythen, durch die ausschwei-
fendste Allegorik mit der Volksreligion abfand, kein Vei-stäad-
niss für die schweren Gewissensbedenken, die einem Christ^on
jede Theilnahme am heidnischen Kultus als die unverzeihlichst«
Sünde erscheinen Hessen. In den positiv christlichen Lehren
ohnedem, die sich nicht, wie die Mythen der Dichter, zjj
blossen Symbolen für philosophische Sätze verflüchtigen liessen^
konnte auch ein Mark Aurel unmöglich etwas anderes sehen,
als was schon Plinius darin gesehen hat, einen „mass- und
vernunftlosen Aberglauben", und in der Standhaftigkeit, mit
welcher die Christen an diesen Lehren festhielten, unmöglich
etwas anderes als einen unvernünftigen Eigensinn, dessen
Quelle nur in Trotz und Rechthaberei, und daneben noch etwÄ-
in dem Wunsch, Aufsehen zu en-egen und von sich reden zi^
machen, gesucht werden könne. Und so urtheilt er wirklictB-
in der einzigen Stelle seiner Selbstgespräche, in der er det*
Christen ei-wähnt (XI, 3), wenn er hier verlangt, dass man.
über das Christenthum. ^ 201
lerzeit zu sterben bereit sein solle, aber mit Würde, ohne
ipränge, aus vernünftiger Ueberaeugung , „nicht aus blossem
otz, wie die Christen". So wenig vermochte selbst der
fopfernde Heldenmuth der christlichen Blutzeugen das Vor-
theil des Römers zu überwinden. Mark Aurel hat die
tristen, welche in Ausführung seiner Befehle hingerichtet
irden, ohne Zweifel bemitleidet, wie er uns ja so oft ein-
häift, dass nur dieses die Stimmung sei, welche dem Weisen
ir Thorheit und Verkehrtheit der Menschen gegenüber ge-
eme; aber er glaubte sie um des Gemeinwohls und der
lentlichen Ordnung willen dem Ann der Gerechtigkeit nicht
itziehen zu dürfen, und dass es in Wahrheit nicht die Ge-
chtigkeit war, der sie zum Opfer fielen, sondeni ein Staats-
setz und Staatsinteresse, das vor dem natürlichen Recht
V Gewissensfreiheit nicht bestehen konnte, davon hatte er
ine Ahnung.
War aber selbst ein Mark Aurel nicht im Stande, das
ristenthum unbefangen zu würdigen, so wird man diess noch
aiger von einem Mann erwarten, dem es an eigenem reli-
sem Interesse und daher nothwendig auch am Verständniss
5 religiösen Lebens und seiner Motive von Hause aus in so
lem Grad fehlte, wie seinem Zeitgenossen, dem bekannten
byriker Lucian. Ein Weltmann wie er, halb Skeptiker,
Ib Epikureer, konnte darin unmöglich etwas anderes sehen,
i eine von den Thorheiten und Schwärmereien, au denen
ie Zeit so reich war. Nur in diesem Zusammenhang wird
überhaupt von ihm beiUhrt. In seiner Schrift über den
niiker Peregrinus, der sich bei den olympischen Spielen des
ihres 165 öffentlich verbrannt hatte, ei-zählt er*), dieser
^centrische Mensch habe in jüngeren Jahren eine Zeit lang
Palästina der Sekte der Christen angehört , sei bei ihnen
^ hohem Ansehen gelangt und um seines Glaubens willen
ögekerkert, in der Folge jedoch wieder freigelassen worden;
ad er ergreift diese Gelegenheit, um auch über die Christen
*) Wie S. 174 ff. des näheren auseinandergesetzt ist.
202 * Römische und griechische Urtheile
seine Meinung zu sagen. Er schildert dieselben mit ein
Art von mitleidiger Verachtung als araie, einfältige Leute, c
von dem Stifter ihrer Sekte mit allerlei thörichten Meinung"
und Hoffnungen getäuscht worden seien. Dabei ist ihm d
Muth, mit welchem die Christen in den Tod giengen, c
Freudigkeit, mit der sie ihrer Sache jedes Opfer zu bring
bereit waren, wohl bekannt. Aber dieser Heldenmuth u-
diese Aufopferungsfähigkeit hat in seinen Augen kein
Werth, weil sie sich auf so schwärmerische Wahnvorstellung
giUndet. Ihr Aberglaube macht die Christen, wie er saj
zur leichten Beute jedes Beti1lgei-s, der ihn zu benützen weis
und scheint er auch von diesem Aberglauben für die bestehe
den Zustände keine enistliche Gefahr zu befürchten, so fe!
ihm dafür auch jede Ahnung von der geschichtlichen Bede
tung und dem inneren Gehalt des neuen Glaubens. Er spric
von ihm in dem oberflächlichen Ton eines Mannes, der seit
Werthlosigkeit zum voraus viel zu sicher ist , als dass es si
für ihn verlohnte, sich genauer daiiiber zu unterrichten.
Ungleich ernster nahm es mit dem Christenthum Luciai
Freund, der Platoniker Celsus. Auch die Kenntniss di
selben geht bei ihm viel tiefer, als bei Lucian. In d€
„Wort der Wahrheit", das er zwischen 178 und 180 n. Cl
an die Christen gerichtet hat, zeigt er eine Bekanntschaft n
ihren Lehren und Keligionsurkunden, durch die er unter d*
Gegnern des Christenthums bis auf Porphyr herab ganz einz
dasteht. Aber sein Urtheil über dasselbe fällt darum nie
weniger streng aus, als das seiner Vorgänger. Wenn er au(
der jüdisch-christlichen Lehre nicht alle Wahrheit abspricl
so hilft ihr das in seinen Augen doch nicht viel. Wie die jüc
sehen und christlichen Alexandriner die heidnischen Weis<
zu Schülern der jüdischen Offenbarung machten, so macht d
griechische Philosoph umgekehrt die Juden und Christen ;
Plagiatoren an der Weisheit der Heiden: was sich richtig
bei ihnen findet, das haben sie von den Aegyptem, d<
Hellenen, überhaupt von den Völkern geborgt, deren Gott
sie verachten. Aber mit diesem fremden Gute haben s
über das Christentimm. 203
schlecht gewii-thschaftet : sie haben die Lehren, welche sie
sich aneigneten, missvei^standen und entstellt, mit abergläubi-
schen Einbildungen und betiiigerischen Ei*findungen jeder Art
vennischt. üeber die Stammväter der Christen, die Juden, glaubt
Celsus alles, was heidnische Gegner dieses Volks seit Jahr-
hundei-ten von seinem Urspining schmähliches zu erzählen
wussten ; über den Stifter des Christenthums und seine Schüler
alle die Verläumdungen, welche der Hass ihrer Volksgenossen
schon damals fast in dei*selben Gestalt in Umlauf gesetzt
hatte, in der wir sie noch in talmudischen Schriften der spä-
teren Zeit finden. Jesus war, nach der bekannten jüdi-
schen Fabel, nicht allein von niedriger, sondeni auch von un-
ehrlicher Abkunft; in Aegypten erlernte er die Künste der
Zauberer und Gaukler ; nach seiner Zuillckkunft in sein Vater-
land gab er sich für einen Wundei-thäter und für den längst
geweissagten Sohn Gottes aus und erdichtete die evangelischen
Erzählungen von' seiner Geburt. Es gelang ihm, aus dem
schlechtesten Gesindel ein paar Leute zusammenzubringen,
mit denen er im Land umherzog, ohne doch irgend etwas
zu leisten, was nicht andere Goeten auch gethan hätten, oder
einen etwas bedeutenderen Erfolg zu erreichen. Als er, von
seinen eigenen Freunden venathen, die gesetzliche Strafe für
seine Vergehungen erlitten hatte, setzten seine Schüler seine Be-
tiHgerei fort. Sie blieben dabei, dass er ein Gott und ein
Sohn Gottes gewesen sei, schrieben ihm Wunder zu, die er
nie gethan hat, legten ihm erdichtete Weissagungen über
seinen Tod und seine Aufei-stehung in den Mund, und ei-sannen
nach dem Vorgang heidnischer Mythen das Märchen von seiner
Auferstehung, ohne doch für dasselbe irgend einen glaubwür-
digen Beweis beibringen zurkönnen. Das Christen thum ist so
schon von Hause aus nicht blos eine verwei-fliche Neuerung,
sondern geradezu ein Werk des Betrugs: der „Sophist", den
ihm Lucian zum Stifter gegeben hatte, wird hier zu einem
Gaukler, dessen Zauberkünste der Platoniker zwar nicht be-
streiten will, den er aber darum doch für nichts anderes hält,
als für einen nichtswürdigen Betrüger.
"f )
204 Römische und griechische ürtheile
Diesem ihrem Ui-spioing entspricht nach Celsus auch der
Charakter der christlichen Religion. Soweit sie sich von dem
entfernt, was schon lange vor ihr als Wahrheit anerkannt war,
ist sie nichts , als ein Gemisch- von Aberglauben , Anmassung
und Täuschung. Um den höchsten Gott allein anzubeten, ver-
sagen die Christen mit den Juden den übrigen Gottheiten
ihre Verehrung. Als ob es sich für den höchsten Gott ge-
ziemte, unmittelbar und persönlich in die materielle Welt
einzugreifen; als ob er nicht seine Diener und Werkzeuge
hätte, mittelst deren er die Welt regiert, und in denen er ge-
ehrt sein will , jene himmlischen Götter , deren Glanz wir be —
wundern, jene Dämonen, deren unsichtbares Walten, uns be —
ständig umgibt, deren Gunst wir uns daher durch Gebe
und Opfer zu sichern allen Grund haben. Und während di
Christen den höchsten unter den geschaffenen Wesen die Ehr
verweigern, die ihnen zukommt, während sie einem Herakl
und Asklepios nicht zugestehen, dass sie zu Göttern geword
seien, verehren sie selbst einen Gaukler, der des schmählichst^^
Todes gestorben ist, als einen Gott. Sie behaupten, er sei d
welchen die jüdischen Propheten geweissagt haben , wiewo
seine Lehre dem jüdischen Gesetz widerstreitet. Sie mach
ihn zum Sohn Gottes, unbekümmert darum, dass sie damit de
Gotte, dessen Sohn er sein soll, so gut, wie die hellenisch
Mythen von Göttersöhnen, Dinge zuschreiben, die der Gotth
durchaus unwürdig sind. Sie lassen Gott zu den Mensch,
herabkommen, so wenig sich diess auch mit seiner Unverändo^ÄT«
lichkeit und seiner Vollkommenheit verträgt. Wie ungereinnt
sind ferner ihre anthropomorphistischen Vorstellungen von d^^r
Gottheit, ihre Einzahlungen von der Weltschöpfiing und vo»n
Sündenfall, von der Sündfluth und den Patriarchen, ihre Lelfmre
vom Teufel, der den Sohn Gottes tödtet, und vom Antichri^t>
welchen dieser als seinen Nebenbuhler zu fürchten hat, il».'»e
Erwartungen über die Wiederkunft Christi, die Weltverbr^ii-
nung und die Auferstehung des Leibes, an dem nur Aer
fleischlich Gesinnte in dieser Art hängen wird! Welche hoch-
müthige Einbildung von den Christen, dass sie meinen, ^®
über das Ghristenthum. 205
Welt sei nur um ihretwillen geschaffen, und beim Weltende
werden sie allein in einem neuen Leib fortleben, während alle
anderen im Feuer gebraten werden! Eine solche Keligion
taugt freilich nur für die Unwissenden, an welche die Christen
sich allein halten : wer für solche Dinge Glauben finden will, der
muss sich ja wohl damit an Handwerker und Sklaven, an Weiber
und Kinder, an sündiges, schlechtes Volk wenden, alle Ge-
lehrten und Gebildeten dagegen von seiner Gemeinde aus-
schliessen. Doch so verkehrt alles diess sein mag: es wäre
immer noch eher zu ertragen, wenn die Christen damit nur
dem Glauben ihrer Vorfahren folgten, wenn sie die Entschul-
digung einer Nationalreligion für sich hätten. Da es nun ein-
mal nicht möglich ist, dass alle die zahllosen Völker die Gott-
heit auf einerlei Weise verehren, so ist es am besten, wenn
sie jedes in der Art verehrt, die bei ihm von Alters her ein-
heimisch und den Schutzgeisteni seines Landes genehm ist.
So verhält es sich selbst mit den Juden, so thöricht auch der
IsT SLtionalstolz ist, mit dem sie alle anderen Glaubens weisen
verachten und nur ihre eigene gelten lassen wollen. Die
Clxiisten dagegen können nicht einmal diesen Grund für sich
axrführen. Ihrem Ursprung nach Apostaten des Judenthums,
sind sie jetzt ein Gemenge von Abtrünnigen aus allen Völkeni,
^iid unter einander selbst wieder in zahllose Parteien ge-
spalten. Und damit hängt denn auch das zusammen, wovon
C^lsus die Christen am Schluss seiner Streitschrift noch ab-
^^nt: ihre Gleichgültigkeit gegen den römischen Staat und
sein Wohl. Wie sie den öffentlichen Götterdienst ver-
schmähen, so kümmern sie sich auch nicht um die öffent-
"Chen Interessen: jene „Feindschaft gegen das Menschen-
S^chlecht", die ihnen bei Tacitus vorgeworfen wird, begegnet uns
"i^r unter der bestimmteren Gestalt des Mangels an Patriotismus.
Diese Streitschrift des Celsus lässt uns nun deutlich er-
^^iiixen, wesshalb die höher Gebildeten unter seinen römischen
^J^d griechischen Zeitgenossen von dem christlichen Glauben,
*^ch wenn sie mit demselben etwas näher bekannt wurden,
^^^h in der Kegel nichts wissen wollten. Sie konnten sich
206 Römische und griechische Urtheile
mit ihm schon desshalb nicht befreunden, weil er aus einer
ganz andei-en Sphäre hervorg^angen war , eine andere Stim-
mung und Denkweise voraussetzte, als die ihrige. Das Christen-
thum war eine Religion der Mühseligen und Beladenen:
wer sich in dieser Welt misshandelt und hintangesetzt fand,
dem versprach es Ersatz in einer anderen; wer vom Gefühl
der moralischen Schwäche und Vei-schuldung niedergedrückt
war, dem wusste es durch das Evangelium der Versöhnung
die Ruhe des Gewissens zuiUckzugeben, ihn zu einer ihm bis
dahin unbekannten Freiheit und Freudigkeit des sittlichen
Strebens zu erheben. Aber alles, was die Freude des Hellenen,
der Stolz des Römei-s gewesen war, rechnete es zu der Herr-
lichkeit dieser Welt, auf deren Trümmern erst das Reich
Gottes sich erbauen sollte. Je tiefer der Einzelne in der Bil-
dung der klassischen Völker wurzelte, um so fi*emdartiger
mussten ihn diese Anschauungen berühren; je höher er die
Güter dieser Bildung schätzte, um so weniger konnte er sie
mit dem Glauben und der Gottesverehrung der palästinischen
Barbaren zu veitauschen geneigt sein. Je weniger ihm um-
gekehrt von diesen Gütern zugefallen war, je vollständiger er
zu den Paria's des antiken, wesentlich aristokratischen Kultur-
lebens gehörte, um so grösseren Reiz musste eine Lehre für
ihn haben, welche ihn zum gleichberechtigten Genossen einer
Gemeinschaft erhob, deren Mitgliedern die höchsten Güter
theils sofoi*t in ihrem sittlichen und religiösen Leben mit-
getheilt, theils für die Zukunft in sichere Aussicht gestellt
wurden. Ein solcher konnte auch über die Punkte der neuen
Lehre, welche den wissenschaftlich Gebildeten zum Anstoss
gei-eichten, leicht wegkommen. Wie stark auch die Anforde-
rungen sein mochten, welche der jüdisch - christliche Supra-
naturalismus an die Glaubensfahigkeit seiner Bekenner stellte:
im Vergleich mit der Mythologie des Volksglaubens hatte die
christliche Dogmatik ein so rationales Gepräge, und schon der
Uebergang vom Polytheismus zum Monotheismus schloss einen so
gewaltigen Foitschritt in sich, dass auch der wundergläubigste=
und dogmatisch beschränkteste Christ auf den Aberglauben dei^
r
über das Ghristenthum. 207
Heiden als ein Aufgeklärter herabsehen konnte. Wen dagegen
die Philosophie vorher schon von diesem Aberglauben befreit
hatte, dem brauchte das Ghristenthum diesen Dienst nicht erst
fXL leisten, und es konnte ihn durch denselben nicht gewinnen ;
wogegen alle die Lehren, welche aus dem jüdischen Ofifen-
banmgsglauben als solchem hervorgegangen waren oder sich an
ihn anschlössen, einen Jünger des Plato oder Aristoteles, des Epi-
kur oder Zeno unfehlbar abstossen und bald seinen Spott
bald seinen ernsthaften wissenschaftlichen Widerspruch her-
Yorrufen mussten. Beachtet man dabei noch die unverhüllte
Abneigung, die unverkennbare innere Feindseligkeit, mit
wdcher die Christen den heidnischen Staat betrachteten und
ihm ihre Mitwirkung zur Lösung seiner Aufgaben so viel wie
möglich entzogen, so begi*eift es sich um so mehr, dass gerade
der gebildetere Theil der Bevölkerung, der Träger der politi-
schen Einsicht und Gesinnung, im Ghristenthum eine Gefahr
sah, gegen welche die unteren, politisch unmündigen Volks-
Massen theils gleichgültig, theils blind waren, und dass weiter
blickende, von römische m Staatssinn erfüllte Regierungen dem
Umsichgi-eifen eines Glaubens zu steuern suchten^ der dem
bestehenden Staatswesen seine beste Lebenskraft aussaugen
mnsste.
Für das Ghristenthum und für die Menschheit war es ein
Glück, dass sich diese altrömische Staatsgesinnung immer nur
zeitweise auf dem Throne der Cäsaren behaupten konnte. Ist
es auch eine starke Uebertreibung, wenn Celsus den Christen
' wgt, nur der eine und der andere von ihnen iiTe noch umher,
wi aber fortwährend von der gerichtlichen Verfolgung bedroht,
so scheinen doch Mark Aurel's strenge Massi-egeln gegen die-
selben für den Augenblick einen bedeutenden Erfolg ge-
habt zu haben. Aber der erneuei-te Angriff der Markmannen,
wdcher seit 178 alle Kräfte des Reiches in Anspruch nahm,
Msste die Aufmerksamkeit von den Christen ablenken; und
nachdem der Kaiser im Jahr 180 im Feldlager zu Wien ge-
storben war, hatte die christliche Kirche unter seinen Nach-
folgern eine siebzigjährige Ruhezeit, welche erst um die Mitte
208 Römische und griecliisclie üriheile
des dritten Jahrhunderts für einige Jahre dui*ch die heftigen
Verfolgungen des Decius und Valerian unterbrochen wurde.
Die Zahl ihrer Anhänger wuchs während dieser Zeit so be-
deutend, ihr Gemeindeleben und ihr Kultus trat so ungescheut
und ungehindert aus der früheren Verborgenheit heraus, dass
sie trotz der Gesetze gegen die unerlaubten Religionen eine
Macht war, mit der man rechnen, die man wenigstens als
Thatsache anerkennen musste. Dadurch wurde auch die Stel-
lung, welche die öffentliche Meinung der griechisch-römischen
Welt zum Christenthum einnahm, noth wendig beeinflusst Die
alten, abenteuerlichen Voi'stellungen von den geheimen Gräueln
der Christen verstummen, seit man sie genauer und allgemeiner
kennen lernt. Der Hass gegen die Götterfeinde stumpft sich
mit der Zeit um so mehr ab, da man sich seit dem Ende des
zweiten Jahrhunderts immer mehr gewöhnte, neben den alt-
römischen und griechischen auch orientalische Gottheiten nicht
allein in der Gottesverehiiing der Einzelnen, sondern auch im
öffentlichen Kultus, einen breiten Raum einnehmen zu sehen.
Die Abneigung der Heiden gegen das Christenthum dauerte
natürlich nichtsdestoweniger fort: die Eifersucht der Alt-
gläubigen gegen dasselbe konnte dui'ch seine Erfolge nur ge-
nährt werden. Aber für „Feinde des Menschengeschlechts*
konnte man die Bekenner einer Religion nicht mehr halten,
der von den Einwohnern des römischen Reiches bereits ein so
namhafter Theil anhieng, und selbst das politische Misstrauen
schwand allmählich in dem Grade, dass gegen das Ende des
dritten Jahrhunderts viele Christen in der Armee dienten, und
manchen von ihnen hohe Befehlshaberstellen, wichtige Hof- und
Staatsämter anvertraut waren.
Unter . diesen Umständen nahmen auch die Angriffe auf
das Christenthum eine veränderte Gestalt an. Als die letzte
wissenschaftliche Vorkämpferin des Polytheismus trat seit der
Mitte des dritten Jahrhunderts die neuplatonisehe Phi*
los op hie auf. Aber so entschieden der Widerspruch war,
den sie der chiistlichen Lehre noch lange nach dem äusseren
Siege der letzteren, bis in's sechste Jahrhundert herab, ent-
über das ChriBtenthum. 209
segensetzten, so wagten doch selbst die Neuplatoniker nicht
mehr, dieser Lehre alle Wahrheit abzusprechen. So viel hatte
die christliche Religion durch ihren gi-ossartigen äusseren Er-
folg und ihre unverkennbaren sittlichen Wirkungen doch er-
reicht, dass sie von ernsthaften und wahrheitsliebenden
Gegnern, wie diess die Neuplatoniker durchschnittlich waren,
nicht mehr einfach für ein Werk des Betrugs oder ein Er-
zeugniss des Aberglaubens gehalten werden konnte ; dass viel-
mehr auch sie einen wahren und tüchtigen Kern in ihr aner-
kannten, an den sich freilich in der Folge viel Täuschung und
Betrag angesetzt haben sollte. Der Stifter des Christenthums,
sagten diese neuplatonischen Gegner desselben, sei ein from-
mer und weiser Mann gewesen; erst seine Schüler haben
seine Lehre entstellt. Sie erst haben Christus für einen
jott ausgegeben und seine Verehrung der der Volksgötter
'Dtgegengestellt. Er selbst habe diese Götter angebetet
ind mit ihrer Hülfe durch magische Kunst die Wunder ver-
lebtet, deren Thatsächlichkeit die Philosophen nicht bestreiten
«sollten ; er habe aber desshalb nicht mehr sein wollen, als ein
Mensch, wie ja auch andere Weise von den Göttern mit ähn-
licher Wunderkraft begabt worden seien.
Von diesem Standpunkt aus hatte schon in der ersten
Hälfte des dritten Jahrhunderts (um 230) Philostratus in
seinem Leben des Apollonius von Tyana, ohne Christus zu
nennen, der evangelischen Darstellung desselben das neupytha-
goreische Ideal eines hellenischen Philosophen und Propheten
Segenübergestellt, und sein Schüler, der Kaiser Alexander Se-
^^nis, in seiner Hauskapelle dem Stifter des Christenthums
neben einem Orpheus und Abraham, einem Pythagoras und
apollonius, eine Stelle eingeräumt. Von den gleichen all-
R^meinen Voraussetzungen gieng ein halbes Jahrhundert später
^er Neuplatoniker P r p h y r i s bei jener berühmten ausführ-
'^^hen Streitschrift gegen die Christen aus, deren Vernichtung
"^öi Hasse der letzteren leider so vollständig gelungen ist,
**^ uns nur vereinzelte Angaben über ihren Inhalt übrig
^^d. Wir sehen aus denselben, dass Porphyr, ein gelehrter
Heller, Vorträge und Abhandl. 14
210 Römische und griechische üriheile
und nicht blos logisch, sondern auch philologisch geschulter
Mann, sich zu seinem Angiiff mit Vorliebe solche Punkte aus-
gewählt hatte , welche auch in neuerer Zeit von Gegnern des
supranaturalistischen Offenbarungsglaubens besonders in's Auge
gefasst wurden. Er fragte mit einem Reimarus, warum denn
Christus nicht früher erschienen sei, wenn doch alles Heil an
ihm allein hänge. Er fand es unbegreiflich, dass die Christen
die Opfer verwerfen, wenn Gott selbst sie den Juden geboten
habe. Er sah in dem vielbesprochenen Streit des Petrus und
Paulus in Antiochien einen Beweis dafür, dass ein Glaube,
über den seine bedeutendsten Vertreter sich streiten, nur auf
Erdichtung beruhen könne. Er beschuldigte selbst Jesus der
Zweideutigkeit , weil er bei Johannes (7 , 8. 14) erst sagt , er
werde das Fest in Jerusalem nicht besuchen, und dann doci
dort erscheint. Er hielt sich über manche Erzählungen d
alten Testaments auf und wollte den Christen mit Recht nich'Äi
erlauben, das Anstössige derselben durch allegorische Aui —
legung bei Seite zu schaffen. Er erkannte in der Weissaguni
DanieVs mit scharfem Blick eine Unterschiebung aus der ZeL
der Makkabäer und bewies diess mit Gründen, die von ihr^
Kraft heute noch nichts verloren haben. Er hat so ohn.
Zweifel noch manche Einwendung vorgebracht, deren Widec^
legung der damaligen christlichen Theologie nicht gelinge*«^
konnte. Aber dass er das Christenthum im ganzen eben^^^
wegwerfend und feindselig beurtheilt habe, wie seiner Zeft^
Celsus, wird nicht überliefert, und nach der Stellung, welch- ^
die neuplatonische Schule überhaupt damals gegen dasselb ^
einzunehmen pflegte, ist es nicht wahrscheinlich, so entschied^*'
er sich auch darüber ausspricht, dass er nur in der hellenÄ"
sehen Religion eine gesetzliche Art der Gottes Verehrung,
der christlichen nur eine Auflehnung gegen die göttliche Wel
Ordnung zu sehen wisse, nach der jeder die Götter dem Hem^'
kommen seines Volkes entsprechend verehren solle.
Nicht einmal von seinem Schulgenossen Hierokles wit^ ^
diess behauptet, wiewohl diesem Mann ein Hauptantheil an de
letzten Versuch zugeschrieben wird, den die römische Staa
über das Christenthum. 211
macht vom Jahr 303 an mehrere Jahre lang zur gewaltsamen
Unterdrückung des Christenthums machte, der schweren Dio-
detianischen Christenverfolgung. In einer Streitschrift gegen
die Christen stellte dieser Neuplatoniker dem Stifter des
Christenthums die romanhafte Gestalt des neupythagoreischen
Heiligen, des Apollonius von Tyana, gegenüber, so wie diese
von Philostratus ausgemalt war. Er suchte zu zeigen , dass
die Christen keinen Grund haben, ihren Jesus wegen der paar
Wunder, die er verrichtet habe, für einen Gott zu halten, und
dass die Heiden einen Apollonius, Pythagoras und andere,
Christus überlegene Wunderthäter viel richtiger beui-theilen,
wenn sie dieselben nicht für mehr ansehen, als für gottgeliebte
Menschen. Dabei unterliess aber auch er es nicht, die Apostel
ftr Betiniger zu erklären, welche die Thaten ihres Meisters
mit leeren Erdichtungen ausgeschmückt haben , während die
eines Apollonius von untadeligen Zeugen überliefert sein sollen.
Die menschliche Grösse Jesu, selbst seinen Prophetencharakter,
will demnach auch dieser Christenfeind nicht bestreiten; nur
seine göttliche Würde ist es, gegen die er sich wendet.
Erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts hören
wir die heidnische Polemik gegen das Christenthum wieder
den Ton anschlagen , mit dem sie im ersten und zweiten be-
gonnen hatte. Diese Keligion war inzwischen durch Con-
ßtantin zur Staatsreligion im römischen Reich erhoben worden,
Bnd bald begannen ihre Anhänger, die Verehrung der alten
Götter mit derselben Gewaltsamkeit zu unterdrücken, mit der
Man kaum ei-st das Christenthum zu unterdrücken versucht
Iwitte. Wenn heidnische Regiemngen den Christen bei Todes-
strafe geboten hatten, den Göttern zu opfern, so wurden jetzt
^ese Opfer bei Todesstrafe verboten; wenn früher der heid-
lösche Pöbel gegen die Christen gewüthet hatte, wurde jetzt
^er christliche Pöbel gegen die gehetzt, welche sich von dem
Glauben ihrer Väter nicht trennen wollten; wenn man früher
*Göi Christenthum absagen musste, um sich möglich zu machen,
^ Hof und beim Heere vorwärts zu kommen, so musste man
^ jetzt zu demselben Zweck annehmen. Hatte aber das neu
14*
212 Eömische und griechische Urtheile
aufstrebende Christenthum Lebenskraft genug besessen, um
allen Verlockungen und Schrecknissen der Staatsgewalt Wider-
stand zu leisten, so brach das morsche Heidenthum unter der
Wucht der veränderten Verhältnisse so rasch zusammen, dass
seine Anhänger schon 50 Jahre nach Constantins erstem
Toleranzedikt zu einer Minderheit geworden waren, deren
Reihen sich immer mehr lichteten, und dass sie bald nur noch
unter der ungebildeten Bevölkei*ung auf dem Lande, in den
höheren Ständen Roms und Alexandria's , und unter den Ge-
lehrten und Philosophen zu finden waren, welche die Ver-
ehrung der alten Götter von der klassischen Bildung nicht zu
trennen wussten. Es war natürlich, dass dieser Sieg eines
Gegners, den man zu hassen und auf den man herabzusehen
nie aufgehört hatte, dass die Härte, mit welcher dei-selbe
seinen Sieg benutzte, dass das widerwärtige Schauspiel von
äusserlichem Namenchristenthum, geistlicher Herrschsucht und
leidenschaftlichen Lehrstreitigkeiten, welches die neue Reichs-
kirche sofort darbot, bei dem unterlegenen Theile die tiefste
Erbitterung hervorrief. Unter Julian's kurzer Regierung (361
bis 363) eröffnete sich ihm die Aussicht, den Gegner aufi^
neue zu verdrängen. Aber die Restauration des Heidenthums.^
welche dieser Kaiser mit dem ganzen Eifer eines Neophytea ^
doch in völliger Verkennung seiner Zeit und ihrer Bedürf-
nisse, unternahm, hätte misslingen müssen, wenn auch nich't;
sein früher Tod dem kaum begonnenen Unternehmen ein End.^
gemacht hätte. Julian selbst hatte das Christenthum in seinen
Vorgängern und Verwandten in der schlechtesten Weise kennen
gelernt. Er hatte unter ihrem misstrauischen Despotismus
persönlich schwer gelitten. Im Christenthum erzogen, hatte
er sich zu dieser Religion auch da noch äusserlich bekennen
müssen, als er schon längst durch die neuplatonische Philo«
Sophie für die alten Götter gewonnen war. Ihre VerehrunS^
wiederherzustellen, war für ihn, als er auf den Thron kaio»
die ernstlichste Herzensangelegenheit. Aber auf gewattsameio
Wege wollte er es doch nicht versuchen : diess verboten ihiD
seine Giiindsätze, sein Edelsinn und seine Achtung vor dem
über das Christenthum. 213
Recht; und schliesslich konnte er sich doch wohl nicht ver-
bergen, dass seine Macht dazu nicht ausgereicht hätte. Dass
er den Christen den öffentlichen Unterricht in der alten Lite-
ratur untersagte, ist die härteste Massregel, die er gegen sie
in Anwendung gebracht hat. Nur um so weniger konnte es
8ich aber der Fürst, der sich auf seine Philosophie und seine
Gelehrsamkeit nicht wenig zugutethat und sich sehr gern
reden hörte, vei*sagen, gegen sie zu schreiben. In seinen
sieben Büchern gegen die Christen, die wir aus Cyrill's Gegen-
ßchrift kennen, und in seinen Briefen kommt aller der Groll
Und die Geringschätzung zum Ausdruck, die sich seit Jahren
hei ihm angesammelt hatten und durch die Hartnäckigkeit nur ge-
steigert werden konnten, mit der die Christen seinen Bekehrungs-
fflassregeln widerstrebten. Die „Galiläer", wie er sie selbst in
kaiserlichen Erlassen verächtlich zu nennen pflegte, sind ihm,
wie seiner Zeit einem Celsus, Leute, die von der Gottesver-
ehrung ihrer Väter abgefallen sind, um sich aus den schlech-
testen Elementen des Judenthums und des Heidenthums eine
eigene Religion zurechtzumachen. Von den ewigen Göttern,
i^Tea Walten sie umgibt, wollen sie nichts wissen, um statt
^^ssen einen todten Juden und mit ihm die Gräber und die
Knochen anderer Todten — mit denen man ja damals schon
Pötischdienst genug trieb — zu verehren. Auch die Natur und
it^^e Gresetze hören sie nicht; statt aller Gründe berufen sie
^ch auf den Willen Gottes, als ob dieser jemals mit den
Naturgesetzen im Widerspruch sein könnte. So wollen sie auch
^cht begreifen, dass unmöglich alle Völker einerlei Religion
k^ben können, und dass die Völker eben desshalb an Charakter
^^d Anlagen so weit von einander abweichen, weil sie verschie-
denen Gottheiten zugetheilt sind. Sie selbst aber haben gar
'^öinen nationalen Kultus; sie folgen den Lehren jener betrü-
S^iischen Sektirer, der Apostel, und haben nicht einmal diese
^'iverändert gelassen. Wie wenig aber diese Lehre taugt, zeigt
*Uch der Augenschein : alles, was Grosses und Schönes in der
^elt ist, alle edeln Thaten und alle bedeutenden Männer sind,
^ö Julian glaubt, aus dem Heidenthum hervorgegangen; das
214 Komische und griechisdie Ürtheile über das Ghristenthom.
Christen thum ist eine Religion der Barbaren, und es ver
auch nur Barbaren, nur Leute von sklavenhafter Gesinnun
bilden. *
So kehrt die heidnische Polemik gegen das Christent
in ihrem Ausgang zu denselben Gesichtspunkten zurück, u
die sie dasselbe gleich anfangs gestellt hatte. Aber hatte c
Polemik seine Ausbreitung nicht zu hemmen vermocht, so
es eine noch eitlere Hoffnung, dass es ihr gelingen werde,
den Sieg, den es schon in Händen hatte, wieder zu entreis
Als Cyrill seine zehn Bücher gegen Julian schrieb, war die le
Aussicht des Heidenthums im römischen Reiche schon lä
mit diesem Fürsten in's Grab gesunken. Auch die schriftstel
sehen Angriffe auf das Christenthum als solches vei^stumn
mehr und mehr, wenn auch über einzelne Lehren noch h
zwischen christlichen und heidnischen Philosophen gestri
wurde. Erst in den letzten Jahrhunderten ist jene Pole
neu aufgelebt. Neuere Gegner des Christenthums haben \
von den Vorwürfen wiederholt, die ihm einst ein Celsus
Poiphyr gemacht hatten, so wenig sie auch den ganzen 8ti
punkt dieser Männer theilen konnten. In manchen von je
Vorwürfen haben auch solche, die von jeder gnintisätzlic
Feindschaft gegen das Christenthum weit entfernt sind, et
wahres anerkannt und sich um eine Umbildung desselben
müht, durch die es vor ihnen sichergestellt würde. Indei
kann diese Parallele hier nicht weiter verfolgt werden,
gegenwärtige Vortrag wollte nur zeigen, wie sich der Ka
des Heidenthums mit dem Christenthum und seine Wechsel
Stellung zum Christenthum in der römischen und griechisc
Literatur abspiegelt, um auch von dieser Seite her die Ei{
thümlichkeit und die Motive jener weltgeschichtlichen
wegung zur Anschauung zu bringen, aus der mit dem Si
der christlichen Religion die Gmndlagen der heutigen Ges
Schaft und ihres Kulturlebens hervorgiengen.
VI.
Die Sage von Petrus als römischem Bischof.
(1875.)*)
Die Päpste leiten bekanntlich alle die Rechte, welche sie
^x* sich in Anspruch nehmen, von dem Apostel Petrus her, des-
s^xi Nachfolger sie sein wollen und ohne Zweifel auch zu sein
gX^uben. Mögen diese AnspiUche noch so weit gehen, mögen
si^ sich auf die Lehre, auf die Disciplin oder die Jurisdiction,
^"ö.:! kirchliche oder bürgerliche Dinge beziehen: immer ist es
Petrus, dem die Befugnisse ursprünglich übertragen worden
s^in sollen, welche sich von ihm, wie versichert wird, auf die
römischen Bischöfe vererbten. Auch in der neuesten feier-
l^c^len Verkündigung päpstlicher Machtansprüche, in den vati-
^a-nischen Concilienbeschlüssen, wird für dieselben kein ande-
^^T Rechtsgrund angegeben. „Die oberste Gerichtsbarkeit über
die ganze Kirche ist dem heil. Petrus von Christus dem Herrn
^lainittelbai* und direkt übertragen worden; er hat von ihm
die Schlüssel des Himmelreichs erhalten ; er lebt, regiert und
richtet in seinen Nachfolgern, den Bischöfen von Rom. Der
römische Pontifex hat daher den Primat über den ganzen Erd-
^^'eis; er ist der Nachfolger des Apostelfürsten Petrus und als
solcher der wahrhafte Stellvertreter Christi und das Haupt
*) Erschien zuerst in der Deutschen Bundschau 1875, Augusthelt, dann
^ französischer üebersetzung von A. Marchand u. d. T. La Legende
^« St. Pierre, Par. 1876.
216 I^ie Sage von Petrus
der ganzen Kirche. Ihm steht die bischöfliche Gewalt über
alle Kirchen ordentlicher Weise und unmittelbar zu ; er ist der
oberste Richter aller Gläubigen, an den in allen dem ürtheil
der Kirche unterstehenden Angelegenheiten appellirt werden
kann, wogegen von seinem Urtheil keine Benifung, auch
nicht an eine allgemeine Kirchen Versammlung , zulässig ist.
Er kann in den Entscheidungen nicht irren, welche er über
die Glaubens- oder Sittenlehre der Gesammtkirche in seiner
Eigenschaft als Hirte und Lehrer der ganzen Christenheit
gibt; solche Entscheidungen sind daher ihrer Natur nach un-
verbesserlich, und sie werden diess nicht erst durch die Zu-
stimmung der Kirche." In diesen Sätzen der vaticanischen
Constitutionen sind die Grundlagen des römischen Systems, so
wie dieses selbst sie auffasst, mit einer Klarheit dargelegt,
die nichts zu wünschen übrig lässt. ^Christus hat dem Peti-us
die oberste Leitung der Kirche ohne Vorbehalt und Beschrän-
kung übertragen. Petrus war aber der erste Bischof von
Rom, und weil er diess war, sind seine Befugnisse für alle
Zeiten auf die römischen Bischöfe übergegangen. Auch ihnen
steht mithin die Leitung der Kirche unbedingt und unbe-
schränkt zu: sie sind die Lehrer, denen man keinen IiTthum
zutrauen, die Regenten, denen man nicht widersprechen, die
Richter, von deren Urtheil man nicht appelliren darf." Dieser
einfache Schluss enthält den dogmatischen Kern des Systems,
welches nichts geringeres bezweckt, als die Aufrichtung einer
unbeschränkten, die ganze Menschheit umfassenden, auf alle
Lebensverhältnisse und Thätigkeiten sich erstreckenden kleri-
kalen Weltherrschaft.
Wenn man näher zusieht, zeigt sich nun freilich sehr
bald, dass die Grundlage dieses Systems viel zu schmal und
ihr Gefüge viel zu lose ist, um ein so kolossales Gebäude zu
tragen. Unter allen jenen Sätzen ist nicht Einer, der de
historischen Kritik auch nur einen Augenblick Stand hielte
Christus soll dem Apostel Petrus die oberste Leitung dei
Kirche übertragen haben; aber in unsern Evangelien gibt ei
ihm keine Vollmacht und keinen Auftrag, die nicht auch dei
als römischem Bischof. 217
andern Aposteln /in allem wesentlichen ebenso ei*theilt würden;
und wie hoch man immer die Stellung anschlagen mag, welche
dem Peti-us an der Spitze der zwölf Apostel angewiesen wird,
so erscheint diess doch nur als ein persönlicher und auf per-
sönlichem Ansehen bemhender Vorzug; von der Absicht, eine
Weibende Einrichtung, eine monarchisch constituirte oberste
Kirchenleitung zu schaffen, zeigt sich keine Spur. Ebenso-
wenig kennt die Geschichte der ältesten Kirche das Dasein
einer solchen Kirchenleitung. Paulus wenigstens erklärt aufs
Dachdiücklichste seine vollkommene Unabhängigkeit von den
ilterien Aposteln. Er verhandelt Gal. 2 mit Petrus , Johannes
und Jakobus auf dem Fuss der unbedingtesten Gleichheit, und
als Petrus aus Scheu vor dem Andringen judaistischer Fana-
tiker seiner Uebereinkunft mit Paulus untreu wird, hält ihm
dieser eine Strafpredigt, die gar nicht darnach aussieht, als ob
«1* in ihm seinen geistlichen Oberen verehrt, von einem ihm zu-
stehenden „primatus jurisdictionis" etwas gewusst hätte. Hört
man vollends, was alles in diesem Primat enthalten sein soll,
80 fragt man sich erstaunt, wie die römischen Theologen und
Canonisten, allerdings nicht ei-st seit heute, in den neutesta-
mentlichen Aussprüchen Dinge finden konnten, von denen
schlechterdings nichts darin steht. Dass sich ferner diese an-
geblichen Amtsbefugnisse des Petrus sammt und sondei-s auf
seine Nachfolger vererbt haben, diess behandelt zwar die
päpstliche Theorie als selbstverständlich; aber selbstverständ-
Bch ist es eben nur für denjenigen, welcher zum voraus über-
^®Ugt ist, sie seien dem Petrus nicht blos für seine Person
^^^©rtragen worden, welcher somit das, was bewiesen werden
^U, schon voraussetzt. Wer sich diesen Zirkelschluss nicht
^^'Uubt, wird sich vergeblich nach einem Beweis dafür um-
^hen; und wer mit der Kirchengeschichte nur einigermassen
*^^kannt ist, der weiss, welcher Mittel es bedurfte, bis sich
^« römischen Bischöfe allmählich in zwölf hundertjährigen An-
^^engungeu und Kämpfen, von den Verhältnissen begünstigt,
^^ Stellung errangen , in deren Vollbesitz sie nach der Be-
*^^ptung der Romanisten von Anfang an gewesen wären, wie
218 I>ie Sage von Petrus
bestritten und bedingt überdiess selbst auf der Höhe der päpst-
lichen Macht ihre thatsächlich anerkannten Befugnisse immer
noch im Vergleich mit dem waren, was das curialistische System
seit den Zeiten der Apostel ihr unbestrittenes, auf unmittel-
barer göttlicher Einsetzung beruhendes Recht sein lässt.
Möchte es sich daher mit dem Primat des Petras verhalten,
wie es wollte: dass dieser Primat durch das Recht der Amts-
nachfolge auf die römischen Bischöfe übergegangen sei, lässt
sich nicht blos nicht beweisen, sondern diese Annahme ist
auch ganz unvereinbar mit der Thatsache, dass Jahrhunderte
lang niemand in der Christenheit von einem solchen Prima.t.
der römischen Bischöfe etwas gewusst hat, dass diese viel-
mehr ausserordentlich lange Zeit nöthig hatten, um sich die
Rechte jenes Primats Schritt für Schritt in einem Theil d
christlichen Kirche, und auch hier nicht in dem vollen U
fang, in dem sie in Ansprach genommen wurden, zu erwerben
Wie steht es nun aber mit der Thatsache, welche l>©i
allen diesen Deduktionen vorausgesetzt wird und desshalb die
erste und unentbehrlichste Grundlage des ganzen Papalsystems
bildet? War Petras überhaupt römischer Bischof, und sind
desshalb die jetzigen römischen Bischöfe, die Päpste, als seino
Nachfolger zu betrachten ? Die Beantwortung dieser Frage soll
im folgenden, so weit diess ohne tiefergehende gelehrte Er-
örterungen geschehen kann, dem gegenwärtigen Stand der
wissenschaftHchen Forschung entsprechend, versucht werden.
Es wird jedoch zweckmässig sein, hiebei eine Unklarheitr
zu der unsere Fragestellung selbst Anlass geben könnte, zwaa,
voraus zu beseitigen. Die heutigen katholischen Bischöfe siad
hohe kirchliche Würdenträger, Theile eines grossen hierarchi--
sehen Organismus, in dem sie als die Regenten und Vertr^J^
ihrer Sprengel eine hervorragende Stellung einnehmen; wi^
sehr auch immer die neuesten Concilienbeschlüsse ihre VB"
abhängigkeit beeinträchtigt und sie aus Kirchenfureten loi^
eigenem Recht zu unselbständigen päpstlichen Beamten herab-
gesetzt haben. Zur Zeit der Apostel kann nicht allein ^
Bischöfe in diesem Sinn nicht gedacht werden, sondern os
als römischem Bischof. 219
waren überhaupt von der späteren Episkopalverfassung kaum
die ersten Keime vorhanden: es gab christliche Vereine in
den einzelnen Orten, wo der neue Glaube Wurzel gefasst
hatte, aber es gab noch keine über die Ortsgemeinden hin-
ausgehenden kirchlichen Verbände, und die Einzelgemeinden
selbst wurden nicht monarchisch , sondern collegialisch , nicht
durch einen Bischof, sondern durch Aelteste (Presbyter) ge-
leitet. Auch der Name der „Episkopen" oder Aufseher be-
deutet in den wenigen Stellen des Neuen Testaments , in
denen er vorkommt, wiewohl diese selbst schon Schriften des
^weiten Jahrhunderts angehören, und ebenso in anderen chi'ist-
iiehen Schriften aus dem nachapostolischen Zeitalter, noch
dasselbe, wie „Presbyter". Erst um die Mitte und nach der
Jtfitte des zweiten Jahrhunderts hat sich allmählich aus der
collegialischen Gemeindeverfassung die monarchischer und mit
Äx* der Untei-schied des Episkopos von den Presbytern (des
Bischofs von den Gemeindeältesten oder „Priestern") heraus-
gebildet. Nur in der Gemeinde zu Jerusalem, und vielleicht
*
avich in anderen judenchristlichen Gemeinden, scheint diess
et.^Was früher geschehen zu sein. Von der römischen Gemeinde
^^gegen können wir mit Sicherheit annehmen, dass es in ihr
^is in's zweite Jahrhundert hinein einen Bischof in der späte-
i^^n Bedeutung des Wortes nicht gegeben hat. Wenn man
daher fragt, ob Petms Bischof von Rom war, so kann diess,
rfchtig vei-standen , nicht bedeuten : ob er das Amt eines Bi-
schofs (welches es damals noch gar nicht gab) dort bekleidet,
sondern nur, ob er überhaupt an der Spitze der römischen
Christengemeinde gestanden, ob er sie durch seinen persönlichen
Einfluss und sein apostolisches Ansehen in ähnlicher Weise ge-
tötet habe, wie Paulus ohne Zweifel die von ihm gegi-ündeten
Christenvereine in Ephesus und Korinth während seines mehr-
jährigen Aufenthaltes in diesen Städten geleitet hat. Die
päpstlichen Anspiilche freilich, welche auf die „Nachfolge
Petri" gegiUndet werden, wären auch mit der Bejahung die-
ser Frage, wie bemerkt, noch lange nicht bewiesen; um so
^widersprechlicher folgt dagegen aus ihrer Verneinung die
220 I)ie Sage von Petrus
völlige Unhaltbarkeit dieser Ansprüche, so lange sie sich auf
keinen anderen Rechtsgrund stützen können.
Eben diess ist aber der Fall, in dem wir uns befinden.
Dass Peti-us Bischof von Rom war, ist unbedingt und in jedem
Sinn, den man mit dieser Behauptung verbinden könnte, zu
läugnen.
Zum Erweis einer Thatsache, die wir nicht aus eigener
Wahrnehmung kennen, ist bekanntlich zweierlei nöthig: es
müssen uns in glaubwürdigen Zeugnissen oder in ihrem Zu-
sammenhang mit andeiTi beglaubigten Thatsachen ausreichende
Gründe gegeben sein, um sie als wahr anzunehmen, und es
dürfen dieser Annahme keine glaubwürdigen Zeugnisse und
keine gesicherten Thatsachen entgegenstehen. Fehlt es an
dem ersten von diesen Erfordernissen, so können wir die Ge-
schichtlichkeit dessen, was uns erzählt wird, nicht behaupten;
fehlt es an dem zweiten, so müssen wir sie bestreiten. Nach
den gleichen Gesichtspunkten ist auch die Ueberlieferung,
welche Peti*us zum Bischof von Rom macht, zu beurtheilen.
Diese Angabe findet sich nun allerdings seit dem letzten
Drittheil des zweiten Jahrhunderts n. Chr. ganz allgemein. Die
römische Kirche, sagt der Bischof I r e n ä u s von Lyon um's Jahr
180—190, sei von den zwei berühmtesten Aposteln, Petrus und
Paulus, gegi-ündet worden ; nachdem sie dieselbe gestiftet hatten,
haben sie das Bischofsamt in ihr dem Linus übertragen. Die-
selbe Kirche preist um das Ende des Jahrhunderts der kartha-
gische Presbyter Tertullian, weil in ihr die Apostel ihre
Lehre mit ihrem Martyrium besiegelt haben, Petrus hier ge-
kreuzigt, Paulus enthauptet, Johannes, ohne Schaden zu neh-
men, in siedendes Oel geworfen und dann nach Patmos ver-
bannt worden sei; während sein Zeitgenosse Clemens, der
bei-ühmte alexandrinische Lehrer, wie wir aus Eusebius er-
fahren, aus den Vorträgen, die Petrus in Rom gehalten habe,
das Marcusevangelium entstanden sein liess. Ein andei*er
Zeitgenosse dieser Männer, der römische Presbyter Cajus,
(um 200—220) verweist bei Euseb auf die Gräber der bei-
den Apostel, von welchen das eine auf dem yatican, das
r
als römischem Bischof. 221
andere an der Strasse nach Ostia liege. Noch älter ist das
Brachsttick aus einem Schreiben des Bischofs Dionysius in
Korinth an den römischen Bischof Soter, worin behauptet wird,
Petrus und Paulus haben zusammen die Gemeinde in Korinth
gegründet, und ebenso gemeinschaftlich in Italien gelehrt und
den Märtyrertod erlitten. Dieses Schreiben scheint um das
Jahr 170 verfasst zu sein, und der gleichen Zeit mögen zwei
Schriften angehört haben, welche das Zusammentreffen des
PetiTis und Paulus in Rom, ihre dortigen Wundei-thaten und
LehiTeden und ihr gemeinsames Ende darstellten: die „Ge-
schichte des Petrus und Paulus*^ und die „Predigten des Pe-
trus und Paulus". Die ei*ste von diesen Schriften ist uns
wahrscheinlich ihrem wesentlichen Inhalt nach, nur mit man-
cherlei späteren Zuthaten veimischt, in den noch vorhandenen
»Geschichten des Petrus und Paulus" (Acta Petri et Pauli)
erhalten, die in ihrer jetzigen Gestalt allerdings nicht vor dem
fünften Jahrhundert verfasst sein können; und schon in ihr
war ohne Zweifel erzählt, wie Paulus nach Rom kam, wo sich
Petras bereits im Streit mit dem Magier Simon befand, wie
dann die beiden Apostel vor dem Kaiser Nero mit dem Ma-
gier disputirten , wie dieser sich erbot, seine Gottheit durch
öuien Flug in den Himmel zu beweisen, aber auf die Be-
schwörung des Petrus herabstürzte, wie Nero, darüber erzürnt,
die Apostel zum Tode verurtheilte , und wie nun Paulus an
der Strasse nach Ostia enthauptet wurde, Petrus erst entfloh,
aber sich durch eine Ghristusei-scheinung zur Rückkehr be-
stimmen liess und sofort kopfabwärts gekreuzigt wurde. Diess
^ denn auch die officielle Legende der römischen Kirche ge-
^^ieben, und noch heute zeigt man in Rom die Oeitlichkei-
^ö, wo sich die einzelnen von ihr berichteten Vorgänge an-
S^öblich zutrugen, und die Denkmäler, die dem Andenken
^^i^elben gewidmet wurden. An der Stelle des Hauses, in
"^in eine christliche Familie den Apostelfürsten aufgenommen
"*ben soll, steht jetzt die Kirche der heiligen Pudenziana. Das
^^Isengewölbe unter dem Capitol, der uralte mamei-tinische
^^rker, der schon seit Jahrhunderten im Gebrauch war, als
222 I^ie Sage von Petrus
Jugurtha und später die Catilinarier darin endeten, heisst je
San Pietro in carcere, und von der Quelle, die darin aus d
Felsen hervorspmdelt , wird erzählt, sie sei auf Geheiss
Apostels entsprungen, um die von ihm bekehrten Soldaten
Gefängnisswache zu taufen. Die Ketten, die er trug, sind
San Pietro in vinculis aufgehängt. An der Strasse n
Ostia erinnert die kleine Kirche Domine quo vadis an
Erscheinung, durch welche Christus den Petrus von der Flu
zurückrief; eine zweite Kapelle an die, wo die beiden Apoi
auf ihrem letzten Wege sich trennten. An den drei Punkt
wo der Kopf des enthaupteten Paulus die Erde beruh]
quollen aus derselben nach der Sage drei Brunnen herv
dem Fremden, der die Klosterkirche von Tre Fontane
sucht, wird noch heute ein Tiiink aus ihnen geschöpft. E
kleine halbe Stunde davon entfenit steht über dem ang
liehen Grabe des Paulus an der Stelle deü^ alten Basilica,
i. J. 1823 abbrannte, die prachtvolle Kirche San Paolo fu
le mura, die freilich einem Goncertsaal noch ähnlicher sie
als einer Kirche; über dßm des Petrus hat Michel Ang
seine herrliche Kuppel gewölbt, während auf der Höhe <
Janiculus San Pietro in montorio die Stätte bezeichnet, wo i
Apostelfürst seinem Meister im Kreuzestod nachfolgte. Ke
man sich wundern, wenn unter den Tausenden, welche di
Denkmäler betrachten, kaum der eine oder der andere s
die Frage vorlegt, ob wohl die Ereignisse, deren Zeugen
sein wollen, sich auch wirklich zugetragen haben?
So weit wir bis jetzt sind, wissen wir nur so viel, d
ein Jahrhundert und mehr nach dem Zeitpunkt, in dem
sich zugetragen haben sollten, nicht blos in der römiscl
Kirche , sondern auch in andern christlichen Gemeinden
ihre Geschichtlichkeit geglaubt wurde. Aber ein Jahrhi
dert ist da, wo es sich um die Treue der geschichtlichen üeb
liefei-ung handelt, ein langer Zeitraum, der Missvei-ständniss
Erdichtungen und Unterschiebungen ein weites Feld oi
lässt. Eine wirkliche Bürgschaft für die Glaubwürdigkeit ei
Angabe haben wir nur dann, wenn wir sie bis zu den Aug
als römischem Bischof. 223
zeugen der Begebenheiten verfolgen und an der Zuverlässig-
keit der letzteren nicht zweifeln können, oder wenn das, was
uns erzählt wird, mit anderen gesicherten Thatsachen, als
Voraussetzung oder als Folge derselben, so eng zusammenhängt,
dass wir mit diesen auch jenes anzuerkennen genöthigt sind.
Wenn gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts an die
römische Lehrthätigkeit und den römischen Märtyrertod des
Petrus geglaubt wurde, so ist damit die Wahrheit dieses
Glaubens noch lange nicht erwiesen; sondern es fragt sich
eben, ob er sich auf eine Ueberlieferung gründet, die zu den
Thatsachen selbst hinaufreicht, oder ob er aus blossen Ver-
ni^xthungen und Dichtungen und ähnlichen unlauteren Quel-
len, entsprungen ist.
Es ist nun zuzugeben, dass sich seine Spuren noch eine
g^x-aume Strecke über den oben bezeichneten Zeitpunkt hinauf
''^^xfolgen lassen. Aber je weiter wir uns von demselben ent-
föxmen, um so unsicherer werden sie, und um so unverkenn-
ba-xer führen sie uns aus dem Reich der Geschichte in das
d^x Sage, ja des Betnigs. Im Johannesevangelium lässt sich
a-llerdings in den Worten, welche Jesus K. 21, 18 in den
M^iond gelegt werden, eine Anspielung auf die Kreuzigung des
Putins nicht verkennen, wie ja auch der Verfasser beifügt,
«J^^Bus habe damit seine Todesart andeuten wollen. Aber dass
*^x Apostel in Rom gekreuzigt werden solle, liegt nicht darin,
^^d auch wenn es darin läge, könnte man nicht viel daraus
sclihessen, da das 21ste Kapitel des Johannesevangeliums nach-
weisbar ein späterer Zusatz ist, der nicht vom Verfasser des
Evangeliums herrührt, nicht vor dem Ende des zweiten Jahr-
t^undei-ts angeführt wird, und schwerlich sehr lange vorher ver*
fasst wurde. Der angebliche Ignatius schreibt im 4. Kapitel
seines Briefs an die Römer: „nicht wie Petms und Paulus
gebiete ich euch" ; er scheint also den Petrus bereits neben
Paulus als Apostel der Römer zu kennen. Aber die ignatia-
Dischen Briefe sind augenscheinlich (wie jetzt auch fast allgemein
anerkannt ist) untei-schoben, und auch ihre älteste Reeension
^ß^cht gewiss nicht über das Todesjahr desPolykaipus von Smyrna
i^..
224 ^io S^e von Petras
(155/6), wahrscheinlich nicht über 160 n. Chr. hinauf; jene
Worte können daher besten Falls nur beweisen, dass um diese
Zeit in Rom, wo der Verfasser der ignatianischen Briefe ge-
lebt zu haben scheint, von Petrus Anwesenheit in dieser Stadt
erzählt wurde. Etwas weiter führt uns der erste Brief des
Petrus. Wenn hier der Apostel am Schluss seines Schreibens
den Lesern Grüsse von „der Mitauserwählten in Babylon" und
seinem Sohn Marcus bestellt, so ist es allerdings wahrschein-
lich, dass mit Babylon Rom und mit der „Mitausei-wählten"
daselbst die römische Christengemeinde gemeint ist (Luther
überträgt diese Erkläiiing unberechtigter Weise schon in seine
Uebersetzung), dass mithin der Brief in Rom geschrieben sein
will. Wir sehen nämlich aus der Offenbarung des Johannes
und aus einem von den christlichen Stücken der sibyllinischen
Weissagungen, dass Rom schon frühe von den Chiisten mit
jenem symbolischen Namen bezeichnet wurde. Allein bewei-
sen lässt sich jene Annahme durchaus nicht, und auch wahr-
schein li c h ist sie doch nur dann , wenn jener Brief von
einem andern als dem Apostel veifasst ist, dem er selbst sich
beilegt. Denn Babylon- heisst Rom (nach Offb. Joh. 17, 6-
18, 24) als die Hauptstadt der christenfeindiichen Welt, die
Stadt, welche trunken ist vom Blute der Christen. Dies
wurde aber Rom erst durch die neronische Christenverfolgung
bis dahin hatten die Christen unangefochten doii; gelebt, uni
noch unmittelbar vor jenem Ereigniss hatte Paulus, nach de"
Schlussworten der Apostelgeschichte, den neuen Glauben vol
zwei Jahre mit dem bedeutendsten Erfolge offen verkündig ^
ohne in dieser Thätigkeit gestöri zu werden. Und die Offead-
barung des Johannes bezeichnet auch wirklich (17, 5) jen^sii
Namen als ein Mysterium, eine nur den Eingeweihten v^t*-
ständliche symbolische Benennung, welche selbst dem Empfik."»-
ger der Offenbanmg erst erläutert werden muss; wähi'end ^i*
in dem Petrusbrief, welcher an dieser Stelle zum Gebra«.ch
eines Geheimnamens gar keine Veranlassung hat, bereits als
eine allgemein anerkannte Bezeichnung erscheint. Es ist cla-
her sehr unwahi-scheinlich, dass Rom schon von Petnis Baby Ion
f
als römischem Bischof. 225
genannt worden sein sollte; wäre vielmehr der Brief, der sei-
nen Namen trägt , wirklich von ihm geschrieben , so würde
sieh die Annahme weit mehr empfehlen , er sei nicht in Rom,
sondern in der bekannten Stadt am Euphrat verfasst worden,
welche damals zwar von ihrer früheren Grösse herabgekommen,
aber doch immer noch ein bedeutender Ort war. Indessen
ist an die Aechtheit dieser Schrift nicht zu denken , die viel-
mehr ganz unverkennbar von einem Pauliner unter den Ver-
hältnissen des zweiten Jahrhunderts veifasst wurde und der
greifbarsten Beziehungen auf ächte und unächte paulinische
Briefe, auf den Hebräer- und Jakobushrief, voll ist; und
selbst diejenigen machen sie ohne Zweifel zu alt, welche ihi-e
Ab&^ung in die letzten Jahre Trajan's (113 f.) verlegen; sie
wffd vielmehr eher erst dem vierten, wo nicht dem fünften
Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts angehören. Man kann
daher aus dem ersten Petrusbrief im günstigsten Fall nicht
mehr schliessen , als dass zur Zeit seiner Abfassung , um
130—140 n. Chr. , in der römischen Gemeinde oder doch bei
einem Theil dieser Gemeinde der Glaube verbreitet war, Pe-
trus sei in Rom gewesen. Wäre er andererseits wirklich von
Petrus verfasst (wovon aber , wie gesagt , nicht die Rede sein
kann), so könnte nur Babylon der Ort seiner Abfassung sein;
tmd selbst wenn ihn ein Späterer dem Apostel untei-schobeu
kÄt, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass dei-selbe
hiebei von der in der alten Sage gleichfalls vorkommenden
Annahme ausgieng, Petrus habe eine Zeit lang in Babylon ,
gewirkt. *)
Ist aber auch die Ueberliefemng von dem Aufenthalt des
Petrus in Rom durch dieses ßrgebniss, so weit seine Wahr-
scheinlichkeit reicht, der Zeit, in die dieser Aufenthalt fallen
niüsste, um ein erhebliches näher gerückt, so liegen doch
zischen 130—140 n. Chr. und den letzten Jahren des Nero,
^ denen der Apostel umgekommen sein soll , noch immer
*) M. vgl. zu dem obigen die Erörterungen und Nachweise, welche ich
inHilgenfeld's Zeitschr. f. wissensch. Theologie XIX, 84j0f. gegeben habe.
Zelle r, Vorträge und Abhandl. 15
226 I>ie Sage von Petrus
zwei Menschenalter. Wer da weiss, wie schnell sich oft un-
geschichtliche Annahmen bilden und verbreiten, wer auch nur
beachtet hat, wie viele grundlose Legenden selbst in unserer
mit der Kunst und den Hilfsmitteln der Kritik so reich aus-
gerüsteten Zeit in Umlauf gekommen sind und den einleuch-
tendsten Widerlegungen zum Trotz mit unverwüstlicher Hart-
näckigkeit immer neu auftauchen, der wird zugeben müssen,
dass in einer Periode und in Kreisen, denen es an jener Kunst
und jenen Hülfsmitteln ganz und gar fehlte, schon die Hälfte
dieses Zeitraumes mehr als ausreichen musste, um nicht allein
die Entstehung, sondern auch die allgemeine Verbreitung einer
ungeschichtlichen Sage zu ennöglichen, wenn diese Sage den
Neigungen und Interessen derer entsprach, an deren Glauben
sie sich wandte. Wir stehen daher aufs neue vor der Frage:
wie sich beweisen lässt, dass die Ueberliefemng von der An-
wesenheit des Peti-us in Rom ihrem ersten Ursprung nach aus ^
der Lebenszeit des Apostels und von solchen Peraonen her —
rühre, die ihn in Rom gesehen hatten und Augenzeugen sei — ■
ner dortigen Wirksamkeit gewesen waren?
Li dieser Beziehung ist es jedoch schon zum voraus vo^b
übler Vorbedeutung, dass jene Ueberliefening bei allen de^n
Zeugen, die wir bisher abgehört haben, so weit sie irgend ai
die Umstände näher eingehen, unter denen Petnis nach Roi
gekommen sein soll, mit offenbar ungeschichtlichen Angabt
in engem Zusammenhang steht. Der Verfasser des erst^x
Petnisbriefs sagt uns, nach der wahrscheinlichsten ErkläruEm£
seiner Worte, Petrus habe diesen Brief in Rom geschriebecKi-
Aber was kann dieses Zeugniss beweisen, nachdem wir uxbs
überzeugt haben, dass er ihn überhaupt nicht geschrieb^<^
hat ? Wenn der Verfasser des Briefs kein Bedepken trug^
nem eigenen Werke zu dessen Empfehlung den Namen
Apostels vorzusetzen (und wir sehen aus zahllosen Beispiele!^
dass in jener Zeit niemand Bedenken trug , so zu verfahrend -
was hätte ihn abhalten sollen, diesem Namen auch den der
Gemeinde beizufügen, von der es ausgegangen sein sollte, un^
der es durch dieses Vorgeben speciell an's Hei-z gelegt wurde ?
als römischem Bischol 227
Oder wenn ihm der letztere schon durch die Ueberlieferung
gegeben war: was hatte ihn veranlassen sollen, diese Ueber-
lieferung, die seiüBm eigenen Interesse so vollkommen ent-
sprach, auf ihre Glaubwürdigkeit und ihren Urspning zu prü-
fen, wenn er auch die Fähigkeit und die Mittel dazu gehabt
hätte, was doch gleichfalls höchst fraglich ist? Sein Zeugniss
kaim daher dieser Ueberlieferung keine Auktorität, die sie
Dicht vorher schon besitzt, zubringen. Nicht anders verhält
es sich mit den Zeugen aus dem letzten Drittheil des zweiten
Jahrhunderts. Ein Dionys von Korinth redet von der gemein-
schaftlichen Reise des Petrus und Paulus nach Rom, ihrem
* dortigen Lehren und Sterben ; aber welches Licht fällt auf
die Zuverlässigkeit dieses Gewährsmanns, wenn er die beiden
Apostel, trotz der Apostelgeschichte und den Korintherbriefen,
erst die Gemeinde in Korinth gemeinschaftlich stiften und
dann von hier aus zusammen nach Rom reisen lässt! Die
Acten des Petrus und Paulus erzählen, Paulus habe, als er
nach Rom kam, den Petras hier schon getroffen; aber wer
^^i'gt uns dafür, dass diese Angabe mehr Giimd hat, als das,
^ös dieselbe Schläft weiter von dem Streit gegen den Magier
Simon mit allen seinen Wundern und Ungeheuerlichkeiten be-
achtet ? Die kirchliche Ueberliefenmg legt den grössten Werth
<larauf, dass die römische Kirche von den beiden Aposteln
S^nci einsam gegründet sei, wenn sie auch dabei Petrus einen
8®^issen Vorrang einräumt und desshalb ihn und nicht Pau-
lus ^s ihren ersten Bischof betrachtet. Aber gerade dieser
2^> in dem sich für sie das ganze Interesse der Petraslegende
2ii8a.Hiinenfasst , ist ganz sicher ungeschichtlich, da aus der
^P^Btelgeschichte und dem Römerbrief (wie auch unten noch
K^^igt werden wird) sonnenklar hervorgeht, dass Petrus weder
^®^ Stifter noch der Mitstifter der römischen Gemeinde ist,
^i weder mit Paulus nach Rom kam, noch bei seiner An-
^u^tft schon dort war. Ist aber dieses ungeschichtlich, woher
^'^^en wir, dass dasjenige geschichtlicher ist, was uns im eng"
Btetx Zusammenhang mit jenem und von den gleichen Gewährs-
15*
i
228 Die Sage von Petrus
männern berichtet wird, dass Petrus überhaupt in Rom war
und dort gleichzeitig mit Paulus hingerichtet worden ist?
Noch bedenklicher ist indessen ein weiterer Umstand.
Was den Petrus nach Rom führte, war der kirchlichen Ueber-
lieferung zufolge die Absicht, dem Zauberer Simon, den er
schon fiüher in /Palästina und in Syrien bekämpft hatte, nun
auch in der Hauptstadt des römischen Weltreichs entgegen-
zutreten ; und je weiter wir jene Ueberliefeining zu ihrem Ursprung
zurück verfolgen, um so ausschliesslicher tritt dieses Motiv in
derselben hervor. Der Zauberer Simon ist aber eine durchaus
ungeschichtliche Person, die Erzählung von seinem Streit mit
Petrus eine Erfindung des Parteigeistes, die jeder thatsächlichen
Begiilndung ermangelt. Für was anderes wird da die An-
wesenheit des Petrus in Rom , von der ursprünglich nur im
Zusammenhang der Simonssage eraählt, die nur mit dieser
Fabel motivirt wurde, gelten können, als für einen Theil die-
ser Dichtung, und wo sollte die Kritik das Recht hernehmen,,^
diesen Zug der Legende für geschichtlich zu erklären, wäh —
rend das Ganze, von dem er ui-spiünglich einen integrirendenn
Theil bildet, den unverkennbaren Stempel der Erfudung a^
der Stinie trägt?
Ich will dieses Bedenken an der Hand der neueren Unter-
suchungen, unter denen nächst Baur's grundlegenden Arb^:i
ten die Schrift von Lipsius über „die Quellen der römischer
Petrussage" (1872) die heiTorragendste Stelle einnimmt, etw«,s
näher erläutern.
Wir haben nun bereits gehört, wie die römische Wirlc-
samkeit und der Märtyrei-tod des Petrus und Paulus in den
Acta Petri et Pauli, noch vor dem Ende des zweiten Jahr-
hunderts, mit der Geschichte des Magiers Simon verknüpft
wurde. Dieser Zauberer tritt hier den beiden Aposteln in
Rom mit seinen Irrlehren und seinen dämonischen Wundem
entgegen; als ihn Petrus durch grössere Wunder überwindet,
kommt die Sache vor Nero, wo sie den oben erzählten Ver-
lauf nimmt. Noch früher, schon um's Jahr 150, erwähnt deß
Magiers Justinus der Märtyrer in seiner grösseren Apologie-
als römischem Bischof. 229
^imon, erzählt er (Cap. 26), ein Samaritaner, habe
'audius mit Hülfe der Dämonen in Rom so
'nubeieien verachtet, dass er als ein Gott
der Tiberinsel eine Bildsäule erachtet
schritt : Sinzoni Deo Sando, Dieser
''ast allgemein als der höchste Gott
-e Helena, eine öifentliche Dirne,
II sei, werde als sein erster Gedanke
■ li Peti-us bei dieser Gelegenheit nicht
aocli die letzte Quelle dieser Angaben ohne
I »ai-stellung , welche ausser dem Auftreten des
liOm auch seinen Kampf mit Petrus und sein Ende
stielte; und vielleicht war dem Kirchenvater in dieser
arstellung bereits auch die Combination des Simon mit einer
wi»a,ritanischen Landesgottheit und der Helena mit dem „er-
sten Gedanken" (der „Enoia") der gnostischen Valentinianer
^i die heitere Umdeutung jener Inschrift auf der Tiberinsel
gegeben, die vor di*eihundert Jahren wieder aufgefunden wurde
nnd Jetzt im Vorsaal der vaticanischen Bibliothek aufbewahrt
™4 , die aber in der Wirklichkeit unter der Bildsäule eines
dtrömischen Gottes stand, und nicht, wie Justin sagt, „Ämom*
^ jScmdo^y sondeni ,^Semom Sanco Deo Ftdio'', Semo San-
^» dem Gott des Eides, gewidmet ist. Wir besitzen aber
weh noch zwei altchristliche Schriften, welche sich ganz um
die Sage von Simon und Petrus drehen und uns in die Ge-
wW^chte dieser Sage einen tieferen Einblick eröffnen: die
»deinentinischen Homilieen" und die „clementinischen Re-
^iögiiitionen". Die erste von diesen Schriften, deren Abfassungs-
M^ von dem Jahre 180 n. Chr. schwerlich weit abliegt, ist
WB der Partei der antipaulinischen Judenchristen, der sogenann-
tem Ebjoniten, hervoi^^angen, und sie veiTäth diesen ihren
Ureprung noch deutlich durch die Erbittei-ung , mit der hier
^wilus, unter der Maske des Magiers Simon, angegiiffen, seine
PööBe geschichtliche Leistung dagegen, die Ausbreitung des
CI*riBtenthnmß in der Heidenwelt, auf Petins übertragen, und
fie Existenz eines Apostels Paulus so vollständig ignorirt wird,
230 Die Sage von Petrus
dass sein Name in dem ganzen ausführlichen Werke nicht
Einmal genannt ist. Denn dem Verfasser dieses Werks war
eben Paulus nicht der Apostel, sondern der „feindselige
Mensch" (wie er hier genannt wird), der Eindringling, welcher
sich auf angebliche Visionen hin die Apostelwtirde angemasst
hat, der Abtiünnige, welcher dem Glauben seiner Väter, dem
„Gesetz", untreu geworden ist, und nun die Welt zu demsel-
ben Abfall verleitet, die ächten Apostel dagegen, den Petrus
an ihrer Spitze, mit seinen Schmähungen (es bezieht sich diess
namentlich auf die Aeussemngen des Paulus Gal. 2, 11 ff.)
verfolgt hat. Eine katholische Bearbeitung des gleichen Stof-
fes sind die „Recognitionen", in ihrer jetzigen Gestalt wohl
etwas später verfasst, als die „Homilieen". In beiden Schrif-
ten lassen sich aber ältere und jüngere Bestandtheile noch
deutlich untei*scheiden, und aus der Untereuchung dieser ver-
schiedenen, in der fortschreitenden Entwicklung der Sage ge-
bildeten Ablagerungsschichten lässt sich ein Bild von der ur-
sprünglichen Gestalt und Tendenz und den späteren Wand-
lungen der Erzählung gewinnen, durch deren Bearbeitung sie
entstanden sind. Auf diesem Wege ergibt sich, dass der Zau-
berer Simon — mag es nun im apostolischen Zeitalter eine
Goeten dieses Namens gegeben haben, oder nicht — jeden —
falls in der Sage, mit der wir es hier zu thun haben, ur —
spiilnglich nichts anderes war, als eine von dem ebjonitische^
Parteihass aufgebrachte Bezeichnung des Paulus. Dieser Apc^»-
stel soll dadurch als ein Abtrünniger (oder wie die Sage dieac-^
ausdi-ückt: ein Samai-itaner) , als ein Veiführer, als ein Feia^^
des Gesetzes und der gesetzestreuen Apostel dargestellt wemr
den; die Erzählung von dem Streit des Simon mit Petnu«
seiner Ueber Windung durch diesen Apostel und seinem schmäfc»
liehen Ende wollte ihrer ersten Abzweckung nach den röm-i
sehen Christen sagen: nicht Paulus, der antinomistische
lehrer, den schliesslich (durch sein Ende unter Nei*o) die
diente Strafe ereilt habe, sei der Stifter, nicht der antijüdiscliö
Paulinismus, sondein das petrinische Judenchristenthum sei
der eigentliche und allein berechtigte Glaube der römischem
als römischem Bischof. 231
Gemeinde. Da die Urheber dieser Erdichtung es bereits
nöthig fanden, ihre Angriffe auf Paulus hinter der Simons-
niaske zu vei-stecken, so muss dieselbe einer Zeit angehören,
in der es auch seine leidenschaftlichsten Gegner seinem an-
erkannten apostolischen Ansehen gegenüber nicht mehr wagen
konnten, mit ihren Vorwürfen gegen ihn offen aufzutreten.
Da andererseits die Apostelgeschichte (Cap. 8, 9 ff.) , deren
Abfassung sich annähernd um 120—125 n. Chr. ansetzen lässt,
die Erzählung von Simon, dem samaritanischen Zauberer, be-
reits kennt und dei*selben ihre antipaulinische Spitze dadurch
abbricht, dass sie den Streit des Simon mit Petms in die
Zeit vor der Bekehrung des Paulus verlegt, so werden wir
die Entstehung dieser Erzählung, deren Geburtsort wir ohne
Zweifel ebenso , wie den der Apostelgeschichte , in Rom zu
suchen haben, in die zwei ersten Jahrzehende des zweiten
Jahrhundeits hinaufrücken müssen. In der Folge wurde dann
auf den Magier, welcher zuerst nur den gi-ossen Heidenapostel
to ZeiTbild dargestellt hatte, alles das übertragen, was bei
<l^n Männern und Parteien, die als das häretische Extrem des
Paulinismus der judaistischen Form des Christenthums am schroff-
sten entgegentraten, bei den sogenannten Gnostikeni, zum Haupt-
Äiistoss gereichte, es wurden ihm die Lehren der basilidianischen
und valentinianischen und später die der marcionitischen Gnosis
•
^ den Mund gelegt, als deren Vertreter er in unsem clementi-
^schen Homilieen auftritt, ohne dass doch desshalb seine ur-
sprüngliche Beziehung auf Paulus aufgegeben worden wäre;
^üd er wurde so zu dem Stammvater aller Ketzereien, für den
®i' der alten Kirche gegolten hat, und als den ihn schliesslich
auch manche von den jüngeren Gnostikem selbst sich gefallen
l^essen, wenn sie Darstellungen ihrer Lehre seinen Namen vor-
^*i2ten. Erst durch eine Umbildung dieser altebjonitischen
Simonssage ist die katholische Legende von dem Kampf des
Petrus mit Simon entstanden. In ihr musste natürlich jede Erin-
^eitmg daran getilgt werden, dass Simon ursprünglich nichts
*^deres gewesen war, als Paulus im Zen-bild; statt von Pe-
^^^ bekämpft zu werden, musste Paulus jetzt als Begleiter
232 I^ie Sage von Petrus
des Petinis an der Ueberwindung des Magiers theilnehmen;
während der ebjonitische Tendenzroman sein Ende zum schmach-
vollen Auegang eines gottlosen Lebens gemacht, seine Mär-
tyrergloiie dagegen auf Petins übertragen hatte, wui'de jetzt die
Person des Zauberers, den Petms' Wort aus den Lüften herab-
gestürzt haben sollte, von der seinigen unterschieden, und er
selbst wurde zum Genossen des Petms im Märtyrertode, wo-
bei aber dieser doch immer an Ruhm und an Thaten den
Vortritt behielt, so dass er und nicht Paulus zu dem eigent-
lichen Apostel der Römer und zum ei"sten Bischof der römi-
schen Christengemeinde gemacht wurde.
So stellt sich die Ueberliefemng von dem römischen Bis-
thum des Petrus, wenn man ihren Quellen auf den Giund
geht, am Ende als ein vielverschlungenes Gewebe von Erdich-
tungen und Vermuthungen dar, dessen einzelne Fäden wir
freilich nicht mehr zu entwirren, dessen Entstehung und Haupt-
bestandtheile wir aber im wesentlichen noch mit hinreichen-
der Sicherheit zu erkennen vermögen. Ihre erste Grundlage
bildet jener ebjonitische Tendenzroman, welcher den Paulus
in Rom als falschen Apostel von dem Haupte der ächten
Apostel entlarvt und gestüi-zt werden liess; ihre spätere.
katholisch-kirchliche Gestalt erhielt sie dadurch, dass diesei
ebjonitischen Dichtung ihr antipaulinischer Charakter genom-
men und Paulus aus dem Gegner zum Genossen des Petni-
gemacht wurde. Aber da die kirchliche Legende eben niL
durch diese Umbildung der alten ebjonitischen entstanden isfl
und da sie im übrigen alle die ungeschichtlichen und abea
teuerlichen Züge der letzteren, alle jene Mirakel des Simo»-
und des Petrus in sich aufgenommen hat, liegt am Tage, das
die eine auf geschichtliche Glaubwürdigkeit nicht mehr Ac
spiOLch machen kann als die andere, dass sich die eine gera(3
so gut in dem Reiche der Dichtung bewegt wie die andere
und dass ihi* einziger Unterschied in ihrer Tendenz liegt: d J
ebjonitische Legende verläumdet den Paulus, die katholiscb
bringt ihn wieder zu Ehren, aber um die geschichtliche Walu^
heit bekümmert sich diese so wenig, wie jene, und was si<
als römischem Bischof. 233
yon der Reise des Petms nach Rom sagen, das wird von bei-
den mit denselben, einer ebjonitischen Parteilüge entsprungenen
Fabeln über den Magier Simon und seinen Streit mit Petins
begründet.
Man könnte vielleicht hiegegen einwenden, diese An-
nahmen über den Urspiiing und die ursprüngliche Bedeutung
der Simonssage seien doch blosse Hypothesen, Combinationen,
die vielleicht an sich selbst bestechend genug sein mögen, die
aber gegen Zeugnisse, wie sie uns für die römische Wirksam-
st des Petrus zu Gebot stehen, nicht aufkommen können.
Mein diess Messe die Natur und die Bedingungen einer Un-
tersuchung, wie die, welche uns gegenwärtig beschäftigt, ver-
kennen. Lägen uns über die Anwesenheit des Petrus in Rom
bestimmte Aussagen glaubwürdiger Pei-sonen vor, welche er-
klärten, dass sie den Apostel dort gesehen haben, oder dass
ihnen zuverlässige Leute bekannt seien, die ihn dort gesehen
zu haben versichei-ten, oder besässen wir ein Schiiftsttick von
seiner Hand, das aus Rom datirt wäre oder von seinem römi-
schen Aufenthalt spräche , dann könnte man von Zeugnissen
reden, denen gegenüber unsere Combinationen verstummen
Diüssen. In Wirklichkeit verhält es sich ja aber ganz anders.
Kirchliche Schriftsteller seit dem letzten Drittheil des zweiten
Jahrhundeits sprechen von der Anwesenheit und dem Mär-
tyi^rtod des Petrus in Rom; aber sie sagen uns nicht, woher
sie diese Nachricht haben, und sie geben dieselbe, wie bereits
Dachgewiesen wurde , im unmittelbaren Zusammenhang mit so
*^ffenbaren Erdichtungen — über den Magier Simon, über die
gemeinschaftliche Reise des Petrus und Paulus nach Rom,
^er den Antheil des Petrus an der Stiftung der korinthischen
Gremeinde — dass auf ihr Zeugniss nicht der geringste Ver-
^^Bs ist. Der erste Petrusbrief will, wie es scheint, in Rom
^^rfasst sein; aber dass er diess will, steht nicht unbedingt
sicher, und wahrscheinlich ist es nur dann, wenn er nicht von
^^m Apostel heriilhrt; und dann kann sein Zeugniss eben nur
^^^eisen, dass Petrus zur Zeit seiner Abfassung, d. h. im vier-
*^ii oder fünften Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts, von
",T
234 Die Sage von Petrus
manchen für einen Apostel der Kömer gehalten wurde. Das
gleiche beweist die fiilher besprochene Aeussemng des fal-
schen Ignatius für das sechste oder siebente Jahrzehend, wo-
durch indessen der Ueberlieferung sachlich keine Vei-stärkung
zuwächst. Lässt sich endlich die ebjonitische Simonslegende,
welche den Petrus nach Rom führt, bis in die ei-sten Jahr-
zehende des zweiten Jahrhunderts verfolgen, so ist doch diese
Quelle eine so trübe und ihr Bericht ein so abenteuerlicher,
dass man hier wohl am wenigsten von urkundlichen Zeug-
nissen wird reden wollen. Es handelt sich mithin im vorlie-
genden Fall nicht um ein Auftreten von Hypothesen gegen
Zeugnisse, sondem die Frage ist lediglich die: welche von
den verschiedenen Ueberlieferungen, die sich sammt und son-
ders über ihren Ursprung nicht ausweisen können und sich mit
ungeschichtlichen Elementen stark vei-setzt zeigen, für die
relativ älteste und für die Quelle der andern zu halten sei;
und auf diese Frage lässt sich nach allen Gesetzen histori-
scher Wahi-scheinlichkeit nur antworten, dass es diejenige
sein werde, deren Vorkommen sich am fillhesten nachweisen
lässt, und die sich am besten dazu eignet, alle andern zu er-
klären. Diese ist aber im vorliegenden Fall die altebjonitische
Legende von dem Magier Simon und seiner Besiegung durch
Petms. Die Wahrscheinlichkeit spricht daher entschieden füi —
die Annahme, diese antipaulinische Petrussage sei der Stamm^
von dem sich erst in der Folge die katholische, petropauli —
nische Ueberlieferung abgezweigt habe.
Doch es ist nicht blos der verdächtige Urspmng und dei^
sagenhafte Charakter dieser Ueberlieferung, der uns nöthigt —
ihr den Glauben zu versagen: sie steht auch mit den urkund^ —
lieberen Quellen und mit den beglaubigtsten Thatsachen de^
ältesten Kirchengeschichte in einem so unversöhnlichen Wider —
Spruch, dass wir sie schon desshalb unmöglich für richtig hal —
ten können.
Wenn Petrus nach Rom gekommen wäre, so müsste e^
entweder zugleich mit Paulus, oder vor ihm, oder nach ihnr:^
dorthin gekommen sein. Das erste behauptet, wie wir gesehei
als römischem Bischof. 235
haben, schon der erste Zeuge, der diese Frage überhaupt be-
rührt, Dionysius von Eorinth. Aber die ältere und zuverlässi-
gere üeberlieferung schliesst diese Annahme unbedingt aus.
Wir sehen aus der Apostelgeschichte (Kap. 27 f.) , welche hier
gerade den Beisebericht eines Augenzeugen aufgenommen hat,
dass Paulus von Cäsarea aus, wo er über zwei Jahre in Haft
gehalten worden war, als Gefangener nach Rom gebracht
wurde, und dass sich Petrus hiebei nicht in seiner Gesellschaft
befand, geht aus der Darstellung dieses Abschnitts unwider-
sprechlich hervor. Es ist daher offenbar unrichtig, wenn be-
hauptet wird, dieser Apostel sei in Begleitung des Paulus nach
ßom gekommen; von den weiteren Zusätzen der Berichterstat-
ter, dass er den Zauberer Simon dorthin verfolgt, und dass er
bei dieser Gelegenheit die korinthische Gemeinde mit gestiftet
habe, nicht zu reden. Wir besitzen ferner in unserer neu-
testamentlichen Sammlung eine Reihe von Briefen, welche uns
Äeils ausdrücklich , theils in Andeutungen , die nicht zu ver-
kennen sind, sagen, dass sie von Paulus während seiner römi-
schen Gefangenschaft geschrieben seien: die Briefe an die
Gemeinden in Ephesus, Kolossae und Philippi, den Brief an
Philemon und den zweiten von den beiden an Timotheus ge-
buchteten. Die meisten von diesen Briefen enthalten nun
ö^ilsse von den römischen Freunden des Apostels (m. s. Phi-
^ipper 4, 22. Philem. 23 f. Kol. 4, 10 flf. 2 Tim. 4, 21) und
Nachrichten über sein eigenes Ergehen wie über seine Um-
gebungen und Gehülfen (Philipp. 1, 12 flf. 2, 19 flf. 4, 2 f.
^ol. 4. 7 ff. 2 Tim. 4, 9 flf.), und es wird bei dieser Gelegen-
*^^t eine erhebliche Anzahl von Personen genannt, die mit
^^^ö Apostel in ßom zusammen gewesen seien: Epaphroditus
^^d ICimotheus, Marcus und Lucas, Clemens und Linus, Pudens
^^ä Crescens, Tychikus, Onesimus, Aristarchus, Eubulus, De-
^*s, Jesus genannt Justus, Euodia, Syntyche und Claudia,
^^r ein Name fehlt, dem wir vor allen andern zu begegnen
^^arten müssten: der des Petrus. Wie wäre diess möglich,
^^xin die spätere üeberlieferung Recht hätte, wenn Petrus
236 ^i^ 3^Se ^^^ Petrus
gleichzeitig mit Paulus in Born gewii'kt, gemeinschaftlich mit
ihm die römische Gemeinde gestiftet hätte?
Nun ist freilich unter jenen Briefen keiner, den die neuere
Kritik unangetastet gelassen hätte, und von einem derselben,
dem zweiten Brief an Timotheus, kann es als ausgemacht gel-
ten, dass er ebeöso , wie der erste Timotheusbrief und der an
Titus, nicht allein unächt, sondern auch erst um die Mitte
des zweiten Jahrhunderts, oder doch nicht lange vor diesem
Zeitpunkt, verfasst ist Aber für die vorliegende Frage ist
dieser Umstand nicht so wichtig, als es zunächst scheinen
könnte. Sind jene Briefe unächt, so müssen wir schliessen,
es sei ihren Verfassen! von einem Zusammensein des Peüois
mit Paulus in Rom nichts bekannt gewesen; mochte ihnen
nun diese Angabe noch gar nicht zu Ohren gekommen sein,
oder mochten sie dei*selben, nach ihrer sonstigen Kenntniss
der Verhältnisse, keinen Glauben schenken. Denn auch daran ist
nicht zu denken, dass die Verfasser dieser Briefe (falls sie unächt
sind) von der ihnen überlieferten und bekannten Wirksamkeit
des Petrus in Rom absichtlich geschwiegen hätten, um den
Paulus zum alleinigen Apostel der Römer zu machen. Da sie=
vielmehr sichtbar darauf ausgehen , an der Versöhnung des
Gegensatzes von Juden- und Heidenchristen, Petrinera und_
Paulinem, zu arbeiten, und da sie in diesem Interesse aucbi
die persönliche Verbindung des Paulus mit Judenchristen und
bekannten Gefährten des Petrus, wie Marcus und Jesus-Justus
Linus, Clemens und Pudens, aufs geflissentlichste hervorheben-
hätten sie für ihren Zweck gar nichts wirksameres thun können
als die grosse judenchristliche Auktorität, den Petrus selbst^
ihren Lesern in fi-eundschaftlichem Verkehr und gemeinschaft-
licher Arbeit mit Paulus in Rom zu zeigen. Wenn sie es trotz-
dem unterlassen, so beweist diess, dass sie eben von dem Zu-
sammentreffen der beiden Apostel in Rom noch nichts wussten
oder nicht daran glaubten. Ist es anderei'seits Paulus selbst-
der die Briefe während seiner Gefangenschaft schiieb und dee
Petrus darin nicht erwähnte, während er sonst alle möglichei:
Personen aus seiner Bekanntschaft namhaft macht, so ist et
als römischem Bischof. 287
nur um so einleuchtender, dass Petrus bis gegen das Ende
der Gefangenschaft des Paulus nicht in Rom gewesen sein
kann. Wir sind daher sowohl durch die Apostelgeschichte
als dui*ch die paulinischen Briefe berechtigt, die Behauptung,
dass Petrus zugleich mit Paulus nach Rom gekommen
sei, mit aller Bestimmtheit für ungeschichtlich zu erklären.
Schon hieraus ergibt sich nun auch die Unrichtigkeit der-
jenigen Ueberlieferung, welche den Petrus vor Paulus nach
■ßom kommen lässt; man müsste denn annehmen, er habe
diese Stadt noch vor Paulus' Anwesenheit in derselben wieder
v^x-lassen, oder sei vor diesem Zeitpunkt gestorben; diess
^'üitle aber der kirchlichen Ueberlieferung von ihrem gleich-
zeitigen Mäi-tyrertod schnurstracks widersprechen, und es wird
a'^czh von keinem einzigen unserer Zeugen und in keiner Wen-
<i^^xig der Petrussage behauptet, sondern alle sind darüber ein-
^^x-8tanden, dass Petrus mit Paulus in Rom zusammengewesen
^^■^d zugleich mit ihm getödtet worden sei. Jene Ueberliefe-
^''^'Og hat aber auch abgesehen davon sehr viel gegen sich,
^^-ch der späteren kirchlichen Legende wäre Peti-us 25 Jahre
'^^*Xg römischer Bischof gewesen. Auf diese Legende bezieht sich
^* i.die bekannte Weissagung, die der gegenwärtige Papst frei-
thatsächlich widerlegt hat, dass keiner von den Nachfolgern
Petrus die Jahre seines Episkopats tiberschreiten werde.
^ ^-ch dieser Annahme müsste Petms, da er auf Nero's Befehl
Eingerichtet worden sein soll, und Nei-o im Sommer des Jahres
^S n. Chr. ermordet wurde, spätestens um den Anfang des
J^Älttes 43, im zweiten Jahr des Kaisers Claudius, nach Rom
K^lommen sein. Und Eusebius berichtet allerdings (K.-G.
^l-, 14) : nachdem der Magier Simon unter Claudius nach Rom
gekommen sei, habe die Voi-sehung noch unter demselben
Claudius den Petrus dorthin geführt; und die gleiche Zeit-
^^öBtimmung gab die Erzählung von Simon ohne Zweifel von
^irfang an, da schon Justin den Magier unter Claudius nach
Bom kommen lässt, und unsere pseudo-clementinischen Schrif-
•*•» ^ ^® Streitreden zwischen PetiTis und Simon ebenfalls in die
M ^^nmg des Claudius verlegen. Aber der Geschichtlichkeit
238 I^ie Sage von Petras
dieser Dai*stellung kann ihre Herkunft aus der altebjonitische
Simonsfabel nicht zur Empfehlung gereichen; wird doch i
derselben, neben allen andern Abenteuerlichkeiten, auch mit de
Chronologie so rücksichtslos umgespningen, dass Clemens, de
96 n. Chr. hingerichtet wurde und damals noch kein sehr be
tagter Mann gewesen sein kann, nicht allein unter Claudiu
den Petrus begleitet und seine Reden aufgezeichnet, sonder
schon vor dem Tode Christi die evangelische Botschaft vei
nommen und den Entschluss zur Reise nach Palästina gefast
haben soll; wird doch, da mit Simon urspiünglich Paulus g(
meint ist, durch die Behauptung, der Magier sei unter Clai
dius nach Rom gekommen, die Ankunft dieses Apostels i
der Reichshauptstadt um 10 — 20 Jahre zu weit hinaufgerück
Die Falschheit jener Angabe lässt sich vielmehr mit voUkon
mener Sicherheit nachweisen. Wir sehen aus dem Galatei
brief (K. 2) und der Apostelgeschichte (K. 15), dass Petru
— nach der einen Erklärung vieraehn, nach der andern, di
mehr für sich hat, siebzehn Jahre nach der Bekehrung de
Paulus noch in Jerusalem war, wo Paulus bei ihm und de
übrigen Aposteln die Anerkennung des Heidenchristenthunc
durchsetzte, und dass er noch später (der Zeitpunkt lässt sie
nicht näher bestimmen) zu Paulus und Bamabas nach A:
tiochia kam. Schon diess führt uns nun jedenfalls in d
allerletzten Jahre des Claudius, welcher 54 n. Chr. stas
wahrscheinlich aber bereits in die Regieiiingszeit des Nero hera
An ein fünfundzwanzigjähriges römisches Bisthum des Petr
kann daher unter keinen Umständen gedacht werden. Weit
erzählt uns aber Paulus in der angeführten Stelle des Galatc
briefes, er habe mit den palästinensischen Aposteln die üebe
einkunft getroffen, dass sie den Juden, er den Heiden dasErai
gelium verkündigen solle; und dem entsprechend sagt er de
Römein in seinem Sendschreiben (1, 13): er habe schon längs
den Vorsatz gefasst, sie zu besuchen, um sich auch ihnen, *„iri<
den übrigen Heiden" , nützlich zu machen. Er rechnet dabei
Rom, wiewohl die dortige Christengemeinde in jener Zeit ohne
Zweifel noch ganz überwiegend aus messiasgläubigen Juden
als römischem Bischof. 239
bestand, zu der Heidenwelt, die sein eigenthtimliches Missions-
gebiet ausmachte. Wie war diess möglich, wenn eben da-
mals Petrus schon längst die römische Christengemeinde als
ihr anerkanntes Oberhaupt mit apostolischer Auktorität leitete?
Oder wenn je Paulus trotzdem eine besondere Veranlassung
grehabt hätte, sich in einem so ausführlichen und in seine
gSLTLze Auffassung des Ghristenthums so tief eingehenden Schrei-
bon an die römische Gemeinde zu wenden: wie lässt es sich
denken, dass er in demselben seines Mitapostels und seines Ver-
hältnisses zu demselben mit keiner Silbe erwähnt hätte? Aber
noch mehr. Das sechzehnte Kapitel des ßömerbriefs enthält
namentliche Grtisse an nicht weniger als 28 Personen. Aber
a"txch hier, wie in den Briefen aus der römischen Gefangen-
sciiafb, fehlt der Name des Petrus. Lässt sich da annehmen,
I^^trus sei eben damals Bischof der römischen Gemeinde ge-
w'^sen? Nun hat zwar Baur ohne Zweifel Recht mit der Ver-
n^xithung, der es auch an äusseren Stützen nicht fehlt, dass
ia,s 15. und 16. Kapitel des Römerbriefs ei-st von einem Spä-
töx-en dem ächten paulinischen Schreiben beigefügt seien, wenn
Wich vielleicht (wie Holtzmann annimmt) der Schluss des
letzteren in K. 16, 21 — 24 noch erhalten ist. Aber was über
4ie Gefangenschaftsbriefe bemerkt wurde, das gilt auch hier.
Wenn K. 15 und 16 aus der nachpaulinischen Zeit herrühren,
M kann ihr Verfasser unmöglich angenommen haben, dass da-
mals, als Paulus sein Sendschreiben nach Rom richtete, Petrus
^ch in dieser Stadt aufgehalten: habe, da er ihn andernfalls
iJi den Gillssen nicht übergangen haben würde; denn für eine
Absichtliche Uebergehung liegt hier gleichfalls nicht blos kein
Grund vor, sondern es hätte vielmehr demVerfasser jener Kapitel
W der conciliatorischen, auf die Gewinnung der Judenchristen
^berechneten Tendenz, die er verfolgt, nur erwünscht sein kön-
nen, wenn ihn die Ueberlieferung seiner Zeit in den Stand
B^etzt hätte, dem Paulus einen Gruss an Petiiis und ein
Zeugniss seines Einvernehmens mit demselben in den Mund zu
lögen. Wenn er es nicht gethan hat, so beweist diess, dass
^ seiner Zeit in Rom von einer Anwesenheit des Petrus da-
240 I^ie Sage von Petrus.
selbst, die der Abfassung des Römerbriefes vorangieng, nichts
bekannt war. Ebensowenig vertragt sich die Annahme der-
selben mit der Darstellung der Apostelgeschichte. Denn diese
Schrift schweigt nicht allein gänzlich von Petrus, wo sie die
Ankunft des Paulus in Rom und seine Begrüssung durch die
römischen „Brüder" erwähnt (K. 28, 15); sondern auch in dem
Bericht über die Verhandlungen des Apostels mit den römi-
schen Juden und über seine zweijährige Wirksamkeit in der
Hauptstadt wird der Name des Petrus nicht genannt, was doch
nothwendig geschehen musste, wenn der Verfasser annahm,
Paulus habe diesen seinen apostolischen Collegen in Rom
schon vorgefunden. So wenig daher Petrus mit Paulus dort-
hin kam, ebensowenig kann er vor ihm dort gewesen sein:
die kirchliche üeberlieferung ist in ihren beiden Gestalten,
derjenigen, welche ihn mit Paulus, und derjenigen, welche ihn.
vor Paulus dorthin kommen lässt, mit der beglaubigten Ge-
schichte gleich unvereinbar.
Kann aber Petrus weder mit Paulus noch vor Paulus naclt
Rom gekommen sein: Hesse sich seine Anwesenheit in dies^
Stadt nicht vielleicht dadurch retten, dass man annähme,
sei nach ihm in dieselbe gekommen? Allein davon ist für
erste der gesammten kirchlichen Üeberlieferung nicht das
ringste bekannt. Alle unsere Zeugen, ohne Ausnahme, lass
den Petrus entweder vor Paulus oder zugleich mit ihm nac^
Rom kommen; nur die ebjonitische Simonsfabel lässt ihr^
Petrus dem Zauberer, welcher das Zerrbild des Heidenapost&
ist, dorthin nachreisen, worin doch niemand einen geschict»^
liehen Beweis dafür, dass Petrus dem Paulus nach Rom ^^
folgt sei, wii-d sehen wollen. Ist er nun doch nachwei8l>^
weder vor ihm noch mit ihm dorthin gekommen, sind aJ»
alle die Angaben, welche ihn überhaupt dorthin kommen 1ä»
sen, in dem, was sie sagen, unwahr: wie kann man eb«i
diese Angaben gebrauchen , um aus ihnen etwas zu beweisen,
was sie nicht sagen und was sich mit ihren Aussagen g^r
nicht vereinigen lässt? Will man auf Grand der kirchlicliflö
üeberlieferung eine Anwesenheit des Petras in Rom be-
als römischem Bischof. 241
I kupten, so muss man diese Ueberlieferung in irgend einer
Gestalt so, wie sie lautet, als geschichtlich nachzuweisen
oder doch den Nachweis ihrer Ungeschichtlichkeit zu ent-
saften im Stande sein , man muss zeigen , dass Petiiis ent-
weder mit Paulus oder vor Paulus nach Rom gekommen sein
kann. Muss man anderei'seits zugeben, dass sich weder die-
ses noch jenes annehmen lässt, so hat man kein Becht, eine
dritte Annahme zu emnnen und der Ueberlieferung, die von
ihr nichts weiss, zu untei-schieben.
Diese Annahme ist aber auch an sich selbst höchst unwahr-
scheinlich. Es ist schon oben gezeigt worden, dass fUr diejenige
i^mische Gefangenschaft des Paulus, von welcher die Apostel-
geschichte erzählt und auf welche mehrere paulinische Briefe
sich beziehen, ein Zusammensein des Paulus mit Petiiis sich
nicht annehmen lässt. Man hat desshalb vermuthet, Paulus
sei aus dieser Gefangenschaft wiißder frei geworden, später ein
zweitesmal nach Bom gekommen und jetzt ei-st zugleich mit
Petrus hingerichtet worden. Allein dieser Vermuthung fehlt
^ an jeder traditionellen Gnindlage, da eine zweite Gefangen-
schaft des Apostels (abgesehen von einer ganz vereinzelten
unsicheren Andeutung in dem um 190—200 verfassten Mura-
tori'gchen Kanon) nicht vor dem vierten Jahrhundei*t und auch
hier (bei Eusebius K.-G. II, 22) nur als ein „Gei-ücht" erwähnt
^rd, das aus einer missverstandenen Bibelstelle (2 Tim. 4, 16)
^tstanden zu sein scheint. Sollen wir nun annehmen, That-
s^chen von so allgemeinem Interesse, wie die Befreiung, die
spätere Wirksamkeit und die erneuei-te Gefangennehmung des
S^ossen Heidenapostels, haben sich zwar zugetragen, sie seien
^feer aus der Ueberlieferung des zweiten und dritten Jahrhun-
^©lis so vollständig verschwunden, dass selbst ein Eusebius
keinen bestimmten Gewährsmann dafür anzugeben wusste, um
^8öm im vierten Jahrhundert als Geiilcht wieder aufzutauchen ?
^enn femer die Apostelgeschichte mit der Bemerkung schliesst,
Paulos habe nach seiner Ankunft in Rom das Evangelium doit
^wei Jahre lang ungehindert verkündigt, so ist diess nur dann
^n passender Schluss dieser Schrift, wenn der Apostel damit
Zeller, Vortx&ge und Abbandl. 16
242 ^^6 Sage von Petrus
überhaupt an dem Ziel seiner evangelischen Verkündigung j
gelangt war ; hatte er sie dagegen noch länger fortgesetzt, i
dann noch einmal nach Rom zurückzukehren, so sollte n
ii'gend eine Hindeutung auf diesen Abschluss seiner apos
lischen Wirksamkeit erwarten. Auch die früher angefüh
Behauptung des Dionys von Korinth, dass Petrus und Pau
nach der Gillndung der korinthischen Gemeinde nach R
gegangen seien und dort den Märtyreitod erlitten haben,
sagenhaft sie an sich selbst ist, beweist doch immer, dass n
zu seiner Zeit nur von Einer Gefangenschaft des Paulus wuss
und ähnlich schliesst Origenes (um 240) die Annahme eil
zweiten mittelbar aus, wenn er sagt: Paulus habe (nach Ri
15, 19) von Jemsalem bis Illyrien das Evangelium verkünc
und sei dann unter Nero in Rom zum Märtyrer geword
Da endlich das Ende der zwei Jahre, während deren Pau
nach der Apostelgeschichte in Rom das Evangelium verk
digte, jedenfalls ganz nahe an die Zeit der Neronischen Gl
stenverfolgung heranreicht, so müsste Paulus, wenn man e
zweimalige römische Gefangenschaft desselben annimmt, aus <
ersten unmittelbar vor jener Katastrophe befreit worden s<
aber schon in einem der nächstfolgenden Jahre sich eher
wie Petrus, freiwillig auf diesen für die Christen so gefährlicl
Boden zurückbegeben haben, was doch gewiss alle Wa
scheinlichkeit gegen sich hat. Aber wie gesagt : in der kir
liehen Ueberlieferung ist diese Annahme nicht begründet;
ist eine Auskunft der Verlegenheit, die von jeder haltba
traditionellen Gmndlage verlassen ist.
Was sich uns mithin schon früher aus der Pillfung
Ueberliefemngen über die Anwesenheit des Petms in Rom
gab, das bestätigt sich, wenn wir die Möglichkeit derselt
näher untersuchen: er kann weder vor Paulus, noch mit ih
noch nach ihm dorthin gekommen sein, er ist also überhau
nicht dort gewesen, und die Berichte, die ihn nach Rom koi
men lassen, liefern uns — so weit sich irgend nach historisch
Wahrscheinlichkeit urtheilen lässt — keine Geschichte, so
dem eine durchaus ungeschichtliche Sage.
als römischem Bischof. 243
Wir besitzen aber ausser den bisher besprochenen auch
noch ein weiteres Zeugniss, aus dem klar hervorgeht, dass
um das Ende des ersten Jahrhundei*ts in Rom von dem römi-
schen Aufenthalt und Mäi-tyrertod des Petms noch nichts be-
kannt war. Unter den Schriften der sogenannten „apostoli-
schen Väter" befindet sich ein Schreiben, welches die römische
Christengemeinde an die korinthische richtete, um bei Streitig-
keiten, die in der letzteren ausgebrochen waren, zum Frieden
zu mahnen. Als der Verfasser dieses Schreibens wird seit
Dionys von Korinth und Irenäus jener Clemens genannt,
welcher in der späteren, auf die Simonssage bezüglichen Lite-
ratur eine so gi'osse Rolle spielt, und welcher schon zur Zeit
des Irenäus für den dritten , andern sogar für den zweiten .
Bischof der römischen Gemeinde nach Petms galt. Sein Tod
fällt nach Eusebius in das dritte Jahr Trajan's; er ist aber
in der Wirklichkeit noch sechs Jahre früher zu setzen, da
unser Clemens ohne Zweifel von dem Titus Flavius Clemens
nicht verschieden ist, der nach Dio Cassius und Sueton mit dem
flavischen Kaiserhause verwandt und mit einer Enkeltochter
Vespasian's veimählt war, trotzdem aber unmittelbar nach
seinem Consulat, 96 n. Chr., auf Befehl Domitian's unter der
Anklage des Atheismus, der stehenden Anschuldigung gegen
die Christen, mit anderen „zu den jüdischen Gebräuchen (d. h.
in diesem Falle zum christlichen Messiasglauben) Uebergetre-
tenen" hingerichtet wurde. Nun steht es fi-eilich nicht sichei-,
dass jenes Sendschreiben an die korinthische Gemeinde wirk-
• lieh von Clemens verfasst wurde } aber doch spricht alles für
die Annahme , es sei ein achtes Schreiben der römischen Ge-
meinde, und wenn es auch nicht von Clemens herrührt, kann
es doch kaum später, als unmittelbar nach seinem und Do-
Dtttian's Tod, also etwa 97 n. Chr., verfasst sein. In diesem
Sendschreiben wird nun den Korinthern unter anderem zu be-
denken gegeben, was für verderbliche Wirkungen der Streit
^on jeher gehabt-, wie er von Anfang an zur Verfolgung und
Misshandlung der Frommen geführt habe, und nachdem diess
^ der Hand verschiedener alttestamentlicher Erzählungen
16*
244 Die Sage von Petrus
nachgewiesen ist, fährt der Verfasser K. 5 fort: „Um aber
die Beispiele aus der Vorzeit nicht weiter zu verfolgen, wollen
wir uns den Glaubenskämpfern aus der nächsten Vergangen-
heit zuwenden, wir wollen die erhabenen Vorbilder unserer
Zeit in's Auge fassen. Der Streit und Neid hat es bewirkt,
dass die grössten und frömmsten Säulen der Kirche verfolgt
wurden und bis zum Tode zu kämpfen hatten, Stellen wir
uns die trefflichen Apostel vor Augen. Petms hat um des
ungerechten Streites willen nicht blos eine oder zwei, sondern
vielfache Mühen erduldet^ und ist so als Glaubenszeuge in
den wohlverdienten Ort der Hen-lichkeit eingegangen. Um
des Streites willen musste auch Paulus um den Preis des
Ausharrens ringen, wurde er siebenmal in Ketten gelegt, aus-
getrieben, gesteinigt. Ein Herold der Wahrheit im Osten und
im Westen, hat er den heiTlichen Ruhm seines Glaubens ge-
wonnen, und nachdem er die ganze Welt in der Gerechtigkeit
unterwiesen, das Ziel seines Laufes im Westen erreicht und
vor den Regierenden Zeugniss abgelegt hatte, ist er so aus
der Welt geschieden und als das grösste Muster der Glaubens-
festigkeit in den heiligen Ort eingegangen.** Beim Lesen
dieser merkwürdigen Stelle fällt sofort der Untei-schied in den
Aeussemngen über Petrus und über Paulus in's Auge, Von
jenem erhellt aus ihr nicht einmal das mit Bestimmtheit,
dass er um seines Bekenntnisses willen getödtet worden ist;
denn als Glaubenszeuge (oder mit giiechischem Ausdrack: ali
Martyr) konnte er nach dem Sprachgebrauch jener Zeit nicb
blos dann bezeichnet werden, wenn er aus diesem Grund
das Leben verloren, sondern auch wenn er andere empfind — ■
liehe Uebel, Misshandlung, Gefängniss oder Verbannung, er — ■
duldet hatte. Noch weniger steht hier ein Wort davon, das^
Petnis i n R m Märtyrer geworden oder überhaupt nach Roin
gekommen sei. Er wird wohl neben Paulus als der hervor —
ragendste unter den Aposteln genannt; aber diess war e^M
allem nach wirklich, und er konnte auch in solchen Gemeim^—
den dafür gelten, die sein Fuss nie betreten hatte; war j ^>
doch z. B. in Korinth (nach 1 Kor. 1, 12) noch zu Paulu
^;.
als römiscilem Biscliof. 245
Lebzeiten sogar eine eigene Partei, die lieber nach Petrns, als
nach jenem, genannt sein wollte. Dagegen heisst es von Pau-
lus, er habe nicht allein im Osten, sondern auch im Westen
das Evangelium verkündigt, er habe hier ds^ Ziel seines Lau-
fes en-eicht (oder ganz wörtlich: er sei „an das Ziel, des
Westens", d. h. in den Westen, als sein Ziel, gekommen), er
habe vor den Regierenden, dem römischen Kaiser und seiner
Umgebung, Zeugniss abgelegt. Vergleicht man diese beiden
Aussagen, so muss man fragen: Wenn Petrus doch gleichfalls
nach der Annahme des Verfassers in den Westen gekommen
war, wenn er gleichfalls die ganze Welt im Christenthum
untenichtet und in Rom seinen Glauben vor dem Kaiser mit
seinem Blute besigelt hatte: warum wird diess alles nur von
Paulus ausgesagt, bei Petrus dagegen mit keinem Wort an-
gedeutet? Warum sagte der Verfasser nicht, wie jeder Spätere,
auf dem Boden der kirchlichen Ueberlieferung Stehende un-
fehlbar gesagt hätte: die zwei gi*össten der Apostel haben im
Morgen- und Abendland unter vielfachen Mühseligkeiten ge-
wirkt und seien schliesslich in Rom in gemeinsamem Märtyrer-
tode der Verfolgung zum Opfer gefallen? (wobei das, was
etwa von Paulus noch besonders hervorgehoben werden sollte,
seine siebenmalige Einkerkerung u. s. w., sich immerhin auch
hätte anbringen lassen). Man wird nur antworten können,
dass er es desshalb nicht gesagt habe, weil er noch nichts
dayon wusste. Wenn aber dieses, so ist die ebenbesprochene
Stelle aus dem Sendschreiben der römischen Gemeinde ein
durchschlagender Beweis dafür, dass dieser Gemeinde bis zum
^de des ersten Jahrhunderts von einer Anwesenheit des
'^^trus in Rom und von seiner hier erfolgten Hinrichtung
'^cht das geringste bekannt war.*)
Die Sache liegt demnach so. Dass Petrus nach Rom ge-
^Oönnen sei, dass er hier gelehrt habe und als Märtyrer sei-
^^ Glaubens umgekommen sei, diess wird zuerst in der Le-
S^^ude von seinen Kämpfen mit dem Zauberer Simon behauptet.
') Weiteres hieraberinHilgenfeld's Zeitschr. f. w. Theol. XIX. 46 ff.
246 ^ie Sage von Petrus
Diese Legende lässt sich in ihrer urspiünglichen , antipai
sehen Gestalt bis gegen den Anfang des zweiten Jahrhun(
hinauf verfolgen; von ihrer petropaulinischen Umbildung ;
sich um 130—140 die erste Spur, und seit dem letzten ]
theil des zweiten Jahrhunderts tvird sie in dieser Fass
unter mancherlei Abweichungen im einzelnen, von der k[
lischen Kirche allgemein angenommen. Aber die ebjoniti
Simonslegende ist eine greifbare Tendenzdichtung der a
teuerlichsten Art, die katholische, in Anlage und Ausfüh
nicht minder abenteuerlich, eine blosse Umbildung der erste
und wenn jene mit dreister Verhöhnung der geschieh tli
Wahrheit den Paulus als falschen Apostel von Petnis bis
Rom verfolgt und hier besiegt werden lässt, so behauptet <
nicht minder ungeschichtlich; Petms sei zugleich mit Paulus
noch von ihm dorthin gekommen. Die urkundlichsten Geschii
quellen aus dem ersten Jahrhundert und der ersten H
des zweiten stellen es vielmehr ausser Zweifel, dass er w
vor Paulus, noch mit ihm, noch nach ihm in Rom gei«
sein kann, dass man in der Ghiistengemeinde dieser Stad
zum Ende des ei^sten Jahrhunderts von seiner Anwesei
in derselben nichts gewusst hat, dass die Verfasser dei
ächten paulinischen Briefe aus der Gefangenschaft so wenig
der der Apostelgeschichte, daran geglaubt haben. Diese g
Ueberlieferung entbehrt mit Einem Wort aller und jeder
sächlichen Begiündung. Aus einer ebjonitischen Parte:
entspmngen, ist sie bei der Vereinigung der römischen Jv
Christen mit den Paulinem dem Interesse dieser Vereinig
dem katholisch-kirchlichen Interesse, und zugleich schon
mals dem der römischen Gemeinde und ihrer Bischöfe, di(
bar gemacht worden. In der Folge haben diese die weitgeh
sten Folgemngen , die schrankenlosesten Anspiüche di
gegiiindet; keine Anmassung war so unerhört, keine Se
überhebung so verwegen, dass nicht die römische Biscl
würde des Petrus den Rechtsvorwand dafür hätte herg(
müssen. Diese Sage eröffnet so nicht allein die lange B
jener Geschichtsfälschungen, welche der päpstlichen Weltl
als römischem Bischof. 247
Schaft zum Baugeillste gedient haben , sondern sie ist auch
der Kern, an den alle anderen anschössen, der eigentliche
Grundmythus der römischen Kirche. Aber ein Mythus ist sie,
und zwar ein reiner Mythus, ohne jede geschichtliche Unter-
lage , von der Parteisucht ersonnen, von der Unwissenheit ge-
glaubt, von der hierarchischen Politik aufs beispielloseste aus-
gebeutet. So wenig es die wirklichen Gebeine des Apostel-
f&rsten sind, über denen die stolzen Hallen der Petei-skirche
sich wölben, ebensowenig ist es der wirkliche Petrus, dessen
Nachfolger die römischen Päpste sind, sondern es ist diess
lediglich der Petinis einer Sage, die nicht der Erinnerung an
greschichtliche Vorgänge, sondern dem Paileiinteresse ihren
Ursprung, dem Interesse der römischen Kirche und ihrer Bi-
schöfe ihre spätere Umbildung zu verdanken hat.
Das wäre nun freilich eine oberflächliche und verkehrte
Vorstellung, wenn man glaubte, jene Sage, die dem Papst-
thum so grosse Dienste geleistet hat, und von der es selbst
seine kirchliche Machtstellung herleitet, sei auch der eigentliche
^uid letzte Grund dieser Macht. Auch hier gilt vielmehr, was
^r in ähnlichen Fällen so oft wahniehmen können : Erzählun-
gen, auf denen ein Glaube seiner eigenen Meinung nach be-
^"uht, sind in Wahrheit selbst ei-st ein Produkt dieses Glau-
l>6iis ; Behauptungen, welche die Berechtigung eines Anspnichs
begründen sollen, sind urspiilnglich nur um dieses Anspruchs
^len aufgestellt und nur desshalb allgemein angenommen
forden, weil man denselben aus- andei-weitigen BeweggiUnden
zuzugestehen geneigt war. Die abendländischen Völker Hessen
sich im Mittelalter eine einheitliche kirchliche Leitung gefal-
len, weil sie dieser Leitung bedurften, und sie Hessen sich die
i^ömisehe Suprematie gefallen, weil die Gunst der Verhältnisse
^d die kluge und kräftige Benutzung dieser Verhältnisse der
^^ömischen Gemeinde und den römischen Bischöfen schon längst
einen beherrschenden Einfluss vei-schafft hatten. Wenn diese
Kirche selbst ihre Stellung nicht von jenen geschichtlichen
Verhältnissen, sondern von einem rein kirchlichen Voi-zug her-
leiten wollte, wenn sie dieselbe darauf giUndete, dass die her-
248 I^ie Sage von Petrus.
vorragendsten unter den Aposteln, und in erster Reihe dei
Apostelfurst Petms, ihre Stifter gewesen seien, so zeigt diess
nur, wie frühe sie ihrer Bedeutung sich bewusst wurde, wie
geschickt sie alles, was dei*selben zugute kommen konnte, füi
sich zu verwenden wusste. Ihrer ursprünglichen Abzweckung
nach hatte die ebjonitische Dichtung, welche den Petrus in Ver-
folgung des Zauberers Simon nach Rom kommen liess, nicht die
Absicht, für die römische Gemeinde und ihre Vorsteher, als
Nachfolger des Petms, einen Primat über die Kirche in An-
spruch zu nehmen; denn als den eigentlichen Mittelpunkt dei
letzteren betrachteten jene alten Judenchristen, aus derer
Mitte die Simonssage hervorgieng , nicht Rom , sondern Jeru-
salem , als ihren obersten Bischof nicht Petrus , sondern Jako-
bus, den Bmder des Herrn, den Vorsteher der jemsalemiti-
schen Gemeinde, und es wird desshalb in einem angeblichen
Briefe des Petnis, welcher einer von den ältesten ebjonitischeu
Bearbeitungen der Simonsfabel angehörte, Jakobus von Petnis
als sein „Herr und Bischof" angeredet. Die Legende vor
Simon und Petrus sollte vielmehr ursprünglich, wie schon obei
bemerkt wurde, nur dazu dienen, die römische Christengemeinde
für das Judenchristenthum in Anspmch zu nehmen, inder
Petrus als ihr Stifter, die judaistische Lehre als ihr Bekennt
niss, Paulus dagegen, unter dem Namen des Magiei*s, als eL
falscher Apostel, der Paulinismus als eine In-lehre dargesteL
wurde. Als aber bei der Verechmelzung der beiden Parteien
der judenchristlichen und der paulinischen , die Simonssage i
ihrer älteren, ebjonitischeu Gestalt sich nicht länger festhält-^
liess, da erkannte man in Rom sofort, welche Dienste di^
Sage unter den veränderten Verhältnissen leisten konnte: s
wurde nicht einfach beseitigt, sondern nur im katholisclÄ4
Sinn und Interesse umgebildet; Paulus wurde von seine
Doppelgänger, dem Magier Simon, losgetrennt und dem PetiiJ
als ,sein Gehülfe in der Bestreitung des Zauberera zur Seife
gestellt, und es wurde so dieselbe Erzählung, welche ursprüng-
lich eine Kriegserklärung des extremen Ebjonitismus an den
Paulinismus gewesen war, in eine Urkunde des Fiiedens und
als römischem Bischof. 249
der Freundschaft zwischen beiden verwandelt. Wenn der
Ebjonitismus behauptet hatte, nicht Paulus, sondern Petrus sei
der Apostel der Römer, so liess man sich dieses auf kirch-
licher Seite gern gefallen, aber jenes gab man nicht zu;
statt: „Petrus, nicht Paulus", sagte man: „Petms und Pau-
lus", räumte aber dabei den gegnerischen Anspiüchen doch
immerhin so viel ein , dass Paulus den Euhm des Römer-
apostels mit seinem Genossen, der diess in Wirklichkeit nicht
war, nicht nur theilen musste, sondern auch gegen denselben
entschieden zurückgesetzt, in die zweite Stelle heruntergedrückt
wurde. Dafür wurde aber nicht allein für die Vereinigung
dex Hauptparteien eine annehmbare Giiindlage, sondern auch
ftlx- die römische Kirche der unschätzbare Vorzug gewonnen,
la£S die beiderseitigen höchsten Auktoritäten, der Juden- und
lex Heidenapostel , zu ihrer Stiftung brüderlich zusammen-
ge\virkt haben sollten; die Hauptstadt des römischen Reichs
wixrde zugleich für die kirchliche Meti-opole desselben, für die
einzige apostolische Gemeinde des Abendlandes erklärt, bei
welcher kraft dieses ihres Ursprungs die reine apostolische
L«elire mit voller Sicherheit zu finden sei: die Formel fllr den
A^nspruch auf den Primat in der Kirche war gefunden.
Dieser Anspruch ist später auf die äusi^erste Spitze ge-
trieben worden; alle die VoiTOchte und Vorzüge, welche das
kirchliche Alterthum der römischen Gemeinde zuerkannt
hatte, sind auf die Person des römischen Bischofs übertragen
^d beschränkt, und es sind daraus so weitgreifende und
^asslose Forderungen abgeleitet worden, wie sie in den ersten
Jahrhunderten der christlichen Kirche niemand zu erheben,
^ind noch viel weniger einem anderen zuzugestehen, sich auch
^Tir im Traum hätte einfallen lassen. In demselben Mass aber,
^e die römische Hegemonie von der Gemeinde auf ihren Bi-
schof übergieng, trat auch in der Sage über die Stiftung jener
Gemeinde, und mehr noch in der Benützung dieser Sage, das
Interesse der kii-chlichen AUeinheiTSchaft stärker hervor.
^A Imiäus verweist die Häretiker auf die Ueberlieferung der
^d| tönüschen Kirche, als der „gi-össten und ältesten und allge-
250 I^iß Sage von Petrus
mein bekannten", welche „voll den zwei voniehmsten Apostel
Petrus und Paulus, gestiftet", und in welcher die apostoliscl
Ueberlieferung von Männem aus der ganzen Christenheit b*
wahrt worden sei, weil hier, in der Hauptstadt (diess nämli<
ist die Meinung der vielbesprochenen Worte), Gläubige ai
der ganzen Welt zusammenkommen. TertuUian preist s
glücklich, dass „die Apostel" über sie ihre Lehre mit ihre
Blut ausgegossen haben. Nach den apostolischen Constituti
nen wäre der ei*ste römische Bischof (Linus) von Paulus, er
der zweite (Clemens) von Petras eingesetzt worden. Li d-
späteren Ueberlieferung dagegen tritt der Antheil des Pauli
an der Stiftung der Gemeinde, die in ihm zwar auch nie
ihren ersten BegiMlnder, aber doch wenigstens den einzigen i
ihr thätigen Apostel zu verehren hatte, immer mehr zurüc
und nicht als Nachfolger des Petras und Paulus, sende:
lediglich als Nachfolger des Petras nehmen die Päpste d
geistliche Weltheri-schaft für sich in Ansprach. Jene mona
chische Verfassung, die in der römischen Kirche durchgesat
und für die ganze Christenheit gefordert wurde, wird als s
gebliche Thatsache in den Anfang ihrer Geschichte zuillc
verlegt ; der grosse Heidenapostel , welcher dem Petrus u:
den Jerasalemiten so mannhaft widerstand, welcher über eiii<
Petras, Jakobus und Johannes so rand schmbt: „wer sie ii
mer waren, ist mir gleichgültig", wird zum dienenden Brad<
seines Mitapostels herabgesetzt, und an der grossen That se
nes Lebens, an der Ausbreitung des Christenthums bis in d:
Hauptstadt der heidnischen Welt, wird dem „Apostel der Be
schneidung" der Löwentheil zugewiesen.
Die Bischöfe , welche sich Nachfolger des Petrus nennei
haben die Stellung, die sie daher für sich ableiten, aufs rttcb
sichtsloseste auszubeuten, in ihre verwegensten Consequenze
zu verfolgen gewusst Aus Nachfolgern des Petras sind sie a
Stellvertretern Gottes und Christi geworden; und wie eins
in dem alten Frankenreich die Könige ihren Hausmaiera gegen
über zu Schatten herabsanken, so sind auch hier schliesslicj
diejenigen, deren Stelle die Päpste vertreten wollten, übe
als römischem Bischof.
251
ihren Stellvertreteni fast vergessen worden. Die Nachfolger des
Petiiis hatten sich statt des Apostels den Zauberer zum Vor-
bild gewählt, den ihm die Sage zum Gegner gibt; und Jahr-
hunderte lang war es ihnen wirklich gelungen: wie der Ma-
gier von seinen Dämonen, so hatten sie sich von den finsteren
Greistem der Unwissenheit, des Aberglaubens und des Fanatis-
mus zu einer schwindelnden Höhe emportragen lassen. Im
sechzehnten Jahrhundert endete der ikarische Flug mit einem
jähen und schmählichen Sturae. Unseren Tagen war es vor-
behalten, ihn aufs neue und in der vermessensten Weise wie-
derholen zu sehen. Aber der männliche Geist germanischer
Freiheit, welcher damals die Dämonen beschworen hat, wird
auch jetzt dazu kräftig genug sein; und so mag denn schliess-
lich die alte Sage von Simon und Petnis, auf welche das
Papstthum seine masslosesten Ansprüche aufgebaut hat, ihm
selbst zum Wahrzeichen des Schicksals dienen, dem jeder un-
fehlbar anheimfällt, wenn er einen Thuim in den Himmel
binaufffthren will, dessen sittliche Gmndlagen längst unterhöhlt,
dessen geistige Stützen durch und durch morsch sind.
ner
I
VIL
Der Process Galilei's.
(1876.)*)
Die Geschichte führt uns zahllose Fälle vor Augen, in
denen die freie Foi-schung im Namen der Religion unterdrttckt
oder beschränkt wurde, Einzelne und ganze Schulen wegen
ihrer wissenschaftlichen Ansichten oft bis aufs äussei^ste ver-
folgt wurden. Nur ein Glied in dieser langen Reihe wissen-
schaftlicher Martyrien bildet der Process Galilei's; und er
steht zudem an spannenden Momenten, an plastischer Gi'eif-
barkeit der Konflikte, an Kraft und Grösse der handelnden
Personen, an erschüttenider Gewaltsamkeit des Ausgangs hinter
vielen ähnlichen Vorgängen zurück. Der Held dieser Tragödie
ist keiner von jenen gross angelegten reformatorischen Cha-
rakteren, die einer weltgeschichtlichen Aufgabe in unbedingter
Hingebung dienen , die ihren Weg gerade aus , nicht rechts
noch links blickend, mit rücksichtsloser Entschlossenheit ver-
folgen, die Hindernisse niederwerfen oder an ihnen zerschellen;
sondern bei aller seiner wissenschaftlichen Grösse liegen ihm
doch von Anfang an gewisse Rücksichten gegen die Macht, die
sich seiner Foi-schung in den Weg stellt, im Blute; und als
sich die Unverträglichkeit der beiderseitigen Ansprüche immer
*) Aus der „Deutschen Rundschau" 1876, Oktoberheft. Zugleich An-
zeige der Schrift: „Galileo Galilei und die römische Curie. Nach den
authentischen Quellen von Karl von Gebier." Stuttg. 1876.
Der Process Galilei's. • 253
klarer herausstellt, fühi-t ihn diese Erfahrung nicht zui* ener-
gischen Befreiung von jenen Rücksichten, sondern er lässt sich
einschüchteiTi , sucht sich hinter zweideutige Wendungen zu
vei-stecken, und kann sich am Ende, wie diess nicht andei*s
zu erwarten war, da die Ausflüchte nicht länger vorhalten,
einer entwürdigenden Verläugnung seiner üeberzeugung nicht
entziehen. Auf der anderen Seite haben wir aber auch bei
seinen Verfolgern zwar die volle Bösartigkeit, aber nicht die
imponirende Kraft, die stüimische Leidenschaftlichkeit des
religiösen Fanatismus ; gerade die mächtigsten unter denselben
machen vielmehr den Eindruck, dass sie ihres eigenen Stand-
punkts nicht mehr recht sicher seien , dass ihnen der Glaube
an sich selbst und ihre Sache, das einzige, was uns mit der
Unduldsamkeit des Fanatikei*s einigermassen versöhnen kann,
fehle, dass auch sie dem Konflikt, dessen Gefahr und Schande
sie ahnen, gern aus dem Wege giengen, wenn sie es mit ihrer
Stellung und ihrem Interesse zu vereinigen wüssten. Es ist
so Halbheit da und dort, und dem entspricht auch der schliess-
liche Ausgang. Auf Galilei's Seite ist nur ein halbes Marty-
rium ,^ auf Seite der Kirchengewalt ein halber Sieg: eine per-
sönliche Misshandlung, keine Vernichtung des Gegnei-s, ein
Protest gegen wissenschaftliche Ansichten, bei dem man sich
Aber doch die Möglichkeit nicht abschneidet, ihn auch wieder
^en zu lassen, wenn sich diess als nothwendig herausstellen
sollte, wie es ja auch bald genug der Fall war. Aber trotz
Alledem hat das Schicksal Galilei's für uns ein ganz eigen-
thümliches Interesse. Fehlt es auch dem Konflikt, aus dem
6s hervorgieng, an der unmittelbaren tragischen Gewalt, mit
der uns der Zusammenstoss geschichtlicher Mächte in manchen
^em ähnlichen Fällen ergi-eift, so hat es dafür keinen ge-
ringen Reiz für den Psychologen, die Mischung vei-schieden-
srüger Elemente und widersprechender Motive in dem Ver-
kdten Galilei's wie in dem seiner Gegner zu zergliedern, und
*en80 fttr den Historiker, den Ursachen nachzugehen, welche
den Freunden des Alten wie denen des Neuen unter den da-
maligen Verhältnissen die rücksichtslose Durchfühi*ung ihres
254 * ^er Process Galilers.
Standpunktes erschwerten. Stehen sich ferner die kämpfend«
Parteien nicht mit voller giiindsätzlicher Entschiedenhc
gegenüber, so tritt dafür der Gegensatz der streitenden Prii
cipien nur um so klarer an den Tag. Wir sehen auf d
einen Seite einen Gelehrten, dem jede Feindschaft gegen seil
Kirche, jede Absicht eines AngriflFs auf ihre religiöse ui
dogmatische Auktorität ferne liegt; auf der andern ein(
Papst, der fllr seine Person weder von Fanatismus, noch au
nur überhaupt von ernsteren religiösen Antrieben beseelt ii
dem an sich ohne Zweifel sehr wenig daran gelegen wäre, <
sich die Erde um die Sonne bewege oder die Sonne um d
Erde. Wir können nicht annehmen, dass der eine oder d
andere den Kampf gesucht habe; aber er kam von selbs
und nachdem er einmal da war, gab es kein Mittel, ihn a
ders aus der Welt zu schaffen als durch die Unterwerfung d
einen der streitenden Theile — eine Unterwerfung, welc"
zuei"st dem Gelehrten von der brutalen Gewalt der Inquisitic
nach wenigen Jahrzehenden aber der Kirche von der foi
schreitenden Zeitbildung abgepresst wurde. Man sieht dei
lieh: es handelt sich hier um einen scharf und bestimmt av
geprägten sachlichen Gegensatz, um gmndsätzlich unverei
bare Standpunkte; und dadurch erhält der Process Galile
etwas Typisches, eine Bedeutung, die über sein persönlich
und selbst über sein unmittelbar geschichtliches Interesse hii
ausgeht; er bringt uns jenen Gegensatz der wissenschaftliche
Forschung und des Auktoritätsglaubens, der priesterlichen Be
vormundung und des eigenen Nachdenkens in mustergültige
Weise zur Anschauung, der mit dem wissenschaftlichen Denkei
begonnen hat und nur mit dem Auktoritätsglauben selbst aui
hören könnte. Er bringt ihn uns aber zugleich auf einen
Boden zur Anschauung, auf dem unser eigenes geistiges Lebe:
sich bewegt; wir stehen ihm nicht so unbetheiligt gegenübei
wie etwa der Vemrtheilung des Sokrates oder der Anklag
gegen Anaxagoras; sondern die Mächte, die sich hier b<
kämpfen, sind dieselben, die auch heute noch mit einand<
im Streit liegen, wenn auch die Gestalt und die nächste
Der Process Galilei's. 255
Objekte dieses Streites sich geändert haben, und die Frage,
wer als Sieger aus demselben hervoi-gehen werde, jetzt nicht
mehr so unentschieden ist, wie sie es damals war, als Galilei
vor den Richtern der heiligen Inquisition abschwören musste,
was heute kein Papst und kein Inquisitor mehr bezweifelt.
Je vielseitiger und tiefer nun das Interesse ist, welches
sich an den vorliegenden Gegenstand knüpft, um so willkom-
mener wird uns ein Werk sein müssen, das denselben so ein-
gehend und sorgfältig behandelt, wie diess Herr v. Gebier
geihan hat. Die Vorgänge, von denen unser Urtheil üb'er das
Inqnisitionsverfahren gegen Galilei und über sein eigenes Ver-
halten dabei abhängt, werden hier auf Ginind eines umfassen-
den Quellenstudiums mit musterhafter Genauigkeit und Ob-
jektivität dargestellt ; und wenn der Verfasser sein Uitheil
über Pei-sonen und Standpunkte nur mit Vorsicht und Zuilick-
haltung ausspricht, wird doch jedem , der dazu im Stande ist,
ftr die Bildung des seinigen ein vortreffliches Material ge-
liefert. Geschrieben ist das Werk, der Vorrede zufolge, in
Meran ; und ich freute mich schon, dass wir gerade dem Lande
der Glaubenseinheit diese tüchtige Arbeit zu verdanken haben,
deren streng sachliche Haltung von dem sonst dort üblichen
Tone so vortheilhaft absticht , als ich erfuhr , dass der Ver-
fasser zwar zur Zeit in Meran wohnt, selbst aber kein Tyroler
ist, sondern ein Wiener.
Galilei's Leben fällt in eine Zeit, in welcher die freiheit-
liche Bewegung, die auch in Italien in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts die - edelsten Geister ergriffen hatte , schon
längst in entschiedenem Rückgang begriffen war. Es war der
Todestag Michel Angelo's, der 18. Februar 1564, an dem ei*
zu Pisa das Licht der Welt erblickte ; so dass Ein und der-
selbe Tag Florenz, dem Galilei's Familie angehörte, seinen
grössten Künstler geraubt und seinen grössten Naturforscher
geschenkt hat. Die Anfänge einer religiösen Reformation
waren damals in Italien durch die Inquisitoren Paul's IV. be-
reits mit Stumpf und Stiel ausgerottet ; in dem neugegründeten
Jesuitenorden hatte die Kirchengewalt eine vortrefflich dis-
256 ^er Process Galilei's.
ciplinii-te, mit unvergleichlicher Schlauheit geleitete schla
fertige Armee zur Veiftlgung, welche die Unterdrückung jec
Widerspruchs gegen die päpstliche Auktoritat ebensogut ;
ihre Lebensaufgabe betrachtete, wie die Wiedergewinnung (
Ketzer ; und soeben hatte die Kirchenversammlung von Tri<
die Krönung des Gebäudes vollendet, in welchem die Gll
bigen foitan vor aller Ansteckung durch Ketzerei , vor jec
Auflehnung gegen die Kirchengewalt streng und soi*gfältig 1
hütet werden sollten, in dem ihnen aber zugleich durch ei
Reihe wirklicher Verbessei-ungen , so weit solche ohne ei
tiefergehende Reform möglich waren, im Vergleich mit d
letzten Jahrhunderten vor der Reformation viel geordnete
und befiiedigendere Zustände geboten wui-deh. Das Pap
thum und seine Hierarchie begann sich auf dem neubefestigi
Boden wieder behaglich einzurichten; und während das a
fälligste Aergeraiss früherer Zeiten veimieden, die schreiei
sten Missbräuche theils abgestellt, theils wenigstens beschräi
wurden , der äussere Anstand im allgemeinen gewahrt bli<
verlor man die Gegner, welche die päpstliche Machtstellu
bedrohten, keinen Augenblick aus dem Gesicht. Nach auss
wui*de mit allen Mitteln der List und der Gewalt an c
Unterwerfung der abgefallenen Kirchen gearbeitet; im Inne
zeigten die Scheiterhaufen eines GiordanoBruno und V
nini, wessen sich die zu versehen haben, die veimessen gen
wären, dem Dogma der Kirche eine eigene Meinung, den I
fehlen der Kirchengewalt einen eigenen Willen entgegenzusetz«
Ungezählte Opfer fielen der Inquisition ; noch zahlreichere u
für das geistige Leben der Völker noch empfindlichere di
jesuitischen Unterrichts- und Erziehungssystem, welches
den römisch-katholischen Ländern mit immer steigendem I
folg darauf ausgieng, den Willen und das Denken, vor alh
in den leitenden Theilen der Gesellschaft, von Jugend an d
Zwecken der Hierarchie entsprechend zu formen, das Prin(
der Refonnation selbst, den Gmndsatz der sittlichen, religiös
und intellektuellen Selbstbestimmung, in den Dienst der Gegc
refonnation zu ziehen, die Völker und die Regieningen so W"
Der Process GaJilei's. 257
zu biingen, dass sie sich mit vermeintlicher Freiheit der
Knechtschaft fügten. So kam es denn bald genug dahin, dass
nicht blos keine Theologie, sondem auch keine Philosophie
mehr gelehrt werden durfte, die von den mittelalterlichen
Auktoritäten und der kirchlich approbirten Auffassung dieser
Auktoritäten abwich; dass auch die Natur- und Geschichts-
foi*schung argwöhnisch übei-wacht, einer strengen und im ein-
zelnen, wie natürlich, oft höchst willkürlichen Censur unter-
worfen wurde. Aber die Kirche wollte desshalb doch, nicht
allein auf den Schein der Wissenschaft, sondem auch auf die
Wissenschaft selbst, nicht vemchten: theils weil sie die Un-
entbehrlichkeit derselben für ihre eigenen Zwecke einsah,
theils aber auch, weil die massgebenden kirchlichen Kreise
von den wissenschaftlichen Interessen der Zeit selbst zu tief
berührt waren, um sich ihrem Einfluss ganz entziehen zu können.
So wenig daher die Kirchengewalt eine freie Forschung zu
dulden vermochte, so wenig konnte sie ihr doch mit der vollen
^Entschiedenheit ihres Princips entgegentreten ; anderei-seits aber
waren auch die Vertreter der Wissenschaft innerhalb der ka-
tholischen Kirche mit wenigen Ausnahmen theils durch äussere
Rücksichten, theils durch die anerzogene Verehmng der kirch-
Uchen Auktorität zu vielfach gebunden , um sich ihr durchaus
unabhängig gegenüberzustellen.
Diese Zustände muss man sich vergegenwärtigen, wenn
n^an das Verhältniss Galilei's zu der Kiixhe seiner Zeit ver-
stehen will. So tief der innere Gegensatz seiner naturwissen-
schaftlichen Weltbetrachtung und der kirchlichen Dogmatik
^ sich selbst war, so entwickelte er sich doch nur allmählich,
^ter vorsichtiger Zurückhaltung von beiden Seiten, zum form-
ten Kampfe. Nachdem es Galilei von seinem Vater mit
Mühe erreicht hatte, dass er statt der gewerblichen die ge-
läurte Laufbahn einschlagen und dann von der Mediciu zu
don Naturwissenschaften übergehen durfte , hatte er schon
frohe durch hervon*agende Leistungen die Blicke auf sich ge-
bogen, und im Jahr 1589 eine Professur in Pisa erhalten; und
wenn ihm dieselbe auch nur auf drei Jahre übertragen war,
Zell er, Vorträge und Abhandl. 17
258 ^^ Process Gralilei's.
und durch den Neid seiner GoUegen und die Intriguen
flussreicher Feinde noch vor Ablauf dieser Zeit wieder
leidet wurde, so haben doch diese wenigen Jahre durch
Entdeckung der Fallgesetze für die Wissenschaft epo
machende Bedeutung erlangt. Im Jahr 1592 trat er als
fessor an der Universität Padua in die Dienste der Repu
Venedig. Er war damals, wie er 1597 an Kepler schr<
schon seit vielen Jahren von der Wahrheit der copernic
sehen Lehre überzeugt, die aber freilich noch längere
nicht blos von den Theologen ganz allgemein, sondern ;
von der gi'ossen Mehrzahl der Naturforscher verworfen
vei-spottet wurde, da für diese Aristoteles und Ptolemäus k
geringere Auktoritäten waren, als für jene die Kirchenväter
die Bibel. Aber so viele Beweise für das copernicani
System Galilei gesammelt hatte , so hatte er doch , wi
selbst sagt, nicht den Muth, sie öffentlich bekannt zu mac
um nicht ebenso, wie der Urheber dieses Systems, dem S
der Masse anheimzufallen. Von theologischen Bedenken
hier noch nicht die Rede; und nachdem ein Papst (Paul
die Widmung von Copemicus' Werk wohlgefällig aufgenom
hatte, nachdem dieses Werk seit einem halben Jahrhun«
im Umlauf war, ohne von einer kirchlichen Censur betro
zu werden, hätte man allerdings glauben sollen, man kö
sich zu seinen Ergebnissen bekennen, ohne desshalb \
Ketzer zu werden. Aber doch sieht man schon an di<
Aeusserung, welches Wagniss in jener Zeit das Bekennt
einer Wahrheit war, deren Bezweiflung heutzutage niem
mehr einfällt, und welche Aengstlichkeit andererseits eii
so hervorragenden Natuifoi-scher wie Galilei durch die Mi
der herrschenden Vomrtheile und die, wie es scheint, in
nem Naturell liegende Behutsamkeit aufgedrängt wurde.
Aber so vorsichtig er auch dem Zusammenstoss mit e
überlegenen Gewalt auswich: auf die Dauer Hess sich die
Zusammenstoss nicht entgehen, und seine eigenen Entdecl
gen waren es, die ihn herbeiführten. Nachdem ihn schon 1
das plötzliche Ei-scheinen und Wiedervei*schwinden eines
Der Process Galilei's. 259
stems veranlasst hatte, zum grössten Anstoss für die Aristote-
liker die Unveränderlichkeit des Himmelsgebäudes und eben-
damit der Sache nach jenen absoluten Gegensatz der himm-
lischen und der irdischen Welt zu bestreiten, der nicht allein
im aristotelischen, sondern auch im kirchlichen Lehrsystem
eine so grosse Rolle spielt, schuf er sich 1610 in dem Femrohr
das Werkzeug, welches ihm zu den folgenreichsten Entdeckun-
gen den Weg bahnen sollte. Sein erster Erfinder war er
allerdings nicht, aber auf die Nachricht hin, dass der Middel-
bui^r Optiker Hans Lipperhey ein solches Instrument
verfertigt habe, wurde es von Galilei nacherfunden und erheb-
lich verbessert, und es wurde von ihm zuerst auf die Beobach-
tung des Himmels angewendet. Mit diesem Hülfsmittel unter-
suchte er die Oberfläche des Mondes wie die Milchstrasse,
beobachtete eine Menge neuer Steine und machte noch 1610
die wichtige Entdeckung der Jupitei-strabanten , der „medi-
cdschen Sterne", wie er sie nannte. Noch ehe die Aufregung
ftber diese Entdeckungen und der Streit über ihre Richtigkeit
sich gelegt hatte, erschien der Ring des Saturn, zunächst
unter der Foim von zwei Nebensternen dieses Planeten, vor
dem bewafEheten Auge des Astronomen; und noch in dem-
selben, an neuen Aufschlüssen so reichen Jahre 1610 wurde
döi Gegnern des copernicanischen Systems durch den Nachweis,
dass die Venus in ihrer Gestalt einen ähnlichen Wechsel zeige,
wie der Mond, eines ihrer scheinbarsten Argumente entwun-
den, während bald darauf in den Sonnenflecken eine Ei*schei-
Äung aufgezeigt wurde, aus der Galilei später die Achsen-
drehung der Sonne ei-schloss.
Es ist erklärlich, wenn diese rasch aufeinander folgenden
glänzenden Entdeckungen den leidenschaftlichen Widei-spruch
ffler derer hervoiTiefen , welche ihren eigenen Ruhm duixh
dieselben verdunkelt oder das, was ihnen bisher für eine un-
^iBttStössliche Wahrheit gegolten hatte, gefährdet sahen. Und
gerade in diesem Zeitpunkt trat Galilei aus dem Dienste der
Republik aus, die ihm ihren Schutz gegen die Angiiffe der
Kirchengewalt schwerlich versagt hätte, um einem Rufe zu
17*
260 I>er Process Galilei's.
folgen, den sein früherer Schüler, der 6i*ossherzog von Tos-
cana, Gosmus IL, an ihn ergehen liess. Im Herbst 1610 ver-
liess er Padua und gieng als erster Professor der Mathematik
zu Pisa und erster Philosoph bei der Person des Grossherzogs
nach Florenz. Aber so glänzend die Stellung war, die ihm
hier geboten wurde, so unsicher war doch der Boden, auf den
er sich begab, da die Jesuiten in Florenz selbst zu Lebzeiten
des jungen 6rosshei*zogs sehr viel vermochten, und nach sei-
nem Tode (1621) die Regierung ihrem Einfluss völlig anheim-
fiel. Doch gelang es den Gegnem des gi'ossen Naturforschers
nicht so schnell, die geistlichen Gerichte gegen ihn in Be-
wegung zu setzen, und nur in der Feme sammelten sich, an-
fangs kaum sichtbar, die Wolken, welche sich schliesslich so
vernichtend über ihn entladen sollten. Als Galilei 1611 auf
Kosten seines Fürsten nach Rom reiste, um im leitenden
Mittelpunkt der Kirche den Vomrtheilen gegen seine Lehre
entgegenzutreten, deren Gefährlichkeit er sich nicht verbergen
konnte, wurde er doii; aufs ehrenvollste empfangen, und die
Gelehrten, von denen der berühmte Cardinal Bellarmin ein
Gutachten über seine astronomischen Entdeckungen einholte,
bestätigten übereinstimmend die Richtigkeit der von ihm be-
haupteten Thatsachen. Gleichzeitig warf aber freilich bereifc=i
auch die Congi-egation des heiligen Officiums ihr wachsame»
Auge auf den Neuerer, indem sie Erkundigungen darüber ein—
zog 9 ob nicht vielleicht sein Name in dem Process erwähnt;
worden sei, der eben damals gegen Gremonini (übrigens einea
von Galilei's entschiedensten Gegnern) im Gange war; und die
Peripatetiker , deren Zorn er durch folgenreiche physikalische
Entdeckungen immer neuen Nahrungsstoff zuführte, unterliessen
es nicht, die Unvereinbarkeit seiner Ansichten mit der Kir-
chenlehre und der Bibel von Zeit zu Zeit zur Sprache zu
bringen. Aber noch 1613, als er in einer Streitschrift gegen
den Jesuiten Scheiner über die Sonnenflecken sich offen flU'
die copemicanische Theorie erklärte, nahmen Cardinäle und
hohe päpstliche Beamte daran nicht blos keinen Anstoss^
Der Process Galilei's. 261
sondern sie gaben ihm zum Theil selbst ausdrücklich ihre
Beistimmung zu erkennen.
Die erste Veranlassung zu einer kirchlichen Untersuchung
gegen Galilei gab ein Schreiben des letzteren an seinen
Schüler und Freund, P. Castelli. Die bigotte Grossherzogin
Mutter von Toscana war gegen die Lehre Oalilei's als schrift-
widrig aufgehetzt worden, und Castelli hatte dieselbe, da er
von ihr befragt wurde, lebhaft vertheidigt. Als er Galilei da-
von Mittheilung machte, antwortete ihm dieser in einem Briefe,
worin er zunächst zwar die Hereinziehung der Theologie in
naturwissenschaftliche Untersuchungen entschieden missbilligte,
dann aber in Betreff der bekannten Stelle im Buch Josua aus-
einandersetzte, dass die Bibel in diesem wie in vielen anderen
FUlen bei Dingen, die das Seelenheil nichts angehen, der gewöhn-
lichen Sprach- und Denkweise folge, dass jene Stelle auch von
den Anhängern des Aristoteles und Ptolemäus nicht wörtlich ver-
standen werde, da ja der Tagesumlauf der Sonne nach ihrem
System nicht durch ihren eigenen Stillstand, sondern nur durch
den der Fixstemsphäre hätte verlängeii; werden können, dass
sich endlich selbst der Wortlaut der Stelle durch eine Hypo-
these, die bei Galilei freilich nui* ein Nothbehelf für die
Schwachen am Geiste, nicht seine wirkliche Meinung ist, mit
dem copemicanischen Sy^em in Einklang bringen lasse. Dieses
Schreiben wurde von Castelli in der besten Meinung abschrift-
Bdi verbmtet; aber die Gegner wussten es so zu verdrehen
^d so viel Gift daraus zu saugen, dass es sich zur Handhabe
ftr öffentliche Ausfälle und geheime Denunciationen gegen den
Possen Astronomen gebrauchen liess. Der Dominicaner C a c -
cini gab das Zeichen zum Kampfe mit jener berüchtigten
Capucinerpredigt, der er die Worte der Apostelgeschichte zu
^tmie legte: viri Qalilaei quid statis aspidentes in coelum
(ibr galüäischen Männer, was steht ihr da und seht gen Him-
"^)? Ein anderer Dominicaner, Lorini, übei-schickte eine
Abschrift des Briefes mit einem denunciatorischen Begleit-
B<^ben an das heilige Officium. Doch gelang es Galilei,
b^e Angriffe vorerst noch abzuschlagen. Caccini's Predigt
262 I>ei^ Process Galilei' s.
wurde durch Ignoriren unschädlich gemacht, das Original
galileischen Schreibens, nach dem die Inquisition fahnd<
nicht ausgeliefert; und als Gaccini zur Zeugenaussage n;
Rom citii*t wurde, brachte er so nachweisbare Unwahrhei
vor, dass die Inquisitoren darauf verzichteten, das Verfah
gegen Galilei, von dessen Eröffiiung bis dahin weder die
selbst noch seine hochstehenden römischen Freunde das
ringste erfahren hatten, weiter zu verfolgen.
Nichtsdestoweniger waren es diese Vorfälle, welche (
florentinischen Naturforscher in die erste unliebsame Ber
rung mit dem römischen Glaubensgericht brachten. Bei d
Aufsehen, das die Sache gemacht hatte, schien es Galilei i
seinen Freunden zweckmässig, zu den ungerechten und gefa
drohenden Angiiffen, denen er fortwährend ausgesetzt ti
nicht länger zu schweigen. In der Form eines Schreibens
die verwitwete Grossherzogin liess er eine ausführliche V
theidigung ei*scheinen, welche von den gleichen Gesichtspunk
ausgieng, wie fillher der Brief an Castelli. Aber so angelege
lieh er sich gegen die Absicht verwahrte, sich mit dies
Schreiben in einen theologischen Streit einzulassen, so c
leuchtend er nachwies, dass das eigene Interesse der Kir-
ihr verbiete, den unläugbaren Thatsachen und den unveime
liehen Schlüssen aus den Thatsachen ilfl' Veto entgegenzusetz«
so feierlich er betheuerte, dass er jeden etwaigen Irrthum
Sachen des Glaubens sofort zu berichtigen bereit sei, und cl
er sich der Entscheidung der geistlichen Oberen über •
copemicanische System unterwerfe: damit war die Thatsa<
nicht beseitigt, dass er selbst ein entschiedener Anhänger c
ses Systems war, dass er unwiderlegliche Beweise sei:
Wahrheit zu besitzen glaubte, dass er die entgegenstehenc
Schriftstellen andei's erklärfe, als sie bis dahin in der Iür<
allgemein erklärt worden waren, und dass er es offen a
sprach: der Papst habe zwar die unbedingte Gewalt, nat
wissenschaftliche Gesetze gutzuheissen oder zu verdamm
aber dass sie wahr oder falsch werden, könne kein Menf
bewirken, Galilei selbst täuschte sich nicht dai-über, d,
f
Der Process Galilei's. 263
seine Antwort die Gegner nicht zum Schweigen gebracht hatte ;
um ihren Umtrieben entgegen zu wirken, gieng er zu Ende
des Jahrs 1615 — nicht auf eine Vorladung, wie später be-
hauptet worden ist, sondern aus freien Stücken — nach Rom.
Indessen gelang ihm nur seine persönliche Rechtfertigung; da-
gegen hatten seine eifrigen Bemühungen, die entscheidenden
Persönlichkeiten und Behörden von der Wahrheit der copenii-
canischen Theorie zu überzeugen , keine Aussicht auf Erfolg.
Denn um die wissenschaftliche Wahrheit handelte es sich ja
für diese überhaupt nicht, sondeni lediglich um die Frage,
was dem Ansehen und Interesse der „Kirche", d. h. der rö-
mischen Hierarchie, am besten entspreche, und ebensosehr bei
den meisten ohne Zweifel dai-um, was sie in ihren hergebrach-
ten Voi^stellungen am wenigsten störe. Je emsiger vielmehr
Galilei seine Sache betrieb, um so misstrauischer wurden die
Kirchenbehörden. Am 24. Febiiiar 1616 wurde in einem Gut-
achten der päpstlichen Theologen die Erkläiiing abgegeben:
die Behauptung, dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt sei
und sich nicht bewege, sei nicht allein thöricht und absurd,
sondern auch formell häretisch und im ausdillcklichen Wider-
sprach mit vielen Stellen der heiligen Schiift ; die Lehre, dass
die Ei-de nicht der Mittelpunkt der Welt sei und dass sie
sich bewege, wissenschaftlich genommen ebenso absurd, sei
niindestens füi* einen Glaubensirrthum zu halten. Auf Gmnd
dieses Gutachtens wurde Cardinal Bellarmin von dem Papste
beauftragt, Galilei zu ermahnen, dass er diese Meinung ver-
lasse; sollte er sich dessen weigern, so solle ihm zu Protokoll
ßröfhet werden, dass er dieselbe bei Strafe der Einkerkei-ung
nicht lehren, vertheidigen oder besprechen dürfe. Gleichzeitig
Würde, mit einigen Schriften von Anhängern seines Systems,
auch das epochemachende Werk des Copernicus bis zur Ver-
besserung der darin enthaltenen Irrthtimer verboten. Galilei
^^m Bellarmin's Ermahnung, wie dieser selbst berichtet,
ohne Widerspruch hin , und in Folge davon beschränkte sich
der Cardinal darauf , ihm die Verordnung mitzutheilen , der-
^olge die copernicanische Lehre von der Bewegung der Erde
264 Der Process Galilei's.
nicht vertheidigt oder behauptet*) werden sollte, ohne dass
ihm doch in dieser Beziehung ein Versprechen abgenommen
oder das specielle Verbot ertheilt woi-den wäre, jene Lehi-e
in gar keiner Weise, auch nicht einmal als Hypothese, vorzu-
tragen. Eine angebliche Urkunde, welche das letztere be-
hauptet, ist, wie sogleich gezeigt werden wird, gefälscht.
Hiemit hatte die römische Curie zu der grossen astrono-
mischen Streitfrage des Jahrhunderts Stellung genommen. Die
Bewegung der Erde um die Sonne war für eine schriftwidrige
Lehre, eine fonnelle Ketzerei erklärt; sie sollte von keinem
katholischen Christen behauptet oder vertheidigt werden. Es
war einem Anhänger dieser Lehre vielleicht noch möglich,
den Buchstaben dieses Verbots auf irgend einem künstlichen
Wege zu umgehen, seine Ansicht so zu verstecken und zu
verclausuliren , dass sie ohne direkte Verletzung desselben er-
kennbar gemacht wurde ; aber es war ihm innerhalb der römi-
schen Kirche nicht mehr gestattet, sich offen zu ihr zu be-
kennen, und auch die versteckten Andeutungen konnten nur
so lange vorhalten , als es der Kirchengewalt gefiel , sie zu
ignoriren : das Schwert der kirchlichen Censui* hieng über ihm
an einem Faden, der jeden Augenblick abgerissen werden konnte.
Es galt diess in erster Reihe natürlich von dem Manne, auf
den es bei ^er ganzen Procedur vorzugsweise abgesehen ge-
wesen war, von Galilei. Er hatte für seine Person zunächst
nichts zu befürchten, wie er denn auch noch einige Monate
unangefochten in Rom blieb. Aber seiner wissenschaftlichen
Wirksamkeit war der LebensneiT unterbunden, und jeder
Versuch, diese Fessel zu lösen, konnte nui* neue und schlim-
mere Verwickelungen herbeiführen. Wenn man sieht, wie
unterwürfig er unmittelbar nach seiner Ziu'ückkunft aus Rom
in dem Zueignungsschreiben einer Abhandlung über Ebbe und
*) So nämUch, nicht mit „festhalten", noch weniger mit „flbwahrhal-
ten^, ist das tenere der lateinischen und italienischen Texte zu übersetzen.
Es handelt sich dabei nicht um die Ansicht als solche, sondern um das
Aufrechthalten derselben abweichenden Ansichten gegenüber; statt
tenere steht daher auch docere.
Der Process Galilei's. 265
Fluth die höhere Einsicht der geistlichen Oberen anerkennt,
welche ihn über die Unzulässigkeit der copeniicanischen An-
sicht belehrt habe, wie er seine festeste Ueberzeugung als
einen Traum behandelt, aus welchem die Stimme des Himmels
ihn ei*weckt habe, so kann man sich allerdings über seine spä-
tere Abschwörung weniger wundem; aber, wie auch der Ver-
fasser S. 124 bemerkt , man weiss kaum , was mehr empöi*t,
diese unwürdige Verläugnung der Wahrheit im Munde eines
80 hervoiTagenden Forachers, oder der eiserne Glaubensdespo-
tismus, der sie ihm abpresste. So viel eiToichte er aber allerdings
auf diesem Wege, dass er selbst der Curie weniger gefährlich
erschien, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre ; und als er
aus Anlass des Kometen des Jahrs 1618 in einen langwierigen
Streit mit einem Jesuiten vei*wickelt wui'de, denuncirten ihn
seine Gegner vergeblich wegen seiner meisterhaften Streit-
schrift: il Saggiatore, in der er aber freilich das copeinica-
nische System mit ausdi*ücklichen Worten verläugnet hatte,
während er es indirekt in Schutz nahm. Sechs Jahre später,
1624, wurde er bei einer Reise nach Rom in dieser Stadt,
und namentlich auch von dem neuen Papst selbst, dem stolzen
wid henischen Urban VUL, mit der grössten Auszeichnung
behandelt, und in einem Schreiben an den Grossheraog von
Toscana wusste Urban nicht allein seine wissenschaftUchen
Verdienste sondern auch seine Tugend und Frömmigkeit nicht
genug zu liihmen. Die Hoffnung freilich, dass es ihm gelingen
verde, die Zurücknahme der Decrete vom Jahr 1616 zu er-
. wken, ei-wies sich bald als eine Täuschung. Aber wurde ihm
Äßch nicht gestattet, das copemicanische System als Wahrheit
ZQ behaupten, so mochte er doch immerhin glauben, dass man
^ nicht verhindern werde , es als Hypothese , unter Angabe
^tter Gründe, der Welt voi'zulegen, wenn er nur zugleich der
^chenbehörde die letzte Entscheidung vorbehielt; und da
; ^ch allen ihm zukommenden Nachrichten die für ihn günstige
I Stimmung an höchster Stelle Bestand hatte, wagte er es
^esslich, in seinem berühmten „Dialog über die beiden
fettigsten Weltsysteme" das ihm aufgedi-ungene Stillschweigen
266 I>er Process Galilei's.
über diese Frage mit einem Werke zu brechen, welches die-
selbe nach allen Seiten so eingehend besprach, dass alle auf
sie bezüglichen Ergebnisse seiner langen und so ausserordent-
lich fruchtbarien Forscherthätigkeit zu einem Ganzen von über-
wältigender Wirkung zusammengefasst wurden.
Galilei hatte in dieser Schrift alles mögliche gethan, um
seinen Zweck ohne eine föimliche Verletzung der kirchlicheik^
Verbote zu erreichen und sich den geistlichen Behörden gegen —
über den Rücken zu decken. Er hatte ihr die Foim eine^
Gesprächs gegeben, in dem beide Theile ihre Ansichten ent —
wickeln und vei*theidigen, ohne dass es doch zur abschliessem.^
den Entscheidung käme. Er hatte aufs ausdrücklichste veir-
sichert, dass ihn zu ihrer Abfassung nur diß Absicht bewogen
habe, den Vorwurf zu widerlegen, als ob die römische Curie
ihre fi-üheren Aussprüche ohne genaue Kenntniss der Streit-
frage gethan hätte. Er hatte bereitwillig eingeräumt, dass
die Ansicht, deren Wahrheit ihm doch unzweifelhaft feststand^
vielleicht nur ein leerer Einfall sein möge. Er hatte mit einer
Resignation, mit der es ihm unmöglich Erast sein konnte, er-
klärt, die definitive Entscheidung sei weder von der Mathe-
matik noch von der Physik, sondem nur von einer „höheren
Einsicht", natürlich der des Papstes, zu ei-warten. Er hatte
sich alle Veränderungen und Zusätze, welche die geistlichen-
Censoren für gut fanden, ohne Widerrede gefallen lassen. Abex'
seiner ganzen Anlage und Tendenz nach konnte das Werk
doch nur den Eindruck der schlagendsten Vertheidigung ddS
copemicanischen Systems machen ; und diese Wirkung war raf^
so gefährlicher, da es so klar und so glänzend geschrieben^
war, dass sich jeder Gebildete aus demselben von der Wahr-*
heit dieses Systems leicht überaeugen konnte. Kann man ad»
wundem, wenn die Gegner des Astronomen die Gelegenheit^
begierig ergriffen, ihn einer üebertretung des Verbots v(ä^
Jahr 1616 anzuklagen, und wenn an entscheidender Stelle di^
Hüllen, hinter die er seine eigentliche Meinung versteckt^-»
\ie\ zu durchsichtig befunden wurden , um sich mit densdbeö
zufrieden zu geben?
Der Process GaJilei's. 267
Schon das war von übler Vorbedeutung, dass dem Er-
scheinen seines Werkes alle möglichen formellen Schwierig-
keiten in den Weg gelegt wurden. Nachdem er bereits 1630
die Druckerlaubniss für Rom erhalten hatte, dauerte es noch
fast zwei Jahi-e, bis die Dialogen in Florenz erecheinen konn-
ten, wo sie gedruckt werden mussten, weil wegen der in Flo-
renz herrschenden Pest die Grenze gesperrt war und das
Manuscript nicht nach Rom geschickt werden konnte; und so
widei-spruchslos sich der Verfasser allen den Fordeiningen ge-
fiigt hatte, an welche die Druckerlaubniss geknüpft wurde, be-
kam er schliesslich doch noch den Voi'wurf zu hören, er habe
die ihm gestellten Bedingungen verletzt. Der Erfolg des Wer-
kes war nun allerdings ein ganz durchschlagender; nur um
so grösser war aber auch die Bestüi'zung und Erbittei-ung der
Gegner, nur um so i-astloser die Thätigkeit der Jesuiten, welche
die Leitung des Angriffs in die Hand nahmen. Und ihre
Hand lässt sich auch in der Art, wie er geführt wurde, nicht
verkennen. Nicht zufrieden mit der Anklage gegen den sach-
lichen Inhalt der Gespräche, wusste man auch dem eiteln und
gegen peraönliche Verletzungen unversöhnlichen Papste die
Meinung beizubringen, mit dem Simplicius, dem Galilei die
niisslnngene Vertheidigung der peripatetischen Lehre in den
Mund gelegt hatte, feei e r gemeint, so wenig auch in Wahrheit
daran gedacht werden konnte.*) Noch viel schlimmer aber
ist es, dass zum Zweck der jetzigen Anklage gegen Galilei die
Acten der Untersuchung von 1616 von unbekannter
Hand gefälscht wurden. In diesen Acten befindet sich näm-
lich eine Aufzeichnung, der zufolge Galilei den 26. Februar
1616, nach der ihm von Bellarmin ertheilten (S. 263 1 bespro-
chenen) Ermahnung, von dem Generalcommissär der Inquisition
iiB Namen des Papstes der Befehl ertheilt worden wäre, die
*) Simplicius ist der Name eines bekannten Neuplatonikers aus der
^^Q Hälfte des 6. Jahrhunderts n. Chr. , der in seinem Commentar zu
^'istoteles* Schrift „über den Himmel^^ das astronomische System dieses
^OBoplten auseinandergesetzt hat.
268 I^er Process Galilei's.
Meinung, dass die Erde sich bewege, „gänzlich zu verlassen''
und inskünftige nicht mehr „in irgend einer Weise^, mündlich
oder schriftlich, zu lehren oder zu vertheidigen , und Galilei
diesem Befehl zu gehorchen versprochen hätte ; und diese Auf-
zeichnung bildete in dem Process des Jahrs 1633 die Grund-
lage für die Anschuldigung, dass Galilei einem ausdrücklichen
päpstlichen Befehle zuwidergehandelt, ein förmliches Ver-
sprechen gebrochen, bei der Vorlegung des Manuscripts seiner
„Gespräche" das ihm früher ertheilte Verbot verheimlicht und
dadurch die Dmckerlaubniss ei*schlichen habe. Allein jenes
angebliche Actenstück entbehrt schon in seiner äusseren Fona
jeder Beglaubigung: es trägt weder eine Unterschrift noch,
sonst eine Beurkundung irgend welcher Art, wie sie docti.
einer amtlichen Aufzeichnung unmöglich fehlen könnte; es ist;
überhaupt so beschaffen, dass man nicht begreift, wie die
Richter Galilei's in gutem Glauben ein so formloses Schrifit-
stück als eine Urkunde von unantastbarer Zuverlässigkeit
ihrem Vorgehen gegen den Angeklagten zu Gininde legen
konnten, ohne es diesem auch nur voi-zuzeigen und ihm zu
einer Erklämng daiilber Gelegenheit zu geben. Es steht ferner
in seinem Inhalt mit zwei (von dem Verfasser S. 400 und 402
mitgetheilten) unzweifelhaft echten Urkunden, dem Protokoll
der Gongregation des hdligen Officiums vom 3. März 161S
und der Erklämng Bellarmin's vom 26. Mai 1616, in einem
unauflöslichen Widei'spruch. Es ist ebenso unvereinbar mit
den Erklärungen Galilei's, der nicht nur in seinem Verhör und
seiner Vertheidigungsschiift , sondern auch in seinen Privat-
Briefen jederzeit, und unverkennbar mit voller Ueberzeugung,
behauptet hat, es sei ihm im Jahr 1616 zwar das Verbot mit-
getheilt worden, die Erdbewegung absolut, als ausgemachte
Wahrheit zu lehren, nicht aber das Verbot, sie in irgend eine
Weise, auch nicht als astronomische Hypothese, vorzutrage
und der auch nur Bellaimin, nicht den Gommissär der J
quisition, als denjenigen nennt, von dem ihm diese Eröfihv
gemacht wurde. Es ist endlich ganz undenkbar, dass i
päpstlichen Censoren, die mit Galilei's Dialogen Jabre 1
Der Process Galilei's. 269
beschäftigt waren, von dem früher an diesen ergangenen Ver-
bot, das copernicanische System „in irgend einer Weise" zu
vertheidigen , gar nichts bekannt gewesen wäre; dass unter
den vielen, in die früheren Verhandlungen über Galilei ein-
geweihten Personen, welche das Erscheinen seines Werkes zu
verhindern suchten, und welche auch wirklich an seiner Unter-
drückung das höchste Interesse hatten, nicht ein einziger an
das frühere Verbot erinneii; haben sollte, mit dem die ganze
Sache abgemacht gewesen wäre ; dass schon wenige Jahre nach
dem ihm angeblich so feierlich ertheilten Verbot von 1616, bei
den Verhandlungen über seinen Saggiatore, in dem er zum
copemicanischen System im wesentlichen die gleiche Stellung
eingenommen hatte, wie in dem Dialog, Ankläger und Richter
jenes Verbot vollständig vergessen, jene sich nicht daittuf be-
rufen, diese die Anklage trotz desselben zuiilckgewiesen haben
sollten. Es liegt vielmehr am Tage: dieses unbedingte und
si>ecielle Verbot ist an Galilei gar nie ergangen, und wenn zu-
erst Emil Wohlwill in einer Abhandlung vom Jahr 1870
den Bericht über dasselbe mit guten Gründen für eine Fäl-
schung erkläi-t hat, und Gebier ihm beistimmt, so wird jede
neue Untersuchung des Gegenstandes dieses Ergebniss nur
bestätigen können.
Im Februar 1632 war Galilei's Dialog ei-schienen. Ein
Halbjahr später wurde vom Papst eine eigene Commission zur
fttifong dieses Werkes niedergesetzt und auf den Bericht der-
selben, in dem die eben besprochene, jetzt erst „aufgefundene"
Aufeeichnung die Hauptrolle spielt , trotz der angelegentlichen
Verwendung des Gi*ossherzogs von Toscana und seines Ge-
räten, Galilei durch den Inquisitor in Florenz vor das hei-
lige Officium in Rom vorgeladen. Krank und gebrochenen
Muthes machte der neunundsechzigjährige Mann vergebliche
Anstrengungen, eine Verlegung der Untei-suchung nach Florenz
öder wenigstens einen längeren Aufschub zu erwirken; seine
flebentlichen Bitten machten ebensowenig Eindruck, als die
Vorstellungen seines Füi-sten; und um der Anwendung einer
Gewalt zu entgehen, gegen welche ihn dieser zu schützen
270 I^er Process Galilei's.
weder die Macht noch den Muth gehabt hätte, machte er sich
den 20. Januar 1633 auf den Weg. In Rom wurde er nun
zwar für einen Untei-suchungsgefangenen der Inquisition mit
ungewöhnlicher Milde behandelt: er wurde nur zweimal, im
ganzen 17 Tage, in einer anständigen Haft im Paläst des hei-
ligen Officiums zurückgehalten, die ganze übrige Zeit wohnte
er bei dem toscanischen Gesandten; in einem eigentlichen
Kerker sass er nie, und der verbreiteten Angabe, dass die
Folter gegen ihn angewandt worden sei. Hegt wahrscheinlich
nur die Thatsache zu Gmnde, dass er in seinem letzten Ver-
hör, als das Urtheil bereits feststand, unter Androhung der
Folter aufgefordert wurde, die Wahrheit zu sag^n. Aber auf
den schliesslichen Ausgang seines Processes hatte dieses keinen
Einfluss. Galilei hatte erst daran gedacht, seine Ansichtea
vor dem geistlichen Gericht mit wissenschaftlichen Gründen
zu vertheidigen ; aber der toscanische Gesandte, der sich seinex-
während dieser ganzen Zeit unermüdlich aufs wohlwollendste
annahm , rieth entschieden davon ab , und er selbst war so
jiiedergebeugt und vernichtet, dass er jeden Versuch eines
Widerstandes aufgab und seine ganze Vertheidigung nur nocli
darauf berechnete, seine Richter durch Unterwürfigkeit zu ge-
winnen und sie zu überzeugen, dass er niemals die Absicht
gehabt habe, die Lehre von der Erdbewegung anders als
hypothetisch vorzutragen. Ja er gieng hierin so weit, dass er
behauptete, vor 1616 habe er zwar das copernicanische so gut
wie das ptolemäische System für zulässig gehalten, ohne sich
für das eine oder das andere zu entscheiden; seit aber in
jenem Jahre die Weisheit seiner kirchlichen Vorgesetzten sich
für die Wahrheit des ptolemäischen ausgesprochen habe, sai
dieselbe auch ihm vollkommen gewiss und unzweifelhaft; auch
in seinen Dialogen sei er durchaus nur darauf ausgegangen,
die Beweise für die Lehre von der Erdbewegung zu wider-
legen, und da er bemerke, dass er diess dort nicht deutlich
genug gethan habe, sei er bereit, in einer Fortsetzung der-
selben den UngiTind jener falschen und von der Kirche ver-
worienen Meinung aufs nachdrücklichste darzuthun. Diese
Der Process Galilei's. 271
Unwahrheiten waren nim allerdings zu handgreiflich, um ihm
etwas zu ntltzen. Den 22. Juni 1633 wurde Galilei in der
Kirche St. Maria sopra Minerva, derselben, welche der Chri-
stus seines gi*ossen Landsmanns Michel Ängelo schmückt, vor
einer feierlichen Versammlung geistlicher Würdenträger sein
Urtheil verlesen. Es lautete im wesentlichen dahin, dass er
sich durch seine Vertheidigung der copernicanischen Lehre
der Ketzerei sehr verdächtig gemacht habe; dass ihm zwar
die übrigen Strafen, welchen er dadurch verfallen würde, unter
der Bedingung einer aufrichtigen Abschwöi-ung und Verfluchung
seiner Irrthümer erlassen werden sollen ; dass aber nicht allein
sein Buch verboten, sondern auch er selbst füi- eine nach dem
Ennessen des heiligen Officiums zu bestimmende Zeitdauer
zum Kerker verurtheilt werde und drei Jahre lang wöchent-
lich einmal die sieben Busspsalmen zu sprechen habe. Dem
ürtheU folgte die Vollstreckung anf dem Fusse. Unmittelbar
nach der Verlesung desselben musste Galilei auf den Knieen
in einer eidlichen Erklärung nicht allein bekennen, dass er
einem Verbot zuwidergehandelt habe, das nie an ihn ergangen
war, sondern er musste auch den Inthum von der Bewegung
der Erde abschwören und verfluchen, und jeden, der sich der
Ketzerei (d. h. im vorliegenden Fälle der Anhänglichkeit an
das copemicanische System) verdächtig mache, der Inquisition
zu denunciren vei-sprechen. Nach diesem moralischen Selbst-
mord wurde dann allerdings die Kerkerstrafe dahin gemildert,
dass er zuerst in der Villa des Grossherzogs von Toscana auf
Trinitä dei Monti bei Rom, dann in dem Palast seines Freun-
de, des Erzbischofs Piccolomini in Siena, und seit dem Ende
*ö8 Jahre 1633 in der Villa Arcetri bei Florenz intemii-t wurde.
Hier entstanden die letzten grossen Arbeiten, mit denen dieser
^tlose Geist von unzerstörbarer Elasticität die Wissenschaft
bereicherte. Aber er war und blieb der Gefangene der In-
Ätion. Die Bitte, nach Florenz übereiedeln zu dürfen,
^Wde dem Kranken in der härtesten Form abgeschlagen, alle
Verwendungen für seine vollständige Begnadigung waren er-
%los, und eret im Febiniar 1638, als er vollständig erblindet
272 ^^^ Process Galilei's.
und in einem so elenden körperlichen Zustand war, dass sein
Ende unmittelbar bevorzustehen schien, erhielt er die Erlaub-
niss, seine Wohnung An Florenz wieder zu beziehen, jedoch mit
dem Zusatz, dass er bei Strafe lebenslänglicher Einkerkerung
und Excommunication keinen Ausgang in die Stadt mache und
mit niemand über die Lehre von der doppelten Erdbewegung
spreche. Indessen kehrte er schon zu Ende des Jahres, wie
es scheint unfreiwillig, nach Arcetri zurück. Hier lebte er
noch volle drei Jahre. Er starb am 8. Januar 1642, in dem-
selben Jahre, in dem Newton geboren wurde. Aber selbst
den Todten gab die Macht, welche den Lebenden verfolgt
hatte, nicht frei. Nur in der Stille duifte er beigesetzt wer-
den, kein Denkstein bezeichnete sein Grab. Erst 1737 konnte
seine letztwillige Verordnung, nach der er in der Kii-che Sta.
Croce in Florenz ruhen wollte, ausgefühi-t, jetzt erst dem
gi'ossen Natuifoi-scher neben Michel Angelo und Macchiavelli
ein Denkmal gesetzt werden.
Als der Asche Galilei's diese späte Ehi'enerklämng zu
Theil wurde, war der Sieg des Systems, für das er gekämpft
und gelitten hatte, schon längst ausser Frage. Die Kirchen-
gewalt selbst, welche dieses System vor einem Jahrhundert in
dem florentinischen Naturforscher venirtheilt hatte, gab den
Widerstand dagegen auf, nachdem sich seine absolute Erfolg-
losigkeit unzweifelhaft herausgestellt hatte; wenn sie sich audi-
erst 1757 entschloss, das Decret vom 5. März 1616 aufzuheben^
und erst 1835 die Werke des Copemicus, Galilei und Keplec-
aus dem Index entfernt wurden. Für die Unfehlbarkeit de«r
Kirche und ihres Oberhauptes war freilich dieser Wechsel
ihrer Ansichten über eine Frage, der sie selbst so grosses Ge-
wicht beilegte, nicht unbedenklich; und der Umstand, das^
weder ein Papst noch ein ökumenisches Concil, sondern nvLV
die päpstlichen Theologen und die Congi-egation des heilige»
Officiums die Lehre des Copernicus formell verdammt hatten»
ist hiebei von untergeordneter Bedeutung. Es bleibt docl*
immer die Thatsache bestehen, dass dasselbe, was im 19. Jahrli-
mit ausdiücklicher päpstlicher Zustimmung für zulässig und uö-
Der Process Galilei^s. 273
anstössig erklärt ist, im 17. mit dem Yorwissen und der Ge-
nehmigung von zwei Päpsten als ketzerisch und schriftwidrig
verboten wurde. Bellaimin , der in diesen Dingen doch auch
Bescheid wusste, bezeichnet das Verbot, welches er Galilei auf
Befehl des Papstes zu eröffnen hatte, ganz einfach als „die
von unserem Herrn abgegebene und von der Congregation des
Index publicirte Erklämng" ; und nach der Verurtheilung Ga-
Ulei's, die ja nur wegen seiner Vertheidigung der eopemicani-
schen Lehre erfolgt war, wurde das Urtheil, in das die Ent-
scheidung der päpstlichen Theologen vom Jahr 1616 wörtlich
aufgenommen ist, an alle katholischen Nunciaturen Europa's
und an alle Bischöfe und Inquisitoi*en Italiens zur Publicirung
versendet. Es bedaif keines Beweises, dass dieses, vollends
unter einem Selbstherrscher, wie Urban VIIL, nur auf päpst-
lichen Befehl geschehen konnte, und dass ein solcher Befehl
ein rein amtlicher Akt war; dass daher die Ausflucht, Paul V.
und Urban VIII. hätten nur als Privatpersonen, nicht in dem
amtlichen Charakter, auf den ihre Unfehlbarkeit sich bezieht,
der Verdammung der Lehre von der Erdbewegung zugestimmt,
ganz unhaltbar ist. Aber eine unbefangene Geschichtsbetrach-
tung wird die wechselnde Stellung , welche die Kirche zu der
grossen astronomischen Streitfrage einnahm, nur natürlich
finden können. Sie hat sich den Ergebnissen der wissenschaft-
lichen Forschung gefügt, als ihr kein anderer Ausweg mehi*
öbrig blieb , aber sie hat sich möglichst lange dagegen ge-
sträubt, und sie ist ihnen offen entgegengetreten, so lange sie
sich von diesem Vorgehen einen Erfolg versprach. Von ihrem
Standpunkt aus war diess ganz folgerichtig. Galilei war frei-
lich der Meinung, das copemicanische System lasse sich mit
ier heiligen Schrift und der Kirchenlehre ohne Mühe in Ueber-
einstimmung bringen; er wusste in dem Verbot dieses Systems
^ Missvei-ständniss und Intrigue zu sehen, und glaubte fort-
wahrend, ein guter Katholik bleiben zu können, wenn er sich
"^t dem Buchstaben dieses Verbots nur irgendwie abfand,
lochte er ihm auch in der Sache noch so augenscheinlich zu-
^derhandeln. Allein diess war nur eine Täuschung ähnlicher
Zeller, Vorträge und Abhandl. 18
274 ^cr Process Galilei's.
Art, wie die unserer Altkatholiken, wenn sie meinten, ohne
einen wirklichen Bnich mit ihrer Kirche sich der Anerkennung
der vaticanischen Decrete entziehen zu können, und sich hinter
allerlei formale Einwendungen gegen die Rechtsgtiltigkeit dieser
Decrete vei*schanzten. Hätte Galilei auch materiell ganz Recht
gehabt, hätte seine Lehre in Wahrheit dem Glauben der
Kirche und den Aussprüchen der heiligen Schrift auf keinem
Punkt widersprochen, so war doch auf katholischem Stand-
punkt das schon unerlaubt ^ dass er sie überhaupt noch fest-
hielt, nachdem sie von der obersten Kirchenbehörde verworfen
war, dass er die Verordnung von 1616 fortwährend zu um-
gehen versuchte. Aber diese Lehre war in Wirklichkeit für
die Kirche gar nicht so ungefährlich, wie ihr Vertheidiger an-
nahm. Die bekannten Bibelstellen hätten ihr freilich an sich
kein unübei-steigliches Hinderniss in den Weg gelegt ; mit ihnen
hätte man, wenn man gewollt hätte, damals so gut fertig wer-
den können, wie man später mit ihnen fertig geworden ist,
und es war auf dem Standpunkt des Bibelglaubens ein ganz
annehmbarer und vernünftiger Ausweg, wenn Galilei der Mei-
nung war, so weit sie dem astronomischen Thatbestand wider-
sprechen, müsse man eine Anbequemung der Verfasser an dier
gewöhnliche Ausdmcks - und Vorstellungsweise annehmen—
Aber die Kirchenlehrer waren bisher ohne Ausnahme anderem-
Ansicht gewesen, sie hatten weder die Bewegung der Sonn^
um die Erde, noch die buchstäbliche Auffassung der Schrifli —
stellen bezweifelt, welche dieselbe voraussetzten. Da war ös
für die Auktorität der Kirche und ihrer Tradition, diesöTi
Grundstein der katholischen Dogmatik, nicht gleichgültig, weiui
nun von ihr verlangt wurde, sie solle eine bisher imwider-
sprochene Annahme und eine seit anderthalbtausend Jahren
ausnahmslos festgehaltene Schiifterklärung mit der entgegen*
gesetzten vertauschen. Nach katholischen Gi*undsätzen ist ftr
wahr zu halten, was immer und überall und von allen ge-
glaubt worden ist (quod semper^ quod ubique^ quod ab Omnibus
crediium est); was war aber bis auf Copemicus allgemeiDer
geglaubt worden, als der Umlauf der Sonne um die Erde?
Der Process Galileis. 275
Und auch das kann man nicht sagen, dass es sich hiebei nur
um eine natui'wissenschaftliehe , nicht um eine 'theologische
Frage gehandelt habe. Nicht allein wegen des Einflusses, den
das asti-onomische System in diesem Fall auf die Bibelerklä-
mng haben musste, welche die Kirche jederzeit als ihr Privi-
legium eifei-süchtig gehütet hat, sondei-n noch weit mehr wegen
seines Einflusses auf die gesammte Weltanschauung. Diese
naturwissenschaftliche Foi'schung, diese Erklärung der That-
sachen aus unabänderlichen Gesetzen, dieses Zurückgehen von
der Ueberliefening auf die eigene Beobachtung, diese kritische
Stellung zu dem bisherigen Glauben der Menschen lag schon
au und für sich nicht in der Richtung und in dem Interesse
einer Kirche, die sich ganz und gar auf Auktorität gründen
wollte, und selbst für das Widervernünftigste, wenn sie ihre
Auktorität einmal dafür eingesetzt hatte, unbedingten Glauben
verlangte. Das Bestreben des Natuifoi'schei's , alles in der
Welt aus seinen natürlichen Ursachen zu erklären, ist das
gerade Gegentheil jener Ungebundenheit , mit welcher die
religiöse Phantasie auch das unmöglichste für wirklich an-
nimmt, weil der göttlichen Allmacht kein Ding unmöglich sei.
Es lautet für uns unglaubUch schwach, wenn Papst Urban VIII.
noch als Cardinal Barberini Galilei's (an sich verfehlter) Aus-
einandersetzung, dass sich Ebbe und Fluth nur aus einer Be-
wegung der Erde erklären lassen, den Einwurf entgegenhielt:
da Gott allmächtig sei, könne er dieselben auch durch andere
Ursachen bewii-ken (Gebier S. 198. 244); und es mag Galilei
einige Selbstüberwindung gekostet haben, diesen kindlichen
Einfall — auf den sich sein Urheber freilich nicht wenig zu-
gute that, und es Galilei nie verzieh , dass er sich durch den-
selben nicht widerlegt fand — in seinem Dialog mit dem
änssersten Emst und Respekt als einen „wahrhaft himmlischen
und bewunderungswürdigen", von einer „sehi* hochstehenden
UHd gelehrten Persönlichkeit" herrührenden Beweisgrund zu
behandeln. Aber dem Standpunkt der kirchlichen Theologie
«ütspricht er vollkommen; für sie existirt keine Gesetzmässig-
keit des Naturzusammenhangs und daher auch kein Recht, von
18*
276 Der Process Galilers.
einer bestimmten Ei-scheinung auf eine bestimmte Ui'sache zu
schliessen, weil man nie weiss, ob sich die göttliche Allmacht
in dem gegebenen Fall an die Analogie des sonstigen Ge-
schehens gehalten hat. Auch in ihren materiellen Ergebnissen
war aber die copemicanische Lehre für das kirchliche System
höchst gefährlich. Wenn die Erde nicht mehr der Mittelpunkt
der Welt ist, so ist auch das Christenthum und die Kirche
nicht mehr der Mittelpunkt der Weltgeschichte, so bleibt kein
Oi-t mehr für den Himmel und die Hölle der christlichen Dog-
matik; und wenn unser Planet nur ein Tropfen in dem Wel-
tenmeer ist, werden seine Bewohner nicht mehr den Anspinich
machen können, dass die Gottheit zu ihnen allein herabgekom-
men sei, um als Mensch geboren zu werden, zu leben und zu
sterben. Durch das copemicanische System war mit Einem
Wort eine so durchgi-eifende Veränderung der Voi-stellungen
von der Welt und von der Stellung der Menschheit in dei-selben
gefordert, dass die bisherige Dogmatik durch dasselbe aufs
tiefste und unwiderstehlichste erschüttert werden musste, wie
sie ja auch thatsächlich dadurch erschüttert worden ist. Lässt
sich auch nicht annehmen, dass sich die Gegner Galilei's die-
sen Zusammenhang in seiner ganzen Tragweite irgendwie deut-
lich gemacht hatten, so hatten sie doch jedenfalls eine richtige
Wittenmg von der Gefahr, welche ihnen von dieser Seite her
drohte; und wenn sie sich gegen diese Gefahr nach Ki'äfteik^
zu schützen versuchten, so kann diess so wenig auffallen, das^
man sich vielmehr (wie schon im Eingang dieses Artikels an —
gedeutet wurde) weit eher darüber wundem könnte, dass die —
selbe nicht früher und nachdrücklicher bekämpft wurde. Di
Schrift des Copemicus war schon 73 Jahre erschienen, als si
im Jahr 1616 bis auf weiteres verboten wurde,*) und di
*) Noch früher soU nach Gebier, S. 48, ^^der berühmte belgische Astronoxn
Nicolaus von Cues^ eine doppelte Bewegung der Erde gelehrt und trotsdaxo
den Cardinalshut erlangt haben. Allein diess ist in jeder Besdehong 00'
genau. Nicolaus Cusanus, der 1401 — 1464 gelebt hat, war für's erste keix>
Belgier, sondern ein Deutscher: Cues liegt einige Meilen unterhalb Tiitf
an der /Mosel. Wenn er femer neben anderem auch ein für seine Z^
i
Der Process Galilei's. 277
darin vorgetragene Theorie wurde auch jetzt noch als astro-
nomische Hypothese geduldet, wiewohl sie von den päpstlichen
Theologen für häretisch und schriftwidrig erklärt war. Das
letztere war nun offenbar eine Halbheit, die noch viel auffal-
lender ist, als die siebzigjährige Connivenz gegen die Schrift
und die Lehre des Copeniicus. Diese erklärt sich daraus,
dass man die Bedeutung seiner Untei*suchungen nicht erkannte,
und der Versicherung Glauben schenkte, welche Andr. Oslan-
der in seiner Vorrede zu dem Werke des sterbenden Astro-
nomen gegeben hatte, dass sein heliocentrisches System nur
eine Hypothese zur Vereinfachung der astronomischen Berech-
nungen sein solle. Aber nachdem man dieses System mit
aller Bestimmtheit als ketzerisch und schriftwidrig vemrtheilt
hatte, durfte man es consequenter Weise überhaupt nicht mehr,
auch nicht hypothetisch, vortragen lassen; denn was der von Gott
eingegebenen Schidft und der unfehlbaren Lehre der Kirche wider-
spricht, das kann nicht mehr als eine irgendwie zulässige oder
mögliche Hypothese, sondern nur als ein verderblicher Lrrthum
behandelt, seine Wahrheit kann nicht mehr erörtert, sondern
nur bestritten werden. Wenn man sich in Rom im Jahr 1616
nicht entschliessen konnte, diese Consequenz zu ziehen, wenn man
gegen Galilei's Saggiatore nichts zu erinnern hatte, wenn man
auch nach seiner Verurtheilung nicht den Muth fand, im
Sinne derselben gegen die immer stärker anwachsende Schaar
der Copeniicaner vorangehen und die Lehre, welche bei diesem
besonderen Anlass verworfen worden war, in einem allgemeinen
Glaubensgesetz für immer zu verbieten, so beweist diess, dass
^gezeichneter Astronom war, so bildet doch die Astronomie nur einen
^chtheU seiner vielseitigen wissenschafüiclien Thätigkeit Was endlich
^ Hauptsache ist: Nicolaus nahm die Bewegung der Erde nicht aus
Monomischen, sondern aus rein spekulativen Gründen an, und er dachte
^t daran, die der Sonne um ihretwillen aufzugeben, und konnte dess-
^ auch mit den BibelsteUen, welche die letztere voraussetzen, in keine
^llision kommen: die Erde bewegt sich nach ihm in 24 Stunden ein-
^^1, der Fixstemhinmiel und die Sonne zweimal um die Weltachse;
^«igL Clemens, Nicol. v. Cusa, S. 97 f.
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Der Process Galilei's. 279
1er Kirche verworfene Lehre vertheidigt, und dass er das ihm
m Jahr 1616 durch Bellarmin eröffnete specielle Verbot, sie
,in irgend einer Weise" zu vertheidigen , übertreten habe.
Ulein dieses letztere Verbot ist ihm, wie wir gesehen haben,
^ar nicht ertheilt worden, sondern irgend eine feindliche Hand
lat den Bericht, wonach es ihm ertheilt worden wäre, unter-
choben; seine Richter aber waren so fahrlässig oder so bös-
villig, dass sie diese unterschobene, schon äusserlich aller
echtlichen Foim und Beglaubigung ennangelnde Urkunde un-
^epiilft annahmen, und den Angeklagten auf Grund derselben
reinirtheilten , ohne dass er von ihrer Existenz etwas geahnt,
Hier seine Einwendungen gegen ihre Aechtheit geltend zu machen
Gelegenheit gehabt hätte. Was aber die allgemeinere, Galilei
räklich bekannt gegebene Entscheidung über die copemica-
lische Lehre (oben S. 263) betrifft, so möchte ich zwar nicht
nit Gebier (S. 293 f.) sagen: ein blosses Decret der Index-
Kongregation habe Galilei nicht verhindem können, diese Lehre
aach wie vor für zulässig, ja sogar für wahi-scheinlich zu halten,
ia diese Congi-egation nicht infallibel sei; denn das Decret^
um das es sich hier handelt, war Galilei, wie wir gesehen
haben, im ausdrücklichen Auftrag des Papstes, als eine von
ihm abgegebene Entscheidung, zur Nachachtung mitgetheilt
worden. Um so schwerer fällt dagegen der Umstand in's Ge-
iiricht, dass in diesem Decret nicht jede Erörtei-ung, sondeni
Qur die dogmatische Behauptung und Vertheidigung der coper-
oicanischen Lehi*e untersagt war, dass daher Galilei glauben
konnte, sich durch eine solche Vertheidigung derselben, wie
lie in seinem Dialog geführt war, mit dem kirchlichen Verbot
in keinen formellen Widerspmch zu setzen. Sofern aber in
üeser Beziehung noch Zweifel übrig blieben, hatte er alles
jethan, was er konnte, um sich rechtlich zu decken: er hatte
las Manuscript seines Werkes der päpstlichen Censur vor-
gelegt, und alle ihre Ausstellungen bereitwillig berücksichtigt.
Sein Werk war mit dem fünffachen Imprimatur von einer bür-
jerlichen und vier kirchlichen Behörden , dem Magister sacri
mlatii, dem Generalinquisitor von Florenz u. s. w. versehen;
280 I^er Process Galilei's.
und wenn ihm seine Richter in dem Urtheil vorwarfen, dass
er diese Approbationen durch Verschweigung des ihm im Jahr
1616 ertheilten speciellen Verbots ei-schlichen habe, so er-
mangelte dieser Vorwurf aller thatsächlichen Begründung,
da ihm jenes specielle Verbot in Wirklichkeit niemals ertheilt
worden ist. Hatte er daher dennoch dem Sinn des ihm publicirtea
Decrets zuwidergehandelt, so konnte ihn dafür keine persön-
liche Verantwortlichkeit treffen: man hätte seine Schrift ver-
bieten, aber man hätte ihn selbst rechtmässiger Weise nicht
bestrafen dürfen. Statt dessen wurde über den siebzigjährigen,
körperlich leidenden Greis nicht allein eine Freiheitsstrafe ver-
hängt, die neun Jahre lang, bis zu seinem Tode, schwer auf
ihm lastete, sondern er wurde auch zu jener schmählichen
Abschwörung genöthigt, die auf einen gesunden Sinn fast noch
einen empörenderen, jedenfalls aber einen widerwärtigeren
Eindnick macht, als der Scheiterhaufen eines Giordano Bi-uno.
Unter den sieben Cardinäjen, die Galilei's Urtheil unterschrie-
ben haben, war ganz sicher nicht Einer, der wirklich geglaubt
hätte, dass der Vemrtheilte seihe Ansicht über das Welt-
gebäude in Folge seiner Venirtheilung geändert habe. Und
nichtsdestoweniger zwang man ihn, in der feierlichen Form
eines Eides, die Hand auf dem Evangelium, zu versichem,
dass er die Meinung, an deren Wahrheit er nachher so wenig
wie vorher, gezweifelt hat, „mit aufrichtigem Hei'zen und un-
geheucheltem Glauben abschwöre, verfluche und verabscheue".
Zur Ehre Gottes und der christlichen Kirche wurde
dem grössten Gelehrten Italiens am Abend eines
ruhmreichen Lebens von dem geistlichen Gerichte
mit Bewusstsein und Vorbedacht ein förmlicher
Meineid auferlegt. In der That, wenn es kein einzige»
weiteres Beispiel der gleichen Art gäbe, dieses Eine genügte,
um ein System zu veinirtheilen, das solche Früchte getragen hat-
Galilei selbst spielt bei diesen trostlosen Vorgängen eine
traurige Rolle. Von dem, was man sich unter einem Märtyrer
vorstellt, ist in ihm keine Ader Nicht die Begeisterung,
welche sich in der Sache vergisst; nicht der Trotz, der das
r
Der Process Galilei's. 281
Schieksal hei-ausfordert und der vor der feindlichen Gewalt
keinen Zoll breit zurückweicht. Gleich mit dem Beginn seines
Processes gibt er jeden Gedanken an die Yeitretung seiner
Ueberzeugung auf; er fühlt sich einer Macht überliefei-t, gegen
die er nichts vermag ; seine einzige Wafife ist Nachgiebigkeit,
sein einziges Besti*eben, die Bichter nicht zu reizen ; in stum-
mer Resignation lässt er alles, selbst das unwürdigste , wider-
spnichslos über sich ergehen. Auch das berühmte „e 'gm si
\ mme^ hat er nicht ausgespi*ochen: die Anekdote ist erfunden
und nicht einmal gut erfunden. Die Geschichte zeigt uns
den unglücklichen Gelehrten nach der schmachvollen Abschwö-
nmg seiner Ueberzeugung viel zu zerknirscht und vernichtet,
als dass er sich zu dieser pathetischen, und nach der Ver-
längnung übel angebrachten Protestation aufgerafft hätte. Aber
ehe man den grossen Naturforscher wegen dieser beklagens-
werthen Schwäche zu hart beurtheilt, möge man sich klar
machen, wie er zu derselben gekommen ist. Der Foi-schungs-
trieb war ja bei ihm ohne Zweifel von Hause aus grösser, als
der moralische Muth; den glänzenden Eigenschaften seines
Geistes stand keine ebenbüi*tige Kraft des Charaktei's zur
Seite. Man kann ihn in dieser Beziehung mit seinem berühm-
ten englischen Zeitgenossen , Baco von Verulam , vergleichen.
Und wie diesem sein Verhältniss zu einer despotischen und
verderbten Regierung zum Fallstrick wurde, so wurde es
ßalilei sein Verhältniss zur katholischen Kirche. Und es
wurde diess nicht blos, weil es ihn äusserlich beengte, sondern
vorher noch, weil es ihn in sich selbst nicht zur vollen geistigen
Freiheit gelangen liess. Galilei ist seinem Schicksal nicht da-
durch anheimgefallen, dass er ein zu schlechter, sondern
dadurch, dass er ein zu guter Katholik war; oder genauer:
dadurch, dass das Verhältniss des Naturforschers zum Katho-
liken in ihm nicht zui- Klarheit gekommen war. Hätte er es
sich von Anfang an deutlich gemacht , dass ihn seine wissen-
schaftliche Ueberaeugung mit der Kirche in Konflikt bringen
JJ^üsse, so hätte er drei Wege vor sich gehabt, von denen jeder
wenigstens ein gerader Weg gewesen wäre. Er konnte mit
282 Der Process Galilei's.
seiner Ansicht zurückhalten und sich mit der Mittheilung seinemr
astronomischen Entdeckungen begnügen, ohne daraus Folge^ —
rungen im Sinne des Copeniicus abzuleiten. Er konnte da^^«
Kirche, die seiner wissenschaftlichen Ueberzeugung keina^x
Raum liess, den Rücken kehren; was unter den damalig^Xi
Verhältnissen freilich nur dann möglich war, wenn er mit it^x-
auch sein Vaterland zu verlassen entschlossen war. Er konate
den Kampf mit offenem Visir aufnehmen, musste dann abei-
allerdings, wenn er nicht etwa in Padua blieb und dort viei—
leicht Venedig ihn schützte, auf das äussei*ste gefasst sein«
Aber jenes Verhältniss hat er sich nicht klar gemacht. Er gal^
sich fortwährend der Täuschung hin, die Kirchengewalt werd^
sich doch schliesslich für die Wahrheit gewinnen lassen, und in
dieser Meinung machte er immer neue Vei*suche, seine Ansicht
zur Geltung zu bringen , während er doch den Kampf mit der
Kirche viel zu sehr scheute, um ihm nicht dui'ch äusserliche
Anbequemung an ihi'e Gebote, dui'ch allerlei Kniffe und Künste
auszuweichen. Als diese Mittel nicht mehr ausreichten, alt
ihm nur zwischen dem Martyrium und der Verläugnung seiner*
Uebei-zeugung die Wahl blieb, unterlag er; aber er unterlas"
nur desshalb, weil ihn die Kirche, die ihn besiegte, von Haus^
aus nicht zum unabhängigen Charakter gebildet, die Schwun^^
kraft seines Geistes schon längst gefesselt hatte.
VIIL
Lessing als Theolog.
(1870.)*)
Es ist das Merkmal und das Vorrecht alles Klassischen,
dass es nie veraltet, dass man immer mit neuem Interesse zu
ihra. zuiUckkehrt, immer neuen Genuss, neue Anregung und
Bölehnmg aus ihm schöpft. An diese Wahrheit zu erinneni,
hat kaum ein anderer dringendere Veranlassung, als deijenige,
welcher heutzutage über Lessing das Wort ergi-eifen will. Wer
könnt ihn nicht, den unerreichten Kritiker, den furchtlosen,
uaermüdeten Vorkämpfer für die Freiheit des Geistes; den
Mann, welcher unter den Schöpfen! des deutschen Schauspiels,
der deutschen Prosa, der heutigen Kunstlehre und Aesthetik
eine der ersten Stellen einnimmt; den Verfasser des Laokoon
luid der Hamburgischen Dramaturgie, der Emilia Galotti und
4er Minna von Banihelm, des Nathan und der Einziehung des
Menschengeschlechts? Und dennoch: wer dürfte es bereuen,
wenn er seine Schriften immer wieder zur Hand nimmt, wenn
ör selbst das längst bekannte und unvergessene in seiner ur-
spiilnglichen Frische neu auf sich wirken lässt, oder das, was
er früher mehr zei*streut und vereinzelt in sich aufgenommen
l^s-t, zu einem vollständigeren Bilde zusammenfasst? Nur um
•
eiDe solche Zusammenfassung von Zügen, die bisher schon nicht
*) Dieser Vortrag erschien zuerst in Sybel's Historischer Zeitschrift
^^' XXm, 343 ff.
\
284 Lessing als Theolog.
unbekannt waren und nicht unbeachtet geblieben sind, wird es
sich auch bei der gegenwärtigen Darstellung handeln könneai
sie wird kaum hoffen dürfen, in der Sache etwas neues zw
geben; aber sie wird auch dann nicht unwillkonunen sein, wean
es ihr nur gelingt, das Bild unseres Helden nach der Seite,
von der wir es hier betrachten, treu festzuhalten und in die
richtige geschichtliche Beleuchtung zu rücken.*)
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die theologischen Zu-
stände zur Zeit Lessings, die wissenschaftlichen Richtungen,
unter deren Einfluss seine eigenen Ueberzeugungen sich bil-
deten, die Aufgaben, welche ihm durch seine Vorgänger ge-
stellt waren.
Der deutsche Pi-otestantismus war bekanntlich um die
Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr derselbe, welcher er
hundert Jahre fiHher gewesen war, wenn sich auch in seinem
äusseren Bestände, seinem öffentlichen Recht und seinem kirch-
lichen Bekenntniss kaum etwas geändert hatte. Jenes fest-
geschlossene Lehrsystem, welches die Theologen des 16. und
17. Jahrhunderts in dem engbegi-enzten Rahmen einer bekennt-
nissmässigen Orthodoxie mit scholastischer Giilndlichkeit aus-
gearbeitet, welches sie gegen jede Abweichung nach rechts
oder nach links mit allen Mitteln der theologischen Polemik
und der staatskirchlichen Gewalt so eifrig vertheidigt hatten i
diese alleinseligmachende Dogmatik des nachrefoimatoriscbea
Protestantismus war von dem veränderten Zeitgeist so aus-
geleert und unterhöhlt worden, dass sie sich nur noch für
*) Für die nachstehende Darstellung wurden, neben Lessings eigenan
Schriften (die nach der Lachmann-Maltzahnschen Ausgabe angeführt werden)
und neben den bekannten biographischen Werken, namentlich die zwo, mi^
gründlichem Yerständniss in alles einzelne sorgfältig eingehenden Mono-
graphieen benützt: G. E. Lessing als Theologe von Carl Schwarz
Halle 1854, und Lessing-Studien von C. Hebler, Bern 1862; TgL Dee-
selben Philosophische Aufsätze (Leipzig 1869) S. 79 £; den Nathan be-
treffend noch besonders: Strauss, Lessings Nathan, Berlin 1864 (jets^^
Gesanmielte Schriften H, 43 ff.); ^ Fischer, Leasings NathflhX),
Berlin 1864.
Lessing als Theolog. 285
Kurze Zeit durch allerlei künstliche Stützen vor dem völligen
Zusammensturz bewahren liess. Seit dem Ende des ver-
Ixcerenden Religionskriegs waren die Stimmen immer zahl-
i-eicher und lauter geworden, welche auf ein friedliches Zu-
sammenleben der verschiedenen Religionsparteien und auf Un-
a.l)hängigkeit der bürgerlichen Rechte von der Confession
drangen, und noch vor dem Ablauf des 17. Jahrhunderts lie-
ferten wiederholte, mit Ernst und Eifer betriebene Unions-
verhandlungen, wenn sie auch zur Zeit noch keinen unmittel-
baren Erfolg hatten und haben konnten, doch wenigstens dafür
' den Beweis , dass das Bedüi-faiss einer Annäherung unter den
sich befehdenden Gliedern der christlichen Kirche nicht blos
von Einzelnen, sondern auch von manchen Regieiningen,
lebhafter als bisher empfunden wurde. Aus der lutherischen
Kirche selbst war in den Anhängern des Sp euer' sehen Pie-
tismus eine Partei hervorgegangen, welche dem kirchlicheji
Dogma allerdings nicht direkt entgegentrat, sondern es viel-
mehi' voraussetzte, und welche mit der Zeit sogar sein
Hauptvorkämpfer gegen weitergehende Neuerungen geworden
ist, welche aber den Werth des Dogmenglaubens doch durch-
aus nach seiner Wirkung auf die christliche Frömmigkeit, auf
das Gemüth und den Willen des Menschen bemass, den Lehr-
formen und Lehrbestimmungen der Schule und selbst dem
Gegensatz der beiden protestantischen Hauptkirchen nur eine
^tergeordnete Bedeutung beilegte, der theologischen Gelehr-
samkeit das persönliche Glaubensleben als das höhere und
aDein wesentliche gegenüberstellte, gegen die AUeinhen-schaft
des Lehrstandes das Recht des christlichen Volkes verfocht,
dem öffentlichen Gottesdienst die Privaterbauung, den dogma-
tischen Predigten der Pastoren die erwecklichen Reden frommer
Laien voraog. Diese Partei war von der heiTSchenden Ortho-
doxie Jahrzehende lang aufs bitterste angefeindet und verfolgt
worden; aber schliesslich hatte sie sich nicht blos Duldung in
der Kirche eiTungen, sondeni den bisherigen Gegner sogar
selbst zu sich herübergezogen. Gleichzeitig hatte sich in der
Brüdergemeinde eine Religionsgesellschaft von ihr abge-
286 Lessing als Theolog.
zweigt, welche 'die gleichmässige Zulassung der vei^schiedenen
protestantischen Confessionen zu ihrem ausdrücklichen Grund-
satz machte, und welche überhaupt in der Gleichgültigkeit
gegen die dogmatische Foraiulirung des christlichen Glaubens
viel weiter gieng, als der ältere Pietismus; denn mochte sie
sich auch so wenig, wie jener, von irgend einem Lehrstück
der kirchlichen Dogmatik ausdi-ücklich lossagen, so zog sie sich
doch mit ihrem religiösen Interesse von dem vielgestaltigen
Inhalt derselben so einseitig auf die Anschauung des leidenden
Erlösei-s und von der Dogmatik überhaupt so einseitig auf das
fromme Gefühlsleben zuiUck, dass sie nothwendig in allem,
was nicht jenes Centraldogma und einige damit zusammen-
hängende Lieblingsmeinungen der Pai'tei betraf, lauer und ab-
weichenden Ansichten gegenüber duldsamer werden musste.
Noch viel eingi-eifender war aber der Einfluss, welchen die
Theologie und die ganze Aulfassung und Behandlung der Re-
ligion überhaupt von einer anderen Seite her erfühl'. In den-
selben Jahren, in die Spener's erfolgreiche Wirksamkeit fällt,
wurde Leibniz der Begiiinder einer selbständigen d eut sehen-
Philosophie, und neben den Theologen aus der Spener'schei».
Schule lehrte in Halle Christian Wolff, durch welcher^
Leibniz' Gedanken in die Fonn schulmässiger Disciplinerx
gebracht, nach allen Seiten hin ausgeführt, demonstrirt und
erläutert, vom akademischen Lehrstuhl aus, in deutschdx*
Sprache, mit der durchschlagendsten Wirkung verbreitet, zum
Gemeingut der deutschen Wissenschaft, ja der deutschen Bil-
dung gemacht wurden. Hier handelte es sich nun nicht mehr
blos, wie im Pietismus, um die persönliche Aneignung der
Lehren, welche in der h. Schrift und der kirchlichen üeber-
lieferung gegeben waren; sondern diese Lehren sollten vor dem
Richterstuhl der Vernunft gerechtfertigt, wissenschaftlich be-
ginindet, mit einer allseitig entwickelten philosophischen Welt-
ansicht in Uebereinstimmung gebracht werden. Auf eine Kritik
derselben hatte es allerdings weder Leibniz noch Wolflf abge-
sehen. Beide bemühten sich gleich sehr und in gleicher Weis«»
neben dem Veraünftigen auch für das Uebervemtlnftige, neb^^
[
Lessing als Theolog. 287
der natürlichen Theologie, welche ihnen ihre Ausbildung und
ihre allgemeine Anerkennung vorzugsweise zu verdanken hat,
auch für die geoflfenbarte Raum zu schaffen. Die Gesetz-
mässigkeit des Naturlaufs schliesst, wie sie glauben, über-
natürliche Wirkungen der Gottheit nicht aus, weil die
Naturgesetze doch nur eine bedingte Nothwendigkeit haben;
jene Gesetze lauten so , wie sie lauten , weil die Zwecke der
göttlichen Weisheit diess verlangten; wenn dieselben Zwecke
unter gewissen Umständen eine Ausnahme von ihnen verlangen,
80 steht diess mit ihrer sonstigen Geltung so wenig im Wider-
sprach, dass wir vielmehr annehmen müssen, auch diese Aus-
nahmen seien von Anfang an in den Weltplan mit aufgenommen
nnd durch den ganzen Weltlauf vorbereitet. Die UebeiTemünf-
tigkeit mancher Lehren ist mit dem Erkennen aus Vemunft-
gründen nicht unvereinbar; denn das Uebervemünftige ist nicht
nothwendig ein WideiTeniünftiges, und wenn wir es annehmen,
thun wir diess doch nur desshalb, weil wir uns durch aus-
reichende Beweise von seinem göttlichen Ui*sprung überzeugt
haben. Vernunft und Offenbarung sollten daher, nach der
Meinung unserer Philosophen, in dem Verhältniss stehen, dass
nns zuerst die Vernunft über das Dasein , die Eigenschaften,
die Vorsehung Gottes, über unsere allgemeinen Religions-
pflichten und unsere zukünftige Bestimmung belehre, und so-
dann die Offenbarung zu diesen Uebei-zeugungen noch die Kennt-
niss weiterer Lehren und Thatsachen hinzufüge, welche der
Vernunft zwar nicht widersprechen, auf welche sie aber durch
sich selbst nicht hätte kommen können. Aber theils waren
schon hiemit die Grenzen, welche die ältere Dogmatik der
Vernunft in Glaubenssachen gesetzt hatte, weit überachritten,
^d es war unvermeidlich , dass die natürliche Theologie , wie
diess denn auch bald genug geschehen ist, der geoffenbarten
gegenüber immer mehr an Ausdehnung und Bedeutung gewann,
dws jene immer mehr als die Hauptsache, diese nur als eine
Zuthat erschien, die zwar ganz werthvoll und nützlich, aber
doch nicht unentbehrlich und unbedingt nothwendig zum tugend-
haften Leben und zur Seligkeit sei; theils ftlhrte die Conse-
1
288 Lessing als Theolog. i
quenz der Leibniz- Wolffischen Philosophie viel weiter, als ihre
Urheber zu gehen gewagt hatten. Wollen wir auch von dem
näheren Inhalt dieser Philosophie vorläufig noch absehen, so
war sie schon ihrer allgemeinen Richtung nach das gerade
Gegentheil des alten Dogmen- und Auktoritätsglaubens ; denn
sie war nichts anderes und wollte nichts anderes sein, als Auf-
kläi*ungsphilosophie, Rationalismus, und so ist ja auch die
deutsche Aufklärung des 18. Jahrhundeits in ei'ster Linie von
ihr ausgegangen. Alle unsere Voi-stellungen zu deutlichen Be-
griflfen zu erheben, alle unsere Ueberzeugungen auf Beweise
von mathematischer Sicherheit zu gründen, durch Aufklärung
des Veretandes die menschliche Glückseligkeit zu fördern : diess
ist es, was Leibniz und WolflF einstimmig von der Wissenschaft
verlangen. Mit diesem Bestreben war ein Glaube an über-
veiTiünftige Wahrheiten, wie sie selbst ihn allerdings nicht allein
zuliessen, sondeiii auch lebhaft vertheidigten, in Wahrheit un-
vereinbar. Denn in demselben Masse, wie ein Glaubenssatz
zur Deutlichkeit erhoben und auf ausreichende Beweise ge-
gründet wurde, ward er aus einer übervemünftigen in eine
Vemunfbwahrheit verwandelt ; in demselben Masse dagegen, wie
diess unterblieb, war er eine undeutliche Vorstellung, etwas
dem Denken fremdes und unverständliches, von dem sich eine
Ueberzeugung durch VeraunftgiUnde nicht gewinnen liess
während doch ein Glaube ohne zureichende Gründe schon der
ersten wissenschaftlichen Grundsätzen eines Wolff und Leibniz
widersprach. Der Ausweg aber, den sie hier ergriffen, das«
wir uns zuerst durch wissenschaftliche Beweisführung von den
göttlichen Urspning der geofifenbarten Lehre übei*zeugen uni
dann ihren Inhalt auf die göttliche Auktorität hin annehmei
sollen: dieser Ausweg musste sich alsbald tillgerisch zeigen
weil es eben unmöglich ist, den X)ffenbai'ungscharakter einei
Lehre auf blos geschichtlichem Wege, aus äusseren Thatsachei
und aus Zeugnissen über angebliche Thatsachen, ohne all<
Rücksicht auf ihi'en Inhalt zu erweisen, und weil andererseits
bei der Prüfung dei'selben nach inneren Merkmalen, dui*ch ihr<
Uebereinstimmung mit der menschlichen Vernunft ihr über
Lessing als Theolog. 289
natürlicher üi-spining, durch die Unmöglichkeit, sie aus der
Vernunft abzuleiten, ihre Wahrheit in Frage gestellt wird.
Wie aber hiernach die allgemein wissenschaftlichen Grund-
sätze der Leibniz- Wolffischen Philosophie das üebeiTemünflige
ausschliessen, so wird dui-ch den bestimmteren Inhalt derselben
das üebemattirliche ausgeschlossen. Leibniz betrachtet die Welt
als em unendlich zusammengesetztes Ganzes, dessen letzte
Bestandtheile nicht in Körpern oder körperlichen Atomen,
sondern in einfachen, immateriellen, vorstellenden Wesen, oder
wie er sie nennt, in den Monaden zu suchen sind. Diese Mo-
naden sind unendlich vei-schieden an Vollkommenheit, oder
was dasselbe, an Deutlichkeit ihres Vorstellens; alle Stufen
der Entwicklung, von der höchsten Geistigkeit bis zu jenem
Zustand der Bewusstlosigkeit und Betäubung, in dem uns die
Monaden die Erscheinung der Materie liefeni, sind in ihnen
vertreten; sie stehen desshalb unter einander in den verschie-
densten Verhältnissen der üeber- und Unterordnung: die einen
sind beherrschende , die andern sind dienende , die einen sind
Seelen und bilden als solche den Mittelpunkt eines eigenen
Organismus, die andern sind Theile dieses Organismus und
bflden in ihrem Zusammensein jenes Monadenaggi-egat, welches
wir einen Leib nennen, und eine und dieselbe Monade kann
sich bald zu einer höheren Daseinsform entwickeln, bald in
öine niedrigere und ungeistigere zurücksinken. Dieses ganze
Verhältniss beruht aber nicht auf einer gegenseitigen Einwir-
kung der Monaden auf einander; denn eine solche ist, wie
Leibniz glaubt, unter immateriellen Wesen unmöglich ; sondern
Gott hat alle die zahllosen Monaden von Anfang an so ge-
schaffen und in ihrer Natur eine solche Entwicklung angelegt,
<1^ jede in jedem Augenblick genau diejenigen Voi-stellungen
^eugt und -diejenigen Thätigkeiten ausübt, welche dem je-
weiligen Zustand des Weltganzen und ihrer Stellung in dem-
selben entsprechen. Das gesammte Univei*sum bildet demnach
^ grosses, in allen seinen unzähligen Theilen durchaus har-
monisches System, und der Grund dieser universellen Harmonie
^^ in der göttlichen Weisheit, welche alles bis aufs einzelste
Zeller, Vorträge und Al)liandl. 19
290 Lessing als Theolog.
hinaus von Anfang an auf das Ganze berechnet, jedem die-
jenige Vollkommenheit und dasjenige Mass der Vollkommenheit
anerschaffen hat, wodurch es seine Bestimmudg für das Ganze
am besten erfüllt. Dem Gesetz dieser Harmonie kann kein
Wesen sich entziehen; jedem ist seine ganze Entwicklung, es
sind ihm alle seine Vorstellungen und Thätigkeiten durch seine
ursprüngliche Naturanlage vorgezeichnet, und auch der Mensch
macht davon so wenig eine Ausnahme, dass seine Freiheit
schlechterdings in nichts anderem besteht, als in der inneren
Nothwendigkeit , mit der seine Individualität sich entwickelt.
Gerade desshalb aber, weil die Welt so das ausschliessliche ^
Erzeugniss der göttlichen Schöpferthätigkeit ist, muss sie auch
vollkommen in ihrer Art sein ; und wie schwer immer die
Uebel des Lebens uns drücken mögen, Leibniz ist dennoch
überzeugt (und der Rechtfertigung dieser Ueberzeugung hat er
seine Theodicee gewidmet), dass diese unsere Welt, mit allen
den Uebeln, die in ihr sind, doch besser und vollkommener
sei, als jede andere mögliche Welt sein würde, welche votx
diesen Uebeln frei wäre. Mit Leibniz erklärt auch Wolff, wie*
wohl er sich die Monadenlehre nur theilweise anzueignen weiss^.
die Welt für ein Werk der göttlichen Weisheit, welches s<J
vollkommen ist, als eine Welt überhaupt sein kann, in welcher*
aber eben desshalb nichts zufällig oder willkürlich, sondef^
alles, das Kleinste wie das Grösste, durch den Zweck und Zd-
sammenhang des Ganzen bestimmt ist. Mit einer solch^i
Weltansicht lässt sich die Annahme übernatürlicher Wirkung^^
und wunderbarer Erfolge ohne Widerspruch nicht vereinig©:*^
Was für die beste und allein mögliche Welt unentbehrlich, i
den ursprünglichen Weltplan mit aufgenommen, in der
spiUnglichen Welteinrichtung angelegt ist, das ist, wenn irgei
etwas, naturgemäss und nothwendig; es ist in allem Vorh^''
gehenden vollständig begründet, es ist eine unerlässliche ^^
dingung für alles Folgende; es ist alles andere eher, als &^
Wunder. Mögen sich daher ein Leibniz und Wolff noch •
sehr bemühen, das Uebeniatürliche und Uebervemünftige ^
ihrem System unteraubringen, mögen ihre eigenen Erklärun^^
Lessing als Theolog. 291
dasselbe noch so sehi- begünstigen: der Geist ihres Systems
widerstrebt ihm, und seine folgerichtigere Entwicklung musste
nothwendig zu seiner giiindsätzlichen Beseitigung hinführen.
Die meisten von ihren Anhängern fassten nun allerdings
ihr Verhältniss zu der kirchlichen Dogmatik zunächst in dem
conservativen Sinn auf, für welchen man sich auf ihren eigenen
Vorgang benifen konnte, und nicht ganz wenige giengen sogar
zu dem Vei-such fort, jene Dogmatik ihrem ganzen Umfang
nach in die neuen philosophischen Formen zu kleiden, die
Wolffische Philosophie in ähnlicher Weise zur Grundlage einer
orthodoxen Scholastik zu machen, wie man früher die Aristo-
telische, später die Hegersche dazu gemacht hat. Aber schon
diese mussten mit den älteren Lehrbestimmungen manche
Veränderung vornehmen, dem Dogma seine schi-ofifsten Spitzen
abbrechen, es mehr oder weniger rationalisiren,; um seine Ver-
theidigung übernehmen zu können. Alle schärfer blickenden
ohnedem konnten sich nicht verbergen, dass das alte Dogmen-
system und sein Supranaturalismus sich mit dem neuge-
wonnenen wissenschaftlichen Standpunkt überhaupt nicht ver-
trage, dass man sehr bedeutende Theile der positiven Theologie
aufgeben müsse, wenn sie mit der natürlichen in Ueberein-
stimmung gebracht werden sollte; ja einzelne giengen so weit,
dass sie den Glauben an eine übernatürliche Offenbarung
überhaupt verwarfen, und nach dem Vorgang der englischen
Freidenker in allem , was die positive Religion zu der Ver-
nunftreligion hinzufügte, nur eine Anbequemung an die Vor-
urtheile des Volkes, wenn nicht gar ein Werk berechneter
Täuschung, zu sehen wussten. Diese Kritik der überlieferten
Dogmatik wurde ihr aber um so gefährlicher, da ihr gleich-
zeitig auch die Geschichtsforschung , unter der Führung eines
Sem 1er, mit dem Nachweis entgegenkam, dass es nicht allein
bei der Entstehung der kirchlichen Lehre sehr menschlich zu-
S%angen sei, sondern dass auch die Sammlung unserer alt-
ttttd neutestamentlichen Schriften sich nur allmählich gebildet
^d noch später kanonische Geltung erlangt habe, dass sie
Äöben dem Aechten auch manches Unächte , neben dem , was
19*
292 Lessing als Theolog.
einen bleibenden Weith hat, nicht weniges enthalte, woiüber
wir längst hinaus sind, dass das Christenthum überhaupt einer
beständigen geschichtlichen Veränderung unterworfen sei. Die
protestantische Theologie wurde so von allen Seiten zu einer
tiefgehenden Umgestaltung hingedrängt, und schon im zweiten
Dritttheil des 18. Jahrhunderts hatte die Orthodoxie des sieb-
zehnten kaum noch irgend einen Vertreter ; sondern die, welche
ihr am nächsten standen, huldigten doch nur einem gemilder-
ten, mit modernen Elementen versetzten Supranaturalismus : sie
wollten von der scharf ausgeprägten und folgerichtig dui-ch-
gefuhrten confessionellen Dogmatik auf jene unbestimmtere
Lehrweise zurückgehen, welche sich den Frommen durch ihre
biblische Einfachheit und ihre vermeintliche Schriftmässigkeit,
den Aufgeklärten durch ihre grössere Annähenmg an die Ver-
nunftreligion empfahl. Neben ihr gewannen aber die ver-
schiedenen Schattirungen der Neologie immer mehr Boden,
und wenn es auch in Deutschland verhältnissmässig nur wenige
waren, welche der positiven Religion und ihrem Oflfenbainmgs-
glauben geradezu den Krieg erklärten, so war doch die Zahl
derer um so grösser, welche diesen Glauben eben nur duldeten,
ohne sich lebendig an ihm zu betheiligen, welche sich nur
halb verschämt und nur mit dem Vorbehalt zu ihm bekannten,
dass die Veniunftreligion jedenfalls seinen wichtigsten und
allein unentbehrlichen Bestandtheil ausmache. Von dem
Christenthum wollten sich auch die Neuerer, ihrer gi-ossen
Mehrzahl nach, nicht lossagen; aber doch nur unter der Vor-
aussetzung, dass das Christenthum mit der Aufklärung des
18. Jahrhundei-ts zusammenfalle, und dass auch die Christ—
liehen Religionsurkunden oder wenigstens Christus und di^
Apostel ihrer eigentlichen Meinung nach nichts anderes ge —
wollt haben.
Lessing steht nun mitten in dieser Bewegung. Im Jahr^
1729 geboren, fällt er mit seiner Jugend in die Blüthezeit de^
Wolffischen Philosophie, mit seinem Mannesalter in das Vier-
tel Jahrhundert zwischen Wolffs Tod und Kants epochemachea^
dem Auftreten, in die Jahrzehende, welche den Rationalismi
<•!
« I
Mi>»>ia(
.^. 295
.ier Forderung; dass jeder
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.- jeder Monade für diese
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.\.\ vr sich nun auch, wie Leibniz
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1'-. niul dass er ihm gegenüber dem Phi-
il«* Leute immer redeten, wie von einem
vieler Hinsicht Recht gab. Mit dem her-
l>esritf konnte er sich nicht befreunden : er
o))i sagt, mit der Idee eines persönlichen
heu Wesens, welches in dem unveränder-
allerhöchsten Vollkommenheit wäre, „eine
ii unendlicher Langerweile, dass ihm angst
; wenn er sich eine persönliche Gott-
dachte er sie als die Seele des Alls,
zurückziehe, bald wieder ausbreite,
>■ glaubte er auch, freilich mit Un-
Er selbst hat in einer eigenen
XI, a, 133 f.) die Wirklichkeit
und behauptet, sie existiren
ju'lit werden, ihre Wirklich-
'noza (a. a.
294 Lessing als Theolog.
Sache. Manches, was er sagt, wird nur versuchsweise oder
unter Voraussetzungen ausgesprochen, welche seiner eigenen
Ansicht nicht immer entsprechen. Aber gewissen Grundan-
schauungen ist er doch immer getreu geblieben, und diese
weisen ganz über wiegend auf Leibniz als ihre Quelle zurück.
Mit Leibniz macht er unsere Vervollkommnung und unsere
Glückseligkeit vor allem von der Aufklämng unseres Ver-
standes, der Deutlichkeit unserer Begriffe abhängig, und ganz
in seinem Geist ist es, wenn Lessing (X, 187) erklärt: die
letzte Absicht des Christenthums sei nicht unsere Seligkeit,
sie möge herkommen, wo sie wolle, sondern unsere Seligkeit
vermittelst unserer Erleuchtung, ja unsere ganze Seligkeit be-
stehe am Ende in dieser Erleuchtung. Von Leibniz entlehnt
er in einer seiner Jugendschriften*) den Satz: Gott schaffe
nichts als einfache Wesen; aus der Harmonie dieser Wesen
sei alles zu erklären, was in der Welt vorgehe. Leibnizisch
ist es, wenn er die Seele als ein einfaches Wesen definirt,
welches unendlicher Vorstellungen fähig sei, die Materie als
das, was den Vorstellungen der Seele Grenzen setzt (XI, b,
64 ff.), wenn er die sinnlichen Begierden auf die dunkeln
Vorstellungen zuiUckführt (X, 19); an Leibniz knüpft er an,
wenn er es wahi-scheinlich findet, dass unsere Seele unzählige
Male , zu immer höherer Vervollkommnung , auf der Welt er-
scheine (XI, b, 26. 64 f. X, 326). Ihm folgt er in der Ueber-
zeugung, von der seine ganze Weltansicht durchdrungen ist,
dass alles in der Welt den Zwecken der höchsten Weisheit
diene, und diese unsere Welt die beste sei, welche Gott über
haupt schaffen konnte**); ihm in jener Werthschätzung de
Einzelwesens, welche ihn bei jeder Gelegenheit der freiste
individuellen Entwicklung das Wort reden lässt, in dem Sat2
dass die Vervollkommnung der Menschheit nur durch die al^
*) Das Christenthum der Vernunft § 18 f. W. W. XI, b, 245. J
diese Schrift nicht nach 1753 und schwerlich vor 1752 verfasst ist,
Hebler, Lessingstudien S. 26 fif.
**) X, 307. XI, b, 245; vgl. XI, 161 u. a. St.
Lessing als Theolog. 295
Einzelnen möglich sei (X, 325) , in der Forderung, dass jeder
„seinen individuaJischen Vollkommenheiten gemäss handle"
(XI, b, 246), in dem Glauben, dass jeder Monade für diese
Vervollkommnung, für die immer vollständigere Herausbildung
ihres inneren Wesens, ein unendlicher Zeitraum eröfihet sei;
ihm aber auch in jenem Determinismus, welcher überzeugt ist,
dass in der Welt nichts isolirt sei, jedes mit seinen Folgen
in alle Ewigkeit fortwirke, welcher auch auf dem Gebiete des
menschlichen Thuns den Zwang willkommen heisst, den die
Vorstellung des Besten über unsern Willen ausübe*). Durch
diesen Deteiminismus berührt er sich nun auch, wie Leibniz
selbst, mit Spinoza, zu dem er sich in der berühmten Unter-
redung mit Jacobi**) bekannt hat; und war auch dieses Be-
kenntniss weder ein so unbedingtes, noch auch ohne Zweifel
so ernstlich gemeint, wie Jacobi es aufnahm, so sehen wir
doch, dass der gewöhnliche Theismus wirklich nicht nach
seinem Geschmack war, und dass er ihm gegenüber dem Phi-
losophen, „von dem die Leute immer redeten, wie von einem
todten Hunde", in vieler Hinsicht Recht gab. Mit dem her-
könamlichen Gottesbegriff konnte er sich nicht befreunden : er
verknüpfte, wie Jacobi sagt, mit der Idee eines persönlichen
Schlechthin unendlichen Wesens, welches in dem unveränder-
lichen Genüsse seiner allerhöchsten Vollkommenheit wäre, „eine
^Iche Vorstellung von unendlicher Langerweile, dass ihm angst
^^^d weh dabei wurde"; wenn er sich eine persönliche Gott-
*^^it vorstellen wollte, dachte er sie als die Seele des Alls,
^^lc±e sich bald in sich zurückziehe, bald wieder ausbreite,
^^d die gleiche Vorstellung glaubte er auch, freilich mit Un-
^^olit, bei Leibniz zu finden. Er selbst hat in einer eigenen
^^inen Abhandlung (W. W. XI, a, 133 f.) die Wirklichkeit
^^X' Dinge ausser Gott bestritten und behauptet, sie existiren
^t^^n nur, wiefern sie von Gott gedacht werden, ihre Wirklich-
O.
*) IX, 162. X, 8 und bei Jacobi, Werke IV, a, 61. 70 f.
**) Worüber dieser in den Briefen über die Lehre des Spinoza (a. a.
öO £) berichtet.
296 Leasing als Theolog.
keit könne von dem Begriff derselben, der in Gott sei, nichl
verschieden sein, sonst müsste ja etwas in ihnen sein, wovon]
Gott keinen Begriff hätte; und im „Christenthum der Ver-
nunft" (XI, b, 243 f.) sagt er, die Weltschöpfimg bestehe in
nichts anderem, als darin, dass Gott seine Yollkommenheiten
zertheilt denke; denn da jeder Gedanke bei Gott dne
Schöpfung sei, so sei jenes Denken das Erschaffen von Wesen,
wovon jedes etwas von seinen Vollkommenheiten habe. Dar
mit stimmt auch die Erziehung des Menschengeschlechts (§ 75.
X, 322) tiberein, wenn sie den Sohn Gottes, in welchem dieser
das Gegenbild seiner selbst anschaue, als „den selbständigen
Umfang aller seiner Vollkommenheiten" definirt, „gegen den
und in dem jede Unvollkommenheit des Einzelnen ve^
schwinde"; denn diese Bezeichnung passt eben nur auf die
Welt, in welcher die unvollkommenen Einzelwesen sich dnrch
ihren harmonischen Zusammenhang zu einem vollkommenen
Ganzen verknüpfen. Aber doch hat er nirgends gesagt, dass
er Gott ftir die Substanz der Welt halte, und in dem Sinn,
in dem Spinoza diess gesagt hat, hätte er es auch nicht
sagen können. „Die orthodoxen Begiiffe von der Gottheit
allerdings," erklärt er bei Jacobi, „sind nicht mehr fttr mich;
ich kann sie nicht gemessen. ^Ev xat tcovI Ich weiss nichts
anders." Allein er ist weit entfernt, darum die endlichen
Dinge ohne weiteres zu Modificationen des göttlichen Wesens
und ihre allgemeinsten Eigenschaften zu Attributen der Gott-
heit zu machen. „Ausdehnung, Bewegung, Gedanken,'' sagt
er auch bei Jacobi, „sind offenbar in einer höheren Kraft ge-
gründet, die noch lange damit nicht ei'schöpft ist." Diese
Kraft müsse unendlich vortrefflicher sein, als jede ihrer Wi^
kungen (bei Spinoza ist sie der Summe ihrer Wirknngoi
gleich), und so könne es auch eine Art des Genusses für sie
geben, der nicht allein alle unsere Begriffe tibersteige, sondern
völlig ausser dem Begriff liege. Uebereinstimmend damit be-
zeichnet er in der Erziehung des Menschengeschlechts (§ 73)
die Einheit Gottes als eine (für uns) transscendentale, knUpft aber
daran unmittelbar jene Deutung der Trinitätslehre an, welche
Lessing als Theolog. 297
von dem Satz ausgeht, dass Gott die vollständigste Vorstel-
lung von sich selbst haben müsse, und dass er damit nicht
Mos ein Sichselbstdenken Gottes im endlichen Geist meint,
liegt wohl am Tage. Könnte aber je noch ein Zweifel dar-
über obwalten, so müsste er durch die teleologische Weltan-
sicht und den Vorsehungsglauben Lessings, und durch jenien
Individualismus widerlegt werden, durch welchen er sich eben-
so bestimmt von Spinoza unterscheidet, wie er darin mit Leib-
iiiz übereinkommt. Wer in der ganzen Geschichte der Mensch-
heit einen göttlichen Weltplan sieht, wer alles auf den Zweck
dev Vervollkommnung aller Wesen bezieht, wer das Kecht der
individuellen Eigenthümlichkeit und Entwicklung so lebhaft
vei^eidigt, die endlose Fortdauer des Individuums so wenig
bezweifelt, und selbst eine so scharf ausgeprägte, so subjektiv
zag'espitzte Individualität ist, wie Lessing: der mag von Spi-
noza noch so viel gelernt haben, ein Spinozist kann er nicht
genannt werden. Auch in Betreff der Gottheit wird seine
wix-Mche Meinung nur diese sein, dass zwar alles Endliche
voxi Gott umfasst und in ihm zur Einheit verknüpft sei , dass
es nur an Gott seine Wirklichkeit habe, und aus ihm ver-
flöge der Nothwendigkeit seiner Natur hervorgegangen sei;
da.S8 aber die Gottheit dennoch als eine, unseni Begriflfen
freilich unfassbare, über das Mass der menschlichen Persön-
liclikeit weit hinausgehende Intelligenz gedacht werden müsse.
^^^ „persönliche extramundane Gottheit" konnte er sich
^elt denken; dass er dagegen die Gottheit, gerade um sie
sich persönlich denken zu können, sich mit Vorliebe als Welt-
sö^le vorstellte, haben wir von Jacobi selbst gehöi-t. Zu einer
^'issenschafllich befiiedigenden Vereinigung dieser Vorstel-
lungen die Mittel zu besitzen, konnte Lessing selbst am wenig-
sten glauben ; nur kann man daraus nicht schliessen , dass es
^m init der einen oder der andern derselben nicht ernst ge-
wesen, oder dass er in den letzten Jahren seines Lebens
^rWich von Leibniz zu Spinoza übergetreten sei: das Ge-
spräcli mit Jacobi fällt ja genau in dieselbe Zeit (1780), wie
^c Herausgabe der „Erziehung des Menschengeschlechts", in
296 Leasing als Theolog.
keit könne von dem Begriff derselben, der in Gott sei, nie
verschieden sein, sonst müsste ja etwas in ihnen sein, wovan]
Gott keinen Begriff hätte; und im „Christenthum der Ver-
nunft" (XI, b, 243 f.) sagt er, die Weltschöpftmg bestehe in
nichts anderem, als darin, dass Gott seine Vollkommenheiten
zertheilt, denke; denn da jeder Gedanke bei Gott eine
Schöpfung sei, so sei jenes Denken das Erachaffen von Wesen,
wovon jedes etwas von seinen Vollkommenheiten habe. Dar
mit stimmt auch die Erziehung des Menschengeschlechts (§ 75.
X, 322) tiberein, wenn sie den Sohn Gottes, in welchem dieser
das Gegenbild seiner selbst anschaue, als „den selbständigen
Umfang aller seiner Vollkommenheiten" definirt, „gegen den
und in dem jede UnvoUkommenheit des Einzelnen ve^
schwinde"; denn diese Bezeichnung passt eben nur auf die
Welt, in welcher die unvollkommenen Einzelwesen sich durch
ihren harmonischen Zusammenhang zu einem vollkommenen
Ganzen verknüpfen. Aber doch hat er nirgends gesagt, dass
er Gott für die Substanz der Welt halte, und in dem Sinn,
in dem Spinoza diess gesagt hat, hätte er es auch nicht
sagen können. „Die orthodoxen Begi-iffe von der Gotthdt
allerdings," erklärt er bei Jacobi, „sind nicht mehr fftr mich;
ich kann sie nicht gemessen. "^Ev yial tcSvI Ich weiss nichts
anders." Allein er ist weit entfernt, darum die endlichoi
Dinge ohne weiteres zu Modificationen des göttlichen Wesens
und ihre allgemeinsten Eigenschaften zu Attributen der Gott-
heit zu machen. „Ausdehnung, Bewegung, Gedanken,'' sagt
er auch bei Jacobi, „sind offenbar in einer höheren Kraft ge-
gründet, die noch lange damit nicht ei-schöpfl ist" Diese
Kraft müsse unendlich vortrefflicher sein, als jede ihrer Wir-
kungen (bei Spinoza ist sie der Summe ihrer Wirknngoi
gleich), und so könne es auch eine Art des Genusses für sie
geben, der nicht allein alle unsere Begriffe übersteige, sondern
völlig ausser dem Begriff liege. Uebereinstimmend damit be-
zeichnet er in der Erziehung des Menschengeschlechts (§ 73)
die Einheit Gottes als eine (für uns) transscendentale, knUpft aber
daran unmittelbar jene Deutung der Trinitätslehre an, welche
LessiDg als Theolog. 299
die Ansicht von der altkirchlichen Lehre, welche die Männer
dex* Aufklärung auszusprechen pflegten, und die Behandlung,
welche sie ihr angedeihen liessen, nicht ohne weiteres gut-
heissen. Er konnte diess nicht, einmal, weil es ihm seine
kritische Natur, und sodann, weil es ihm sein geschichtlicher
Sinn nicht erlaubte. Ein abgesagter Feind alles Dogmatismus,
fand er auch an dem Dogmatismus der Aufklärung kein Ge-
fallen. Diese Aufkläning war ihrer Sache so sicher, ihr Ur-
theil über die Orthodoxie war so feiüg, es hatte sie so wenig
XJntei-suchung gekostet: die Orthodoxie stand mit der auf-
geldäi-ten Vernunft offenkundig im Widerspruch, was brauchte
es iRreiter Zeugniss? Für einen Mann, wie Lessing, musste es
einen eigenthümlichen Reiz haben, sie aus dieser Sicherheit
aufzustören, ihr zu zeigen, dass in jener verachteten und ge-
schmähten Orthodoxie mehr Vernunft stecke, als sie wisse,
und dass nur sie nicht aufgeklärt genug sei, um diese Ver-
nunft in ihr zu entdecken. Je zuversichtlicher ihm eine Be-
hauptung entgegentrat, um so misstrauischer wurde er gegen
sie, und es ist hiefür bezeichnend, was er selbst (XI, b, 171)
ims von dem Eindnick erzählt, welchen die Schriften für und
wider das Christenthum auf ihn gemacht haben, dass dieser
nämlich regelmässig das Gegentheil von dem gewesen sei,
was die Verfasser beabsichtigten: je bündiger ihm der eine
das Christenthum enveisen wollte, desto zweifelhafter sei er
geworden, je triumphirender es der andere zu Boden treten
wollte, desto geneigter habe er sich gefühlt, es wenigstens in
seinem Heraen aufrecht zu erhalten. Mit dieser seiner kriti-
schen Neigung verband sich aber im vorliegenden Fall noch
ter geschichtliche Sinn , welcher in Lessings innei*stem Wesen
begründet und neben seinen philologisch -historischen -Studien
^^amentlich auch durch den Einfluss der Leibnizischen Philo-
sophie genährt war. Leibniz hatte ihn gelehrt, jede Person
und jede Erscheinung in ihrer Eigenthümlichkeit zu achten,
jeder ein Recht zum Dasein zuzugestehen. Wo er diesen
Grundsatz verletzt fand, da war er zum voraus überaeugt,
die Sache nicht gehörig untei'sucht sei, da war es ihm
S.i
*« ■•■
296 Leasing als Theolog.
keit könne von dem Begriff derselben, der in ' *
verschieden sein, sonst müsste ja etwas in ihi "'
Gott keinen Begriff hätte; und im „Christen "•'*
nunft" (XI, b, 243 f.) sagt er, die Weltschöp;
nichts anderem, als darin, dass Gott seine Vc ''^'
zertheilt, denke; denn da jeder Gedanke i • ■'
Schöpfung sei, so sei jenes Denken das Erschati -
wovon jedes etwas von seinen Vollkommenheit '^■•''=
mit stimmt auch die Erziehung des Menschenget
X, 322) überein, wenn sie den Sohn Gottes, in %
das Gegenbild seiner selbst anschaue, als „den
Umfang aller seiner Vollkommenheiten" definirt,
und in dem jede Unvollkommenheit des Eii -
schwinde"; denn diese Bezeichnung passt eben
Welt, in welcher die unvollkommenen Einzelweseii
ihren harmonischen Zusammenhang zu einem vo
Ganzen verknüpfen. Aber doch hat er nirgends g
er Gott für die Substanz der Welt halte, und in
in dem Spinoza diess gesagt hat, hätte er es k.
sagen können. „Die orthodoxen Begiiffe von dei
allerdings," erklärt er bei Jacobi, „sind nicht mehr
ich kann sie nicht gemessen. ^Ev yial Ttävl Ich we.
anders." Allein er ist weit entfernt, darum die l
Dinge ohne weiteres zu Modificationen des göttlichen
und ihre allgemeinsten Eigenschaften zu Attributen d
heit zu machen. „Ausdehnung, Bewegung, Gedanken»
er auch bei Jacobi, „sind offenbar in einer höheren Kr
gründet, die noch lange damit nicht ei-schöpft ist."
Kraft müsse unendlich vortrefflicher sein, als jede ihrei
kungen (bei Spinoza ist sie der Summe ihrer Wirl
gleich), und so könne es auch eine Art des Genusses i
geben, der nicht allein alle unsere Begriffe übersteige, 8
völlig ausser dem Begriff liege. Uebereinstimmend dai|
zeichnet er in der Erziehung des Menschei
die Einheit Gottes als eine (für uns) transseeodi
daran unmittelbar jene Deutung der Trii
Lessing als Theolog. 299
5 Ansicht von der altkirchlichen Lehre, welche die Männer
r Aufklärung auszusprechen pflegten, und die Behandlung,
Iche sie ihr angedeihen liessen, nicht ohne weiteres gut-
Lssen. Er konnte diess nicht, einmal, weil es ihm seine
Itische Natur, und sodann, weil es ihm sein geschichtlicher
m nicht erlaubte. Ein abgesagter Feind alles Dogmatismus,
id er auch an dem Dogmatismus der Aufklärung kein Ge-
len. Diese Aufklärung war ihrer Sache so sicher, ihr ür-
eil über die Orthodoxie war so feiüg, es hatte sie so wenig
itei-suchung gekostet: die Orthodoxie stand mit der auf-
^Idäi-ten Vernunft offenkundig im Widerspruch, was brauchte
weiter Zeugniss? Für einen Mann, wie Lessing, musste es
aen eigenthümlichen Reiz haben, sie aus dieser Sicherheit
ifzustören, ihr zu zeigen, dass in jener verachteten und ge-
hmähten Orthodoxie mehr Vernunft stecke, als sie wisse,
ad dass nur sie nicht aufgeklärt genug sei, um diese Ver-
inft in ihr zu entdecken. Je zuversichtlicher ihm eine Be-
anptung entgegentrat, um so misstrauischer wurde er gegen
le, und es ist hiefür bezeichnend, was er selbst (XI, b, 171)
ns von dem Eindmck erzählt, welchen die Schriften für und
ider das Christenthum auf ihn gemacht haben, dass dieser
ämlich regelmässig das Gegentheil von dem gewesen sei,
^as die Verfasser beabsichtigten: je bündiger ihm der eine
as Christenthum erweisen wollte, desto zweifelhafter sei er
©worden, je triumphirender es der andei*e zu Boden treten
tollte, desto geneigter habe er sich gefühlt, es wenigstens in
Einern Herzen aufrecht zu erhalten. Mit dieser seiner kriti-
Aen Neigung verband sich aber im vorliegenden Fall noch
ör geschichtliche Sinn , welcher in Lessings innei-stem Wesen
ögilindet und neben seinen philologisch -historischen -Studien
toentlich auch durch den Einfluss der Leibnizischen Philo-
>phie genährt war. Leibniz hatte ihn gelehrt, jede Person
Qd jede Erscheinung in ihrer Eigenthümlichkeit zu achten,
der ein Recht zum Dasein zuzugestehen. Wo er diesen
rundsätz verletzt fand, da war er zum voraus überaeugt,
ISS die Sache nicht gehörig untei-sucht sei, da war es ihm
298 Lessing als Theolog.
der er beweist, dass Gott die vollständigste Vorstellung von
sich selbst haben müsse, und die geschichtliche Entwicklung
der Menschheit so ganz in Leibniz' Sinn als eine göttliche Er-
ziehung darstellt.
Welche Stellung konnte nun ein Mann von dieser Denkungs-
ai-t und diesen Ansichten zu der Theologie seiner Zeit und
den verschiedenen Parteien in dei-selben einnehmen? Dass
ein Lessing kein Anhänger des orthodoxen Lehi-systems war
und sein konnte, liegt am Tage. Er selbst nennt bei einer
Gelegenheit, wo er seinem Herzen Luft machen kann, ohne
fremde Gefühle zu verletzen , in einem Brief an Mendelssohn
aus dem Jahr 1771 (XII, 336 flf.), dieses System, so wie es
vorlag, geradezu „das abscheulichste Gebäude von Unsinn",
dessen Umsturz zu befördern er sich zur Pflicht macht ; und in
demselben Briefe nimmt er die herben Urtheile des Reimarus
über Patriarchen und Propheten mit der Bemerkung in Schutz:
so lange uns diese Männer als Tugendmuster, ihre Handlungen
als Bestandtheile einer göttlichen Offenbarung dargestellt
werden, könne man nicht, wie man sonst allerdings thun
müsste, das Mass ihrer Zeit an sie anlegen und sie auT^
diesem Wege entschuldigen, der Weise müsse vielmehr „mit
aller der Verachtung von ihnen sprechen, die sie in unsei
bessern Zeiten verdienen würden, und in noch bessern, nocl
aufgekläi-tera Zeiten nur immer verdienen können." Dei
Supranaturalismus des Kirchenglaubens als solchem tritt Les
sing mit einfacher, klarer, scharfer Verneinung entgegen; vo:
allen jenen Wendungen, wodurch Leibniz und Wolflf nebe"
dem natürlichen Lauf der Dinge für gewisse Fälle auch noc"
die Möglichkeit übernatürlicher Erfolge zu retten vei-suchtet:»-»
findet sich bei ihm keine Spur; in dieser Beziehung ist ^^r
mit den entschiedensten unter den Aufklärern ganz einveac-
standen. Wie er Jacobi's Glaubensphilosophie gegenüber d^»^
bei blieb, „dass er sich alles natürlich ausgebeten hab^"^
wollte*', so musste er dem alten Wunderglauben gegenüb^^^
mindestens ebenso unveiTückt an der Unverbrüchlichkeit d*
Naturzusammenhangs festhalten. Aber trotzdem konnte
Lessing als Theolog. 299
die Ansicht von der altkirchlichen Lehre , welche die Männer
der Aufklärung auszusprechen pflegten , und die Behandlung,
welche sie ihr angedeihen liessen, nicht ohne weiteres gut-
Mssen. Er konnte diess nicht, einmal, weil es ihm seine
Isritische Natui', und sodann, weil es ihm sein geschichtlicher
Sinn nicht erlaubte. Ein abgesagter Feind alles Dogmatismus,
fand er auch an dem Dogmatismus der Aufklärung kein Ge-
fallen. Diese Aufkläning war ihrer Sache so sicher, ihr ür-
theil über die Orthodoxie war so fertig, es hatte sie so wenig
Untersuchung gekostet: die Orthodoxie stand mit der auf-
geklärten Vernunft offenkundig im Widerspruch, was brauchte
^ weiter Zeugniss ? Für einen Mann, wie Lessing, musste es
einen eigenthümlichen Reiz haben, sie aus dieser Sicherheit
aufeustören, ihr zu zeigen, dass in jener verachteten und ge-
schmähten Orthodoxie mehr Vernunft stecke, als sie wisse,
und dass nur sie nicht aufgeklärt genug sei, um diese Ver-
nunft in ihr zu entdecken. Je zuversichtlicher ihm eine Be-
iauptung entgegentrat, um so misstrauischer wurde er gegen
sie, und es ist hiefür bezeichnend, was er selbst (XI, b, 171)
uns von dem Eindnick erzählt, welchen die Schriften für und
^der das Christenthum auf ihn gemacht haben, dass dieser
iiämlich regelmässig das Gegentheil von dem gewesen sei,
^as die Verfasser beabsichtigten: je bündiger ihm der eine
das Christenthum einweisen wollte, desto zweifelhafter sei er
geworden, je triumphirender es der andere zu Boden treten
Sollte, desto geneigter habe er sich gefühlt, es wenigstens in
Seinem Hei^zen aufrecht zu erhalten. Mit dieser seiner kriti-
schen Neigung verband sich aber im vorliegenden Fall noch
^ler geschichtliche Sinn, welcher in Lessings innei-stem Wesen
begründet und neben seinen philologisch -historischen -Studien
Namentlich auch durch den Einfluss der Leibnizischen Philo-
sophie genährt war. Leibniz hatte ihn gelehrt, jede Pei^son
"^nd jede Erscheinung in ihrer Eigenthümlichkeit zu achten,
jeder ein Recht zum Dasein zuzugestehen. Wo er diesen
Orundsatz verletzt fand, da war er zum voraus tiberaeugt,
dass die Sache nicht gehörig untei-sucht sei, da war es ihm
300 Lessing als Theolog.
Bedüifaiss, die Akten aufs neue vorzunehmen und das land-
läufige Urtheil zu berichtigen. In diesem Sinn hatte schon
der Fünfundzwanzigjährige jene „Rettungen" geschrieben , »in
denen er darauf ausgieng, vei-schiedene, meist wenig bekannte
und wenig bedeutende Pei*sönlichkeiten gegen Beschuldigungen
in Schutz zu nehmen, die ihnen seiner Ansicht nach mit Un-
recht gemacht waren. Und ein solcher Mann hätte über Er-
scheinungen, welche für das geistige Leben der Menschhei'
die höchste Bedeutung gehabt, über Gedankenkreise, die vieli
Jahrhunderte beherrscht haben, ohne weiteres den Stal
brechen sollen? Diese Vorstellungen mögen vielleicht fiL^m-
uns nicht mehr zu brauchen sein, sie mögen so, wie sie sicTi
geben, mit unsem vorgeschrittenen Begriffen durchaus im
Widei-spmch stehen, aber irgend etwas muss in ihnen sein,
was ihnen für ihre Zeit einen Werth gegeben hat, irgen.<i
eine Wahrheit, die sie in ihrer Weise ausgesprochen, durcli
die sie das Bedtirfniss derer, für welche sie zunächst bestimmt
waren, befriedigt haben. So vollkommen sich daher Lessin^
seines Gegensatzes gegen das orthodoxe System bewusst ist,
so geneigt ist er doch, die möglichste Toleranz gegen dasselbe
zu üben, seine Berechtigung für eine bestimmte Zeit und
Bildungsstufe anzuerkennen und in Voi*stellungen , welche ihm
selbst gänzlich fremd geworden sind, nach der Wahrheit zu
suchen, die in ihnen, wenn auch unklar und mit halbem Be-
wusstsein, niedergelegt sei.
Aber an Eine Bedingung ist diese Duldsamkeit bei ihm
geknüpft: dass die Orthodoxie nichts anderes sein will, als
was sie wirklich ist, dass sie ihrem urspillnglichen Charakter
als Offenbarungs- und Auktoritätsglauben treu bleibt und sich
nicht den Schein einer Vemunftmässigkeit gibt, der ihre©
ganzen Wesen widei-spricht, nicht das Gewand einer Aufklärung
umhängt, mit der sie von Hause aus nichts zu thun hat Di^
alte strenge Orthodoxie, in ihrer grossartigen Gleichgültigkeit
gegen die Ansprüche der menschlichen Vernunft, kann er
achten ; für die Halborthodoxie seiner Zeit, für diese Vermitte-
lungstheologie , welche höchst gläubig und höchst vemünfti? Kc
Lessing als Theolog. 301
[leich sein wollte, hat er nur Widerwillen und Gering-
sdiätzung. Eine solche Verquickung widerstreitender Ele-
mL^nte widersprach von Hause aus der Klarheit und Ent-
scliiedenheit seines Wesens. Er fand diese „schielende, hinkende,
sLcli selber ungleiche Orthodoxie so ekel, so wideratehend , so
aurfstossend" (X, 28), und schon in einer seiner frühesten
Soliriften (XI, a, 32) äussert er sich mit schneidender Ironie
über diese vortreflf liehe Zusammensetzung von Gottesgelahi-theit
uxid Weltweisheit, worin man mit Mühe und Noth eine von
Aex: andern unterecheiden könne und jede die andere schwäche.
Ex- verachtete, wie er seinem Bruder schreibt, die Orthodoxen,
aber er verachtete „die neumodischen Geistlichen noch mehr,
die Theologen viel zu wenig und Philosophen lange nicht genug
seien" (XII, 469), jenes „vernünftige Christenthum", von dem
ina.li so eigentlich nicht wisse, weder wo ihm die Vernunft,
B.och wo ihm das Christenthum sitze (IX, 409). Der ganze
öegner war ihm lieber, als der halbe, der offene lieber, als
iex heimliche. Und nicht einmal das konnte er zugeben, dass
jener gefährlicher sei, als dieser. Im Gegentheil. Die Oitho-
ioxen, sagt er, waren leicht zu widerlegen. „Sie brachten
alles gegen sich auf, was Veniunft haben wollte und hatte."
Einen weit schlimmeren Stand hat man denen gegenüber,
»welche die Vernunft erheben und einschläfern, indem sie die
Widersacher der Offenbarung als Widersacher des gesunden
Menschenvei-standes verschreien. Sie bestechen alles, was
Vernunft haben will und nicht hat" (X, 18). Mit der Ortho-
doxie war man so weit;, dass die Philosophie neben ihr ihren
Weg gehen konnte, ohne sich um sie zu bekümmern. Jetzt
^'^sst man die Scheidewand zwischen beiden nieder, „und
^Ächt uns unter dem Voi-wand , uns zu vernünftigen Christen
^*^ machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen." Diesem
^^nnen, erklärt Lessing, wolle er sich mit aller Macht wider-
^2en. „Meines Nachbars Haus droht ihm den Einsturz.
^^Tin es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich
^^Ifen. Aber er will es nicht abtragen, sondeni er will es
^^t gänzlichem Ruin meines Hauses stützen und unterbauen.
302 Leasing als Theolog.
Das soll er bleiben lassen, oder ich werde mich seines ein-
stürzenden Hauses so annehmen, als meines eigenen" (XII.
485). In dieser Aeusserung gegen seinen Binder hat Lessing
seine innerste Meinung ausgesprochen. Die alte Orthodoxie
ist ihm lieber als die neumodische, weil jene offenbar gegen
die Vernunft ist, und desshalb im Zeitalter der Aufkläning
wenig Schaden mehr stiften wird; wogegen diese, an sich
selbst um nichts vernünftiger, den Schein der Vemünftigkeit
annimmt, den Neigungen der Zeit schmeichelt, und dadurch
die Aufgeklärten und Gebildeten bei einem Glauben festhält,
von dem sie jene wegscheuchen würde. So lange es daher
noch nicht an der Zeit ist, mit dem Dogmenglauben ganz auf-
zuräumen, will er ihn lieber in seiner alten, krasseren Ge-
stalt stehen lassen: die Orthodoxie ist ihm, mit der Halb-
orthodoxie verglichen, nicht etwas vorzüglicheres, sondern nur
ein geringeres Uebel.
Nichtsdestoweniger ist Lessing weder ein Gegner der Re-
ligion, noch ein Gegner des Christenthums. Aber er glaubt,
dass die Religion etwas anderes sei, als die Dogmatik, und das
Christenthum etwas anderes, als die Orthodoxie. Das Wesen
und der Werth der Religion liegt seiner Ansicht nach einzig
und allein in ihrer sittlichen Wirkung; diese Wirkung ist aber
nicht so abhängig von den Glaubensvoi-stellungen, dass es niclit
Anhänger verschiedener und in ihren Glaubenslehi'en sich be-
streitender Religionen in der Tugend, und somit auch in der
Frömmigkeit, gleich weit bringen könnten. Wenn aber dieses,
so dürfen wir von niemand um seines religiösen Bekenntnisses
willen eine schlechtere Meinung haben, als von einem andern:
über den Werth des Menschen entscheidet nicht sein Glaube,
sondern sein Leben und sein Charakter.
Auf diesem Standpunkt treffen wir Lessing schon frühe,
mag er auch ei*st in der Folge bei ihm zur vollen Elarfaät
und Entschiedenheit gekommen sein. Schon unter seinen
dramatischen Jugendarbeiten finden sich zwei, beide aus seinen
21. Jahr, in denen er sich ankündigt: der Freigeist und die
Juden. In jenem werden die Voi-ui-theile eines Freidenkers
Lessing a^s Theolog. 303
gegen die Geistlichen durch den voilreflflichen Charakter eines
jungen frommgläubigen Predigers widerlegt, in diesen die
Vorunheile der Christen gegen die Juden durch den Edelsinn
eines Juden. Es wird also anerkannt, dass die gleiche sitt-
liche Vortreflflichkeit mit sehr verschiedenen religiösen An-
sichten zusammenbestehen könne. Nicht lange nachher (1750 —
1752) schrieb Lessing das Bruchstück: „Gedanken über die
HeiTenhuter" *). Wenn er es hier beklagt, dass das aus-
übende Christenthum im Laufe der Zeit immer mehr abge-
nommen habe, das beschauende dagegen immer höher ge-
stiegen sei; wenn er die Absicht Christi darin findet, „die
Religion in ihrer Lauterkeit wiederherzustellen und sie in die-
jenigen Grenzen einzuschliessen , in welchen sie desto heil-
samere und allgemeinere Wirkungen hervorbringt, je enger
die Grenzen sind" ; wenn er der Theologie einen Mann wünscht,
der sie ähnlich, wie Sokrates die Philosophie, von den un-
fruchtbaren Theorieen zum Handeln zurückführe; wenn er
eben diess als die eigenthümliche Leistung Zinzendoiiis iUhmt,
und aus diesem Gesichtspunkt die damals noch junge und
vielfach angefochtene Brüdergemeinde in Schutz nimmt, so
sehen wir deutlich, wie ausschliesslich ihm selbst die Bedeu-
tung der Reli^on in ihren sittlichen Wirkungen aufgeht. Ver-
gleichen wir nun damit die Schriften aus den letzten Jahren
seines Lebens, so begegnen wir in ihnen derselben üeber-
zeugung, nur dass sie uns noch gereifter, in voller gnind-
sätzlicher Entschiedenheit entgegentritt. Im „Testament Jo-
hannis" (X, 42 flf.) führt er aus, dass es mit dem Christen-
thum viel besser ausgesehen habe, so lange man für
die Hauptsache darin noch das Gebot der Liebe hielt, als
jetzt, wo man die Dogmatik für diese Hauptsache halte. In
dem kleinen Aufsatz: „Die Religion Christi" (XI, b, 242)
nnteracheidet er zwischen der Religion Christi und der christ-
lichen Religion. Jene ist die Religion, die Christus selbst als
Mensch übte, die Religion der Frömmigkeit und Menschen-
*) Vgl Hebler S. 22 ff.
304 Lessing als Theolog.
liebe; diese die Religion, welche Christus als übermenschliches
Wesen zum Gegenstand ihrer Verehrung macht. Jene ist
vollkommen klar und für alle Menschen ; diese ist so ungewiss^
und zweideutig, dass keine zwei Menschen daiHber einig sind^
Im „Ernst und Falk" (X, 245 flf.) stellt er der Freimaurerei
die ideale Aufgabe, den üebeln entgegenzuarbeiten, welche di^
bürgerliche Gesellschaft im Gefolge ihrer unläugbaren Wohl--
thaten unveiineidlich mit sich führe, indem sie die Menschen
durch die Vei-schiedenheit der Staaten, der Stände und dei:
Religionen von einander trenne; was, die letzteren betreffend,
doch nur heissen kann : sie solle die durch ihren Glauben ge-
trennten auf dem gemeinsamen Boden der Humanität wieder
vereinigen. Das herrlichste Denkmal dieser Gesinnung ist
aber der Nathan. Der leitende Gedanke dieses Stücks li^
in dem Satze, dass die Bekenner der vei*schiedenen Religionei
in dem Gefühl ihrer natürlichen Verwandtschaft als Menschei
sich zusammenfinden, und dass jede positive Religion nur in
dem Mass auf Geltung Anspruch habe, in dem sie jenes rein
menschliche Gefühl nährt und sich so durch ihre sittlichea
Wirkungen bewähi-t; „dass Ergebenheit in Gott von unsrem
Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhänge", dass die
„unbestochene , von Vorurtheilen freie Liebe", die Sanftmuth,
die Verti-äglichkeit, das Wohlthun, die innigste Ergebenheit
in Gott es seien, worin die Kraft des Glaubens sich zu äussern
habe und wodurch sein Werth allein bestimmt werde. Der
Nathan ist die dichterische Verhen'lichung einer Aufkläning,
welche das gemeinsam Menschliche für wichtiger hält, als das
Positive, die Sittlichkeit für wichtiger, als das Dogma, nnd
welche desshalb auch jeden Einzelnen nicht nach dem be-
uiiiheilt, was er glaubt, sondern nur nach dem, was er ist
und was er thut. Diese Verherrlichung ist aber zugleieb
Lessings eigenes Glaubensbekenntniss, und wenn er uns audi
nicht selbst sagte, „Nathans Gesinnung gegen alle positiv^
Religion sei von jeher die seinige gewesen" (XI, b, 168), 8^
würden wir es schon der Wärme , mit der er ihn geschildert-^^
der Liebe, mit der er sein Bild ausgefühi-t hat, anfühlen, das^^
Lessing als Theolog. 805
sein Held in diesem Falle er selbst, oder genauer, sein eigenes
Ideal ist, dass er ihm das Beste, was er hat und weiss, in
den Mund gelegt hat
Welche Bedeutung lässt sich aber auf diesem Stand-
punkt der positiven Religion und insbesondere dem Christen-
thum beilegen?
Hierüber hat sich Lessing in seinen fi-üheren Schiiften
immer nur beiläufig und mit Beschränkung auf einzelne Fragen
erklärt. Im „Christenthum der Veiiiunft" (XI, b, 243) machte
er den Versuch, die Lehre von der Dreieinigkeit aus Ver-
nunftgründen abzuleiten, indem er nach Leibniz' Vorgang aus-
flllirte, dass Gott, indem er sich von Ewigkeit her in seiner
ganzen Vollkommenheit dachte, ebendadurch ein sich selbst
gleiches Wesen geschaffen habe. Aber welchen Werth er
selbst diesem Glauben beilegte, inwieweit seine Ableitung des-
selben ernstlich oder nur versuchsweise gemeint war, lässt sich
schwer ausmachen; jedenfalls würde aber durch dieselbe die
LiCjhre, die sie begiünden soll, aus einer positiven zu einem
Theil der Vernunftreligion erhoben; wenn er endlich die
gleiche Deduktion in einer seiner letzten Schiiften (Erz. d. M.
§ 73) wiederholt hat, so gibt er sie hier theils nur als einen
Dac%lichen Vei'such, in der Lehre von der Dreieinigkeit nur
überhaupt einen vernünftigen Sinn zu finden, theils ist das,
worauf sie schliesslich hinausläuft, wenn wir näher zusehen,
^cht mehr die Dreiheit der Pei-sonen in Gott, sondern die
Nothwendigkeit, dass Gott in der Welt ein Gegenbild seiner
^ollkonmienheit schaffe. Noch weniger lässt sich aus seinen
Bemerkungen über die Abhandlung, in der Leibniz Wissowatius'
anwürfe gegen die Trinität bekämpft hatte (IX , 255 flf.), auf
deinen Glauben an dieses Dogma schliessen, ja er sagt nicht
^^nnxal, dass er jene Einwürfe durch Leibniz wirklich wider-
^ finde, sondern nur, dass Leibniz Recht gehabt habe,
^^n er es für eine Inconsequenz und einen Widersinn hielt,
*^^tus mit der Mehraahl der Socinianer zwar die göttliche
^^tur abzusprechen, aber ihm trotzdem eine göttliche Würde
^4 Verehrung zuzugestehen. Auch eine zweite Abhandlung
^ eil er, Vorträge und Abhandl. 20
306 Lessing als Theolog.
aus demselben Jahre (1773), welche gleichfalls der Vertheidi-
gung einer Leibnizischen gewidmet ist, die über ^Leibniz von
den ewigen Strafen" (X, 146 ff.), würde man vergebens zu
Hülfe inifen, um Lessings Orthodoxie zu retten, oder auch nur
für einzelne Punkte seine Uebereinstimmung mit dem christ-
lichen Dogma zu erweisen. Denn die biblische und kirchliche
Lehre wird hier von ihm in einem ihr selbst durchaus frem-
den Sinn umgedeutet. An die Stelle der himmlischen Selig-
keit und der höllischen Verdammniss treten die natürlichen
Wirkungen unserer guten und schlechten Handlungen, und
die Ewigkeit der Höllenstrafen wird darin gefunden, dass sich
diese Wirkungen, wie alles, was einmal in den Naturzu-
sammenhang eingetreten ist, in ihren Folgen auf alle Zukunft
forterstrecken. Himmel und Hölle sind nicht mehr getrennte
Orte und Zustände, sondern jeder soll, wenn er auch im
Himmel wäre, in dem Schlechten, was er gethan hat, seine
Hölle, und wenn er auch in der Hölle wäre, in dem Gutöi,
was er gethan hat, seinen Himmel in sich tragen. Wenn
auch solcher Ausführungen von Lessing noch viel mehitire
vorlägen, würden sie doch immer nur diess darthun, dass dx"
für die christlichen Dogmen die Möglichkeit einer vernünftigen
Deutung retten wollte, ohne doch dämm irgend eine von ihren
Bestimmungen so, wie sie im kirchlichen Lehrbegriflf gefasst
ist, zu vertreten; dass er glaubte, es liegen denselben Wahr-
heiten zu Grunde, welche allerdings „mehr dunkel empftmdai»
als klar erkannt, hinlänglich gewesen seien, darauf zu bringwi* •
Es handelte sich fttr ihn bei allen diesen Erörterungen vlXBX
um die historische Gerechtigkeit gegen das Dogma, nicht nf«^
den Ei-weis seiner absoluten Wahrheit, seiner Geltung für udS»
Lessing tadelte es an der Aufklärung seiner Zeit, dass sie dies^
historische Gerechtigkeit verletzte, dass sie wesentliche Be^
Stimmungen des kirchlichen Glaubens einfach als Ungereimt-
heiten behandelte; sofern abei* seine dogmatische Zustimmung
zu denselben gefordert wurde, stand er ihnen nicht weniger
frei und ablehnend gegenüber als jene.
Lessiüg als Theolog. 307
Zu einer eingehenderen Darlegung seiner Ansicht über die
positive Religion wurde Lessing durch die Streitigkeiten ver-
anlasst, in welche ihn die Herausgabe der Wolfenbüttler Frag-
mente verwickelte.
Die „Schutzschiift fttr die vernünftigen Verehrer Gottes",
welche der Hamburger Professor Hermann Samuel Rei-
marus verfasst, aber nicht veröflfentlicht hatte*), ist der
gründlichste und unumwundenste Angiiflf auf das Christen-
thum und die geofFenbarte Religion überhaupt, der bis dahin
unternommen worden war. Der Verfasser dieser Schi-ift war
ein Mann, welcher wegen seines Charakters und seiner Ge-
lehrsamkeit mit Recht in der höchsten Achtung stand; ein
entschiedener Anhänger der Wolffischen Philosophie, deren
theologische Consequenzen kein anderer so klar erkannt, so
scharf entwickelt hat; ein Schriftsteller, dem nicht blos seine
gelehi-ten philosophischen Arbeiten, sondern auch seine viel-
gelesenen Abhandlungen aus dem Gebiete der natürlichen
Theologie einen bedeutenden Namen gemacht hatten. Wenn
er seine Zweifel gegen den Glauben seiner Kirche zu Papier
brachte und ein Menschenalter hindurch in immer neuen Be-
arbeitungen seines ersten Entwurfs weiter ausführte, so war
es ihm dabei in erster Linie nicht um eine Wirkung auf
andere, sondern um Klarheit und Gewissheit für sich selbst
zuthun: er wollte einem Bedürfniss seines wahrheitsuchen-
den Geistes, seines wissenschaftlichen Gewissens, genugthun
^d wenigstens vor sich selbst und vor seinen vertrautesten
Freunden aussprechen, was er öffentlich zu sagen sich nicht
getraute, und was seine Zeit, wie er glaubte, zu hören noch
nicht reif war. Er sprach es daher auch mit aller der Offen-
heit aus, die ein klardenkender Mensch vor sich selbst be-
obachtet. Was sich ihm in enister Untersuchung ergeben
hatte, das wollte er hier i-ückhaltlos niederlegen, ohne von
irgend einer Folgerung, wie auffallend und lästerlich sie auch
*) Das nähere Über dieselbe bei Strauss, H. S. Beimarus u. s.
Schatzschrift u. s. w. Leipzig 1862.
20*
308 Lessing als Theolog.
der herrschenden Meinung erscheinen mochte, zurückzu-
weichen. Es begreift sich, dass ein Lessing sich durch das
Werk des Beimarus im höchsten Grade angezogen fand, als
es ihm nach dem Tode seines Verfassers von der ihm nahe
befreundeten Familie desselben mitgetheilt wurde. Hier fand
er, was er bisher bei den Vertretern der theologischen Auf-
klärung vergebens gesucht hatte, eine Kritik aus Einem Stücke,
eine lilcksichtslose , auf den Gnind gehende Kritik, das ge-
rade Gegentheil jener ihm so widei-wärtigen Halbheit, welche
die Vertheidiger des Glaubens an die Aufklärung und die
Wortführer der Aufklärung an den Glauben die inconsequen-
testen Zugeständnisse machen hiess ; aber zugleich eine ernste,
mit deutscher Gründlichkeit vorgehende Kritik, welche von
einer umfassenden Gelehrsamkeit und einer streng philosophi-
schen Denkbildung getragen, von dem leichtfertigen Ton und
dem oberflächlichen Absprechen eines Voltaire und seiner
Nachbeter so weit abstand. Wenn es Reimams für vorzeitig
gehalten hatte, mit dieser Kritik vor die Oeflfentlichkeit zu
treten, so war Lessing, jünger und entschlossener als jener,
der Meinung, dass es dazu gerade die rechte Zeit sei, und
da sich dem Drucke des ganzen Werkes Censui-schwierigkeiten
in den Weg stellten, beschloss er, in den von ihm heraus-
gegebenen censurfreien „Beiträgen zur Geschichte und Lite-
ratur" vorerst einige wichtigere Abschnitte desselben als „Frag-
mente eines Ungenannten" bekannt zu machen. Von den sieben
Bruchstücken, welche er von 1774—1778 herausgab, ver-
theidigten die zwei ersten („von Duldung der Deisten" und
„von Verschreiung der Veniunft auf den Kanzeln") das Recht
der freien Forschung im allgemeinen; das dritte bewies i»
höchst schlagender Weise die „Unmöglichkeit einer Offen-
barung, die alle Menschen auf eine gegründete Ai-t glaubeo
können", und die Verkehrtheit der Annahme, dass Gott di^
ewige Seligkeit von dem Glauben an eine der gi-ossen Mehr-
zahl der Menschen unbekannt gebliebene Offenbarung ab-
hängig gemacht habe; das vierte und fünfte besprachen die
alttestamentliche Keligion, indem jenes die Erzählung vom
Lessing als Theolog. 309
Dui-chgang der Israeliten durch das rothe Meer einer un-
erbittlichen Kritik unterwaif, dieses aus dem Inhalt der alt-
testamentlichen Schriften, und namentlich aus dem Fehlen
des Unsterblichkeitsglaubens in denselben, den Beweis zu
führen suchte, dass sie auf den Charakter einer Offenbarungs-
urkunde keinen Anspmch machen können. Das sechste
Bruchstück gewann durch eine sorgfältige Untei*suchung der
evangelischen Berichte über die Auferstehung Jesu das Er-
gebniss, dass die Erzählungen über dieselbe der unlösbarsten
Widersprüche, der grellsten ünwahrscheinlichkeiten voll seien,
dass seine Jünger, ebenso wie er selbst von seinem Untergang
überrascht und in ihren messianischen Erwai*tungen getäuscht,
nun erst die Weissagungen Jesu über seinen Tod, seine Auf-
erstehung und seine dereinstige Wiederkunft erdichtet, seinen
Leichnam heimlich aus dem Grab entfernt und die mancherlei
Erzählungen von Erscheinungen des Auferstandenen in Um-
lauf gesetzt haben. Im Zusammenhang damit führte endlich
das letzte, einem etwas früheren Abschnitt des Werks an-
gehörige Bruchstück, welches von Lessing besonders heraus-
gegeben wui'de, die Behauptung durch, Jesus habe nicht blos
die sittliche Vervollkommnung der Menschen durch eine Mo-
nJ, deren Reinheit und Vemunftmässigkeit Reimanis bereit-
willig anerkennt, sondern auch die Gi*ündung eines weltlichen
Messiasreiches beabsichtigt, das mit gewaltsamen Mitteln, durch
t einen Umsturz der jüdischen Verfassung, begründet werden
sollte; erst als durch seine Hinrichtung dieser Plan vereitelt
worden war, seien seine Schüler auf das veränderte System
von dem Opfertod und der VerheiTlichung des Messias ge-
kommen, mit dem es ihnen gelang eine neue Weltreligion zu
begiUnden.
Was Lessing hier mittheilte, war nui* der kleinere Theil
des umfangreichen, auf den historischen und dogmatischen In-
kalt der biblischen Schriften ausführlich eingehenden Werkes
von Reimarus ; aber es war genug , um von dem Geist dieses
Werkes, von der Entschiedenheit und der Bedeutung seiner
Einwürfe gegen den kirchlichen Glauben, eine deutliche Vor-
r
310 Lessing als Theolog.
Stellung zu geben, und es war mehr als genug, um in der
theologischen Welt das höchste Au&ehen, die leidenschaftlichste
Aufi*egung, die heftigsten Angi*üfe auf den Fragmentisten und
seinen Herausgeber hervorzurufen. Lessing hatte zwar nicht
unterlassen, seine eigene Sache von der seines Unbekannten
zu untei*scheiden : er hatte die Miene angenommen , als ob es
ihm bei seiner Publication nur dämm zu thun sei, durch eine
gillndUche Bestreitung der christlichen Religion endlich ein-
mal auch eine gründliche Vertheidigung dei^selben zu veran-
lassen; er hatte auf das eine und andere aufmerksam ge-
macht, was sich dem Yei'fasser entgegenhalten liesse; er hatte
endlich erklärt, dass auch im schlimmsten Fall, wenn dessen
Einwürfe wii'klich unwiderleglich wären, doch nur die Aussen-
werke der Religion davon getroffen würden, die Religion
selbst unversehi-t bliebe. Aber so weit er die Maske des
Apologeten vornahm, war diese doch wirklich zu durchsichtig,
als dass sich irgend jemand so leicht hätte dadurch täuschen
lassen können; und wenn er andererseits die dogmatische
Schale des Christenthums preisgeben wollte, um seinen reli-
giösen Kern zu retten, so Hess sich gleichfalls nichts anderes
erwai*ten, als dass diese Unterscheidung fast allen, den Auf-
klärern wie den Orthodoxen, vollkommen unverständlich sei»
werde, dass die meisten selbst an ihrer Aufrichtigkeit zweifelo
werden. Es konnte so nicht fehlen, dass die Angriffe, welch«
die Kühnheit des Fragmentisten herausforderte, sich sofort
auch gegen Lessing richteten, dass sich dieser schoxi^
im Interesse seiner Selbstveriheidigung zu einem weitereici
Eintreten in die Verhandlungen genöthigt sah. Wir veir-
danken seiner Betheiligung an denselben jene klassischen theo^
logischen Streitschriften, diese unübertroffenen Muster vo^
logischer Schärfe, geistiger Beweglichkeit, polemischer Schlaf-'
fertigkeit, zermalmendem Witz, von lichtvoller Entwicklung^
anschaulicher Darstellung, lebendiger, glücklich g^riffen^^
mit jedem Worte treffender Ausdnicksweise ; jene dramatisch^
Schildeiningen seiner Gegner, welche dem eifrigsten xxxA
plumpsten von ihnen, dem Hamburgischen Hauptpastor Götze,
Lessing als Theolog. 311
die zweideutige Ehre vei-schafft haben, für alle Zeiten, so lange
es eine deutsche Literatui* gibt, als Typus dnes beschränkten
Dogmatikers, eines zudringlichen Gewissensraths , eines un-
duldsamen Zionswächters dazustehen. Wir verdanken ihr
aber auch in und neben diesen Streitschriften eine Reihe der
bedeutendsten sachlichen £röi*terungen, duich welche uns erst
m yollständigei*er Einblick in Lessings Ansicht über Religion
imd Gbristenthum eröffnet wii*d.
Der Punkt, um den sich hiebei alles dreht, ist der schon
berührte : die Untei*scheidung zwischen der Religion als solcher
imd ihrer äusseren Foim, den Lehren, Erzählungen und
Schriftwerken, in denen ihr Inhalt für eine gewisse Zeit nieder-
gelegt wurde. Sofern es sich um die letzteren handelt, ist
Lessing mit Reimarus in der Hauptsache einverstanden. Er
bat wohl von den biblischen Männem und Schriften eine
würdigere und geschichtlich richtigere Vorstellung als jener,
er leitet das Positive in der Religion, was von der Vernunft-
religion abweicht, nicht von betrügerischen Erfindungen und
selbstsüchtigen Beweggründen her; er weiss die unvollkom-
menen Glaubensvoi-stellungen der Vorzeit aus der AUmählich-
r l^eit der geschichtlichen Entwicklung, das Unhistorische in
den biblischen Berichten aus den Umständen , unter denen,
und der Art, in der sie enstanden sind, zu begreifen. Aber
der Unfehlbarkeit dieser Berichte tritt er nicht minder ent-
sehieden entgegen, als sein Fragmentist; er hält z. B. die
Widersprüche, welche dieser in den Ei'zählungen über die
Auferstehung nachweist, in seiner „Duplik" (X, 50 if.) mit
durchschlagender Ueberlegenheit aufrecht*), und den Ortho-
doxen, welche Reimai-us mit der Bemerkung in Verlegenheit
*) Dass er aber zugleich sagt, solche Widersprüche seien bei jeder
GFeschichts&berliefenmg, und auch bei den gesichertsten Thatsachen, un-
yermeidlich (a. a. 0. 58 6.\ ist ein schlechter Trost, wo es sich um eine
Thatsache handelt, fiir die wir unbedingte Gewissheit verlangen müssen.
Gerade auf diese Natur der geschichtlichen üeberlieferung gründet es sich,
dass er (s. u.) aUe geschichtlichen Beweise für die Wahrheit des Christen-
thums unzureichend findet
312 Lessing als Theolog.
gesetzt hatte, dass ein Volk von drei Millionen seinen Durch-
zug durch das rothe Meer unmöglich in Einer Nacht hätte
bewerkstelligen können, weiss er keinen besseren Rath zu
geben, als den ironischen, diese unbegi*eifliche Schnelligkeit
des Durchzugs eben gleichfalls für ein Wunder zu erklären.
Wie er über das kirchliche Lehi-system, wie er über die Mo-
ralität mancher biblischen Personen urtheilt, haben wir schon
fi-üher gehört. Nur braucht man desshalb, wie er glaubt,
die Sache des Ghristenthums und der Religion noch lange
nicht verloren zu geben, „Der Buchstabe," sagt er, „ist
nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Be-
ll gion." Die Religion ist unabhängig von der Bibel in ihrer
Entstehung, sie fällt ihrem Inhalt nach nicht mit jener zu-
sammen, sie hat ihre Wahrheit nicht der Schrift zu verdanken
und soll nicht auf ihr Zeugniss hin angenommen werden.
Das Christenthum war, ehe Evangelisten und Apostel ge-
schrieben hatten." Es hat sich anfangs und hat sich in der
Hauptsache Jahrhunderte lang nicht durch Schriften, sondern,
durch mündliche Mittheilung verbreitet; unsere Evangelien
sind nur allmählich, als secundäre Geschichtsquellen, aus dein,
alten Ebräer-Evangelium, entstanden und noch weit länger hat;
es gedauert, bis die Sammlung der neutestamentlichen Bücher'
zum Äbschluss gekommen war; aber auch nach diesem Zeit-
punkt, wähi'end der ersten vier Jahrhunderte, oder wenigstens bis
zum Concil von Nicäa, suchte die Kirche, wie Lessing glaubt,
ihre höchste dogmatische Auktorität nicht in der Schrift,
sondern in der „Glaubensregel", dem mündlich fortgepflanzten
Bekenntnisse Das Christenthum kann daher in seinem Dasein
unmöglich so abhängig von der Schrift sein , dass es nicht
fortbestehen könnte, wenn auch alles verloren gienge, was
Evangelisten und Apostel geschrieben haben*). Die Schrift
ist aber auch gar nicht so beschaffen, wie sie als die alleinige
*) Man vgl. hierüber ausser den Zusätzen zu den Fragmenten (X, 1^)
die Axiomata X, 129 ff. und die Abhandlungen, welche X, 290-244. 10^
b, 121 ff, 182 £, 187—221. 231 f. stehen.
Leasing als Theolog. 313
[ unfehlbare Quelle unseres Glaubens beschaffen sein müsste.
)en ihrem religiösen Inhalt enthält sie noch sehr vieles,
\ nicht zur Religion gehört und worin sie, wie Lessing
t, „nicht gleich unfehlbar ist" (X, 132 f.); oder vielmehr,
m wir seine eigentliche Meinung wiedergeben wollen, sie
biält unvollkommene und irrige Vorstellungen, Schilde-
gen von Personen und Vorgängen, die uns in keiner Weise
1 Vorbild und zui* Erbauung dienen können, unglaubwürdige
l widerspruchsvolle Erzählungen; und andererseits fehlt
bt blos dem alten Testament, wie Lessing seinem Fragmen-
ten zugibt, der Unsterblichkeitsglaube und selbst der wahre
giiff von der Einheit Gottes (X, 28 f.), sondern auch in
n neuen sieht er, wie wir finden werden , die höchste Stufe
igiöser Erkenntniss noch nicht eiTeicht. Weit entfenit da-
r, dass die Wahrheit der Religion von der Auktorität der
hrift abhienge, hängt vielmehr die Auktorität der Schiift von
rer religiösen Wahrheit ab: „Die Religion ist nicht wahr,
äl die Evangelisten und Apostel sie lehrten, sondern sie
irten sie, weil sie wahr ist; aus ihrer inneren Wahrheit
Issen die schriftlichen Ueberliefeiamgen erklärt werden, und
ö schiiftlichen Ueberlieferungen können ihr keine innere
thrheit geben, wenn sie keine hat" (X, 148 f. 15). Die
Lhrheit einer Religion auf geschichtlichem Wege beweisen
wollen , erscheint unserem Kritiker geradezu widersinnig :
ils weil sich auf diese Art niemals diejenige Sicherheit ge-
inen lässt, deren der religiöse Glaube bedarf, theils weil alle
6 Beweise sich auf etwas anderes beziehen als das, um was
der Religion zu thun ist. Alle geschichtlichen Beweise be-
len auf Zeugnissen und auf unserem Zutrauen zu diesen
ugnissen; sie können daher immer nur Wahi*scheinlichkeit,
^Ueicht die allerhöchste Wahrscheinlichkeit, aber sie können
*ht jene absolute Gewissheit bewirken, die wir verlangen
tesen, wenn wir einen Glaubenssatz annehmen und unsere
'ligkeit darauf gründen sollen. Wäre dem aber auch nicht
) 80 untenichten uns jene Beweise doch immer nur über ge-
inse Thatsachen; in der Religion dagegen handelt es sich
314 Lessing als Theolog.
um unsere moralischen und theologischen Begriffe, und
Begiiife lassen sich nicht aus Thatsachen, sondern nur aus
ihrer inneren Wahrheit beweisen. Von dieser inneren Wahr^
heit der Religion soll sich der Theolog durch Demonstration
überzeugen, dem einfachen Christen genügt hiefür die Er-
fahining von ihren moralischen Wirkungen: jenem wird sie
durch seine Vernunft verbürgt, diesem durch sein Gefühl;
aber weder der eine noch der andere schöpft seinen Glauben
aus der Geschichte. „Zufällige Geschichtswahrheiten," sagt
Lessing, „können der Beweis von nothwendigen Vemunft-
wahrheiten nie werden." Auch über das Geschichtliche im
Ghristenthum ist nicht anders zu ui-theilen. Mögen immerhin
Weissagungen in Christus eifüllt und Wunder von ihm ver-
richtet sein : wir haben die Erfüllung dieser Weissagungen '
nicht selbst erlebt, die Wunder nicht selbst mit angesehen;
für uns sind sie nur „Nachrichten von erfüllten Weissagungen",
nur „Nachrichten von Wundem", d. h. sie sind etwas ganz
anderes, etwas viel ungewisseres, als selbsterlebte Wunder^
für uns hat jener „Beweis des Geistes' und der Kraft" (wi3
Origenes den Weissagungs- und Wunderbeweis genannt hat)
„weder Geist noch Kraft mehr" : er ist „zu menschlichen Zeug-^
nissen von Geist und Kraft herabgesunken^'. Wollten wir abeir
diese Zeugnisse auch annehmen, was würde daraus folgen?
Wenn ich gegen die Aufei-stehung Christi „historisch nicht»
einzuwenden habe" (Lessing hat aber dagegen bekanntliclv^
sehr viel einzuwenden), muss ich darum für wahr halten, das^
er der Sohn Gottes gewesen sei? „In welcher Verbindung
steht mein Unvermögen, gegen die Zeugnisse von jenem etwsL^
erhebliches einzuwenden, mit meiner Verbindlichkeit, etwa.^
zu glauben, wogegen sich meine Vernunft sträubt?" Daft^
der Auferstandene sich desswegen für den Sohn Gottes ai»-"
gegeben hat und dafüi* gehalten worden ist, das mag seii^-*
„Denn diese Wahrheiten, als Wahrheiten einer und eben dec*
selben Klasse, folgen ganz natüilich auseinander. Aber nu^^
mit jener historischen Wahrheit in eine ganz andere Klass^^
von Wahrheiten herüber springen und von mir verlange!
r-
Lessing als Theolog. 315
dass ich alle meine metaphysischen und moralischen Begriffe
daniach umbilden soll, mir zumuthen, weil ich der Äufei*stehung
Christi kein glaubwürdiges Zeugniss entgegensetzen kann, alle
meine Grundideen von dem Wesen der Gottheit darnach ab-
zuändern, wenn das nicht eine fterdßagig elg äXlo yevog ist,
so weiss ich nicht, was Aristoteles sonst unter dieser Benennung
verstanden/' Sagt man aber, was allerdings die Meinung des
Supranatui*alismus , des damaligen wie des jetzigen ist, dem
Dogma glauben wir, weil es sich auf die Aussagen Christi
stütze, und diesen Aussagen wegen seiner Wunder und
seiner Auferstehung, so antwoitet Lessing: dass Christus
jene Aussagen gethan habe, sei ja gleichfalls nur his-
torisch gewiss; und verweist man für dieselben auf die In-
spiration der biblischen Schriftsteller, so bemerkt er: auch das
sei leider nur historisch gewiss, dass diese Schriftsteller in-
spirirt waren und nicht irren konnten. „Das, das ist der
garstige breite Graben, tlber den ich nicht kommen kann*)/'
In dieser Weise untei-scheidet der Kritiker zwischen dem
Inhalt der Religion und den geschichtlichen Thatsachen, die
ihre Entstehung vermittelt, den Berichten, welche uns diese
Thatsachen überliefert haben, und er tritt so mit einem Nach-
druck, wie kein anderer vor ihm, jener „Bibliolatrie" ent-
gegen, welche die eigentliche Erbsünde der protestantischen
Theologie war. Folgen wir ihm auf diesem Wege, und sehen
wir, was sich auf demselben als das wirkliche Wesen des
Christenthums erkennen lässt. Die Bibel, haben wii* gehört,
ist nicht die Religion. Aber dass sie die Religion enthalte,
will Lessing (vgl. X, 132) nicht läugnen. Die Ftage ist nur,
wie sie dieselbe enthält. Enthält sie sie ganz und voll-
kommen? enthält sie sie als göttliche Offenbaining ? Ist das
Christenthum, wie es diess selbst glaubt, die vollkommene
Religion, und ist es als solche von der Gottheit auf über-
natürlichem Wege gestiftet?
•) Vom Beweiß des Geistes und der Kraft X, 36 ff. X, 14. 21. 149 ff.
IX, 282 £, XI, b, 165 f. Nathan, 3. Aufe. 7. Auftr.
316 Lessing als Theolog.
Dass nun das erste zu vemeinen sei, diess hat Lessing am
Schluss seiner „Erziehung des Menschengeschlechts" mit
solcher Bestimmtheit ausgesprochen, dass er uns jedes weiteren
Nachweises tiberhebt. Um so eher könnte man vielleicht die
zweite Frage in seinem Namen zu bejahen geneigt sein. In
seinen Zusätzen zu den Fragmeuten spricht Lessing nicht
selten so, als ob er den Offenbainingscharakter der alt- und
neutestamentlichen Religion nicht bezweifle. Er sagt: ob eine
OfFenbai-ung sein könne und mtisse, und welche es wahrschein-
lich sei, könne nur die Vernunft entscheiden; aber wenn ein-
mal eine Religion als geoffenbarte erkannt sei, so mtisse man
Uebervemtinftiges in ihr erwarten und ihre Lehren auch ohne
wissenschaftliche Beweise auf ihr Zeugniss hin annehmen (X,
18 f.). Er behauptet gegen Reimaiiis (X, 30 f.), wenn auch
in den Büchern des alten Testaments weder die Unsterblich-
keit noch die Einheit Gottes im strengeren Sinn gelehrt
werde , so könne man doch daraus gegen ihre Göttlichkeit
nichts schliessen ; denn diess seien Wahrheiten, welche die Ver-
nunft auch aus sich selbst finden könne ; was aber einen un-
mittelbar göttlichen Urspmng nicht ei-weisen könne, wo e&
vorhanden sei, das könne ihn auch nicht widerlegen, wo es-
mangle (beiläufig bemerkt, ein Schluss, den Lessing einen»-
andern wohl schwerlich hätte hingehen lassen). Und bei der-
selben Gelegenheit veröffentlichte er die erste Hälfte jeneir
viel bentitzten Abhandlung (X, 307 ff.), in der er die Offen-
barung als eine göttliche Erziehung des Menschengeschlechts^
darstellte. Aber was Lessing hier Offenbarung nennt, das i&^
(wie auch Schwarz a. a. 0. 202 f. zeigt) der Sache nacli
gar nichts anderes, als eine naturgemässe geschichtliche Ent;-
Wicklung. Die Offenbarung soll ja der Menschheit nichts
geben, was sie nicht auch ohne Offenbamng finden könnte uad
nicht selten (wie Lessing ausdrticklich bemerkt*), ohne Offen-
barung sogar früher und besser, als mit der alttestamentlicheii
Offenbaiamg, gefunden hat; wäre da die sogenannte Oi&^'
') Erz. d. M. § 20. Zu den Fragm. X, 30.
Lessing als Theolog. 317
rung nicht genau das, woiüber sich Lessing an einer andern
eile (X, 18) mit so gutem Grund lustig macht: „eine Offen-
rung, die nichts ofifenbart", deren „Namen man beibehält, ob
in schon die Sache vei-wii*ft"? Wenn sich ferner die Offen-
rung dem Bedtlrfoiss und der Entwicklung der Menschen so
nau anschliessen soll, dass sie mit dieser selbst von niedii-
ren Stufen zu höheren fortschreitet, wenn sogar das Chris-
ithum noch nicht ihi*e höchste und vollkommenste Gestalt
, wie vei-trägt sich diese Perfectibilität der geoffenbarten
ligion mit dem Charakter einer Offenbarung, einer unmittel-
ren göttlichen Mittheilung? Lessing stellt die Sache freilich
dar, als ob die höhere Stufe von der niedrigeren sich blos
durch untei*schiede, dass zu dem, was auf dieser geoffenbart
;, auf jener noch ein weiteres hinzukommt , als ob ihr Ver-
iltniss blos ein quantitatives wäre. Aber in der Wirklich-
st ist es nothwendig zugleich das eines qualitativen Gegen-
tzes. Wer in seiner Erkenntniss tiefer steht, der hat nicht
OS eine kleinere Anzahl von richtigen Vorstellungen, als der
hei-stehende , sondein auch eine gi-össere Anzahl von un-
htigen; er weiss nicht blos vieles nicht, was der andere
iss, sondern er bildet sich ebendesshalb über das, was er
:ht weiss, eine falsche Meinung. Wenn das alte Testament
1 dem neuen, nach Lessing, sich hauptsächlich dadui'ch
terscheidet, dass es von keiner Unsterblichkeit weiss und
5s es den wahren Begriff der Einheit Gottes noch nicht hat,
ist ja mit dem ei*sten,von diesen Mängeln (trotz allem,
s die Emehung d. M. § 26 ff. sagt) der irrige Glaube, dass
Ltes und Böses in diesem Leben ihren Lohn erhalten müssen,
B. im Hieb) und die Läugnüng der Unsterblichkeit (z. B.
Prediger) ebenso unmittelbar verbunden, als mit dem
reiten der Wahn, dass die Heidengötter auch wirkliche
itter, nui* minder mächtige seien, und die particularistische
>i'Stellung, als ob Jehovah nur dieses Eine Volk für sich er-
ihlt habe. Wenn das Christenthum (gleichfalls nach Lessing)
sshalb der Vervollkommnung bedarf, weil es das Gute nicht
^ seiner selbst willen, sondern um der künftigen Vergeltung
318 Lessing als Theolog.
willen thun lehrt, so schiebt es den ächten moralischen Be-
weggründen unächte und in-eführende unter. Das Judenthum
verhält sich also in diesem Fall zum Christenthum, das Chris-
tenthum zu der Vemunftreligion nicht blos wie die theilweise
Wahrheit zu der ganzen und vollen , sondern wie die mit Irr-
thtimeiTi, und zwar mit sehr erheblichen In-thümem, versetzte
zu der reinen. Irrthümer können aber keinen Bestandtheil
einer göttlichen Offenbarung bilden, und wenn sie es könnten,
so würden sie, wie Lessing selbst bemerkt (Era. § 26 f.), dem
eraehenden Zweck dei*selben geradezu in den Weg treten;
sie würden jeden Foilschritt zu einer höheren Stufe ebenso
gewiss hindern, als das ptolemäische System, so lange es ftr
einen Bestandtheil des Offenbarungsglaubens gehalten wurde,
die Anerkennung des copernicanischen gehindert hat. Gibt
man einmal zu, dass in den Religionen, welche sich selbst ftir
geoffenbarte halten, ein Foi-tschritt vom Unvollkommenen zum.
Vollkommenen stattfinde, so muss man es folgerichtiger Weis&
aufgeben, sie von einer unmittelbaren göttlichen Oflfenbarungr
herzuleiten.
Auch Lessing selbst hat sich hieiilber keiner Täuschunj
hingegeben. Einem Götze gegenüber wollte er sich freilich
wie er seinem Bruder schreibt (XII, 603), schlechterdings
die Positur setzen, dass er ihm als einem Unchristen nich
ankommen könne. So lässt er denn in den Stmtschrifteik^ -
zu denen ihn die Fragmente veranlassten, den Begriff de^m.
Offenbarung in der Regel unangetastet. Ausser diesem dipl(^-
matischen Grund hatte er dazu auch noch einen zweiten, eine"i3
pädagogischen. Was er selbst an Leibniz i-ühmt (IX, 150^
dass er willig sein System bei Seite gesetzt und einen jedeia
auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen gesucht habe,
auf welchem er ihn fand ; was er in seiner Erziehung A^^
Menschengeschlechts (§ 68) verlangt, dass der fähigere Schüler
seinen schwächeren Mitschüler nicht solle merken lassen, imd
wie viel er ihm an religiöser Einsicht voraus sei; was er im
Ernst und Falk (X, 294) als FreimaureiTegel bezeichnet, die
Lichter brennen zu lassen, so lange sie wollen und köna^^'
Lessing als Theolog. 319
sie nicht vor SonnenaufgaDg auszulöschen und dann ei*st wahr-
zunehmen, dass man die Stümpfe doch wieder anzünden oder
wohl gar neue aufstecken müsse; das hat er sich selbst zur
Pflicht gemacht. Aber wo er sich durch keine derartige Rück-
sieht gebunden fühlt, da erklärt er sich so deutlich, als wir
nur immer wünschen können. Selbst in der Erziehung des
Menschengeschlechts gesteht er (§ 77), dass es mit der histo-
rischen Wahrheit der christlichen Religion „misslich aus-
sAe", und was er erst eine unmittelbare Offenbarung von
Vemunftwahrheiten genannt hatte, das erläutert er gleich dar-
auf dahin , Gott verstatte oder leite es ein , dass blosse Ver-
nunftwahrheiten eine Zeit lang als unmittelbar geoffenbaite
Wahrheiten gelehrt werden*). Noch unumwundener äussei-t
er sich aber in dem Vorbericht zu dieser Schrift. „Wai-um
wollen wir," heisst es hier, „in allen positiven Religionen
nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem
sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein ent-
wickeln könne? . . . Gott hätte seine Hand bei allem im
Spiele, nur bei unseni Irrthümem nicht?" Und damit stimmt
vollkommen überein, was wir im „Emst und Falk" (X, 262 f.)
lesen: Ein Staat sei gei*ade ebenso unmöglich, wie Eine Re-
ligion. Aus der Verschiedenheit des Klimas ergeben sich
„ganz vei*schiedene Bedüifnisse und Befiiedigungen , folglich
ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz ver-
schiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen".
Sogleich wird aber auch in den Worten: „mehrere Staats-
verfassungen, mehrere Religionen" darauf hingewiesen, dass
'^) § 70; ähnlich Zu den Fragm. X, 30: Wahrheiten, die gegenwärtig
dem gemeinsten Mann einleuchtend seien, müssen einmal sehr unbegreiflich
vnd daher unmittelbare Eingebungen der Gottheit geschienen haben.
Nach der Erziehung des Menschengeschlechts § 4 soll ja aber die Offen-
baning dem Menschen nur solche Vemunftwahrheiten geben. Der Schein
der Offenbarung wird also überhaupt nur daraus entstehen, dass gewisse
an sich aus der Yemunft stammende Wahrheiten bei ihrem ersten Auf-
treten unb^eiflich scheinen, dass man sich ihres Ursprungs aus der Ver-
nunft nicht bewusst ist.
320 Lessing als Theolog.
die positive Religion nicht blos von der natürlichen Verschie-
denheit der Menschen, sondern auch von dem staatlichen Be-
dürfiiiss und der politischen Zweckmässigkeit herzuleiten sei.
Noch stärker tritt der letztei-e Gesichtspunkt in dem Bruch-
stück „über die Entstehung der geoffenbarten Religion'' (XI,
b, 247 f.) hervor. Der Inbegriff der natürlichen Religion be-
steht nach dieser Darstellung darin, dass man Gott erkennt,
sich die würdigsten Begiiffe von ihm zu machen sucht und
auf diese Begiiffe bei allen Gedanken und Handlungen Rück-
sicht nimmt. Diese natürliche Religion würde im Naturzu-
stand bei jedem diejenige nähere Gestalt annehmen, welche
dem Masse seiner Kräfte entspräche; und da nun dieses bei
jedem Menschen vei*schieden ist, so würde es ebenso viele
natürliche Religionen geben, als es Menschen gibt. Weil aber
diese Vei'schiedenheit für die bürgerliche Gesellschaft Nach-
theile herbeizuführen drohte, entstand das Bedürfioiss, die Re-
ligion gemeinschaftlich zu machen. Zu diesem Behufe „musste
man sich über gewisse Dinge und Begriffe vereinigen und
diesen conventionellen Dingen und Begiiffen eben die Wichtig-
keit und Nothwendigkeit beilegen, welche die natürlichen Re-
ligionswahrheiten durch sich selber hatten''; man musste ans
der Religion der Natur ebenso „eine positive Religion bauen",
wie man aus dem Rechte der Natur ein positives Recht ge-
baut hatte. Diese positive Religion erhielt ihre Sanction duith.
das Ansehen ihres Stiftera, welcher „vorgab", dass das Con-
ventionelle derselben ebenso wie das Wesentliche von Gott
komme — die positive Religion wui-de eine geoffenbarte. So-
fern es nun überall gleich nothwendig war, sich zum Zweck der
öffentlichen Gottesverehiamg über gewisse Dinge zu vergleichen,
sind alle „positiven und offenbarten Religionen" gleich wahr;
sofern dieses Conventionelle das Wesentliche schwächt uad
verdrängt, sind sie alle gleich falsch. Die beste aber „ist die,
welche die wenigsten conventionellen Zusätze zur- natürlichaxi
Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Reli-
gion am wenigsten einschränkt". Eben dieses predigt ja ab^^
Lessing auch im Nathan von „seiner alten Kanzel, dem Theater*'
Leasing als Theolog. 321
Denn den streitenden Brüdern wird hier gesagt, dass keiner
von ihnen den ächten Bing habe, so lange sie sich selbst am
meisten lieben; oder es wird, ohne Bild, den streitenden Re-
ligionen gesagt, dass keine von ihnen die wahre Religion sei,
so lange sie auf ihre Besonderheit, auf das Positive und Con-
ventionelle in ihr den Hauptnachdi-uck legt, sondern jede nur
in dem Falle, dass sie, und in dem Masse, wie sie in Gott-
ergebenheit und Menschenliebe das gemeinsame Wesen aller
Religion pflegt; und ebenso sehen wir auch die Einsicht und
die sittliche Höhe der handelnden Pei*sonen genau in dem
Masse zunehmen, in dem sie sich von dem Positiven ihrer
Religion zu jenem Gemeinsamen erheben. Lessing selbst hat
(XI, b, 163 f.) die Moral seines Stücks in die Worte zu-
sammengefasst : „es lehre, dass es nicht erst von gesteni her
unter allerlei Volke Leute gegeben, die sich über alle positive
Religion hinweggesetzt hätten und doch gute Leute gewesen
wären"; und zugleich bemerkt er, zur Rechtfertigung seines
geschichtlichen Hintergi-undes , „dass der Nachtheil, welchen
geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen,
zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender
gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge".
Im Lichte dieser Erkläningen nimmt sich Lessings Offen-
banmgsglaube nun allerdings etwas anders aus, als man nach
oberflächlicher Betrachtung einzelner Stellen meinen könnte,
wid man wird sich zweimal besinnen müssen , ehe man mit
manchen neueren Theologen — welche von Lessings theo-
logischen Schriften eben nur die Ei-ziehung des Menschen-
geschlechts und auch diese nicht über den äusseren Buch-
staben hinaus zu kennen scheinen — den aussichtslosen Ver-
such macht, Vertheidigungsgründe für eine supranaturalistische
Apologetik bei Lessing zu borgen. Seine Ansicht von der
Böligion ist ihrer allgemeinen Gmndlage nach dieselbe, zu
Welcher die gleichzeitige Aufklärung sich bekennt. Das wesent-
liche in jeder Religion ist ausschliesslich die natürliche Re-
%on, und diese gi-ündet sich, sowohl was ihre Entstehung
^s was ihre Wahrheit betrifft , einzig und allein auf die Ver-
Zeller, Vorträge und Abhandl. 21
i
822 Lessing als Theolog.
nunft. Diese Vemunftreligion kann dui'ch alle andei-weitigen
Zusätze, die sie erhält, nur verlieren, nie gewinnen; das Po-
sitive in der Religion als solches ist ein Uebel : wer es ent-
behren kann, steht höher, als wer seiner bedarf; er hat da-
her nicht blos das Recht, sondena auch die Pflicht, sich von
ihm zu befreien. Aber so wie die Menschen einmal sind,
und nach den Bedingungen, unter denen ihr geistiges Leben
sich entwickelt, ist jenes Uebel, wenigstens für lange Zeit-
räume der Geschichte, ein nothwendiges Uebel, theils weil die
bürgerliche Gesellschaft eine positive Religion nicht entbehi'en
kann, theils weil die Vernunftwahrheit selbst auf einer ge-
wissen Bildungsstufe als etwas positives, von Gott eingegebenes
erscheint. Jede positive Religion ist aber eine geoffenbai*te,
denn sie kann nur auf den Glauben an eine vorgebhehe
Offenbarung gegründet werden; mag nun dieses Vorgeben
(denn darüber hat sich Lessing nicht ausgesprochen) aus Be-
rechnung oder aus eigener Ueberzeugung des Religionsstifteß
hervorgehen. Die Offenbarung ist die Foiin, welche die Ver-
kündigung einer neuen Religionslehre in den Augen des
Volkes, vielleicht auch in den eigenen Augen ihrer Ver-
kündiger, erhält. Wiewohl aber diese Fonn, im Vergleich mit
dem reinen Veraunftglauben , immer als eine Hemmung und
Beschränkung zu betrachten ist, so kann sie doch unter Um-
ständen nicht allein noth wendig, sondern auch wohlthätig, ja
sie kann ein ganz unentbehrliches Mittel für die religiöse Ent-
wicklung unseres Geschlechts sein. So lange der Mensch un-
mündig ist, bedarf er der Erziehung; so lange es die Mensch-
heit ist, bedarf sie der Offenbarung. Dieses Zugeständniss vor
allem ist es, wodurch Lessings Urtheil über das Positive in
der Religion von der hen-schenden Ansicht der damaligen
Aufklärung sich zu ihrem Voi-theil unterscheidet , wogegen er
in der Ueberaeugung mit ihr übereinstimmt, dass der Werth
desselben ein blos relativer, seine Nothwendigkeit eine blos
geschichtliche und desshalb eine voillbergehende , auf gewisse
Umstände, Zeiträume und Bildungsstufen beschränkt sei.
Lessing als Theolog. 323
Unter diesem Gesichtspunkt wird die Religionsgeschichte
in der „Ei-ziehung des Menschengeschlechts" *) betrachtet. Das
angebliche Thema dieser berühmten, aber nicht immer richtig
vei-standenen, kleinen Schrift bildet die Geschichte der gött-
lichen Offenbarung; ihr wirkliches Thema, im Sinn ihres Ver-
fasser, die religiöse Entwicklung der Menschheit, so weit sich
diese in der Form des jüdischen und des christlichen OflFen-
bai-ungsglaubens vollzogen hat. Lessing erkennt in dieser
Entwicklung einen gesetzmässigen Zusammenhang, einen stufen-
weisen Fortgang nach einem bestimmten Ziel hin; er führt
dieselbe, wie alles in der Welt, seiner allgemeinen philo-
sophischen und religiösen Ueberzeugung entsprechend, auf die
göttliche VeiTiunft und Vorsehung zurück, und er betrachtet
demnach die Offenbarung, oder das, was er Oflfenbaiamg nennt,
als eine Veranstaltung der Gottheit zur sittlichen und reli-
giösen Ausbildung der Menschen, als eine göttliche Erziehung
des Menschengeschlechts. Aus dem Begiiflf der Erziehung
wird nun der Gang, den jene Entwicklung genommen hat, er-
klärt. Die Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht
auch aus sich selbst haben könnte; sie gibt ihm dieses nur
geschwinder und leichter. So gibt auch die Offenbarung dem
Menschengeschlecht nichts, auf was seine Vernunft sich selbst
überlassen nicht auch kommen würde; sie gibt ihm diess nur
fither. Das heisst, wie schon oben bemerkt wurde : die Offen-
barung ist nichts anderes, als die erste Gestalt, welche die
religiöse Entwicklung der Menschheit annimmt, der Glaube,
Welcher die Ergebnisse der späteren religiösen Einsicht vor-
wegnimmt. Jede Entwicklung ist aber eine allmähliche, ein
stetiger Fortgang vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.
Auch die religiöse Entwicklung kann sich diesem Gesetz nicht
entziehen; oder in der Sprache unserer Abhandlung: die
Offenbarung muss, wie jede Erziehung, einen bestimmten
Stufengang einhalten und sich auf jeder Stufe den Fähigkeiten
*) Deren unmittelbarster Vorgänger Leibniz in dem Vorwort zur
'^eodicee ist
21*
324 Lessing als Theolog.
und der Fassungskraft des Zöglings anschliessen. Diese
standen nun bei dem israelitischen Volk anfangs sehr niedrig:
es war ein rohes, verwildertes Volk; einem solchen konnte
nicht sofoi-t eine vollkommene Religion, wie Lessing sagt,
mitgetheilt , wie seine eigentliche Meinung ist, von ihm ge-
funden, oder wenn sie auch etwa ein einzelner aus seiner
Mitte fand, von ihm angenommen werden. So erklärt es sich
ganz natürlich, dass die jüdische Religion der Idee der Ke-
ligion lange Zeit nur sehr unvollständig und niemals voll-
kommen entsprochen hat, dass verschiedene andere Völker
den Juden in ihren religiösen Begriffen vorauseilten, während
noch mehrere allerdings hinter ihnen zurückblieben *) ; dass sie
den reineren Monotheismus erst im Exil von den Pei*seni, den
ünsterblichkeitsglauben, so weit er sich überhaupt unter ihnen
verbreitete, noch später, von den Griechen in Aegypten, er-
hielten. Andererseits aber hatte (wie § 18. 21 andeutet) ge-
rade der eigenthümliche Gang, welchen die Geschichte und
die Entwicklung des jüdischen Volkes nahm, gerade die Noth
und die Kämpfe , unter denen es sich zu einer reineren Re-
ligion durcharbeiten musste, die Folge, dass diese in ihm um
so tiefere Wuraeln schlug und so von ihm eine monotheistische
Weltreligion ausgehen konnte. Diese Weltreligion war das
Christenthimi , die zweite höhere Stufe in der „Erziehung",
der religiösen Entwicklung der Menschheit**). Als den eigen-
thümlichen Vorzug des Christenthums bezeichnet Lessing
dieses, dass Christus der ei*ste zuverlässige praktische Lehrer
der Unsterblichkeit der Seele geworden sei, womit freilich das
Verhältniss des Christenthums zum Judenthum weder er-
schöpfend noch durchaus richtig bestimmt ist. Diese Grund-
lehre wurde dann von seinen Jüngern mit noch andern Lehröi
*) Man vgl. hierüber ausser der Erziehung des Menschengeschlecht
§. 20 auch Zus. zu den Fragmenten X, 30.
*♦) Dass diess der Art, wie das Verhältniss des Christenthoms P^ i
Judenthum im Nathan dargestellt -ist, nicht widerspricht, zeigt Strattß'
Nathan 68 (76) f.
Lessing als Theolog. 325
versetzt, deren Wahrheit fllr unsere Vernunft weniger ein-
leuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war, von denen
aber doch Lessing in der uns bereits bekannten Weise zu
zeigen sucht, dass auch in ihnen vielleicht Wahrheiten ver-
beißen seien, die sich unserer Vernunft bei näherer Betrach-
tung bewähren. Wie es sich aber damit verhalten mag,
jedenfalls haben die Schriften, welche diese Lehren enthalten,
die neutestamentlichen Bücher, mehr als alle anderen zur Er-
leachtung des menschlichen Verstandes beigetragen ; waren die
alttestamentlichen das erste Elementarbuch des Menschen-
geschlechts, so sind sie das zweite, werthvoUere und bessere.
Aber jedes Elementai-buch ist doch nur bestimmt, den Ver-
stand des Schülers zu üben, ihm zur Selbständigkeit zu ver-
helfen und dadurch sich selbst entbehrlich zu machen : jede Eme-
hang hat ihi* Ziel. Auch die religiöse Emehung muss ihi* Ziel
haben; die religiöse Entwicklung der Menschheit muss am Ende zu
einer Stufe hinführen, auf welcher sie die zweifelhaften Stützen
eines Offenbarungsglaubens entbehren, ihre Aufgabe rein und
selbständig erfüllen kann. Wo aber dieses Ziel zu suchen ist,
darüber können wir bei Lessing nicht zweifelhaft sein. Das
Wesen der Religion, der letzte Zweck aller religiösen Thätig-
keit, liegt für ihn in ihrer sittlichen Wirkung; die höchste
Stufe des religiösen Lebens wird nur darin bestehen können,
dass diese Wirkung ganz rein heraustritt, dass nichts ausser
ihr selbst von der Religion erwartet, das Gute ohne alle
Nebem-ücksichten gewollt wird. Kein anderes ist denn auch wirk-
lich Lessings Ideal. Wenn der Mensch sich von einer bessern
Zukunft zwar vollkommen überzeugt fühlt, aber von dieser
Zukunft Beweggründe fllr sein Handeln zu erborgen nicht
inehr nöthig hat; wenn er das Gute thut, weil es das Gute
ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind —
^n, erklärt Lessing, ist sie da, „die Zeit der Vollendung",
i»die Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums". Die „Elementar-
bücher des Neuen Bundes" haben ihren Dienst gethan, das
Menschengeschlecht ist seiner Kindheit entwachsen, es ist in
^*8 Zeitalter der männlichen Reife eingetreten, der Oflfen-
l:
326 Lessing als Theolog.
baiamgsglaube muss der reinen Vernunftreligion den Platz
räumen.
In diesem Ausblick auf die Zukunft hat Lessing seiner
religiösen üeberzeugung einen prägnanten Ausdnick gegeben.
Er ist zu einsichtsvoll und zu gerecht , um die geschichtliche
Bedeutung der positiven, auf Oflfenbarungs- und Auktoritäts-
glauben ruhenden Religionen zu verkennen. Aber er ist auch
zu tief von dem Geiste der Aufkläiningsperiode durchdningen,
um sich nicht durch dieses Positive nach allen Seiten beengt
zu fühlen, um den Gedanken ertragen zu können, dass die
Menschheit sich von diesem Banne niemals befreien solle. Er
erklärt es geradehin für eine „Lästerung'', wenn man be-
haupte, die göttliche Erziehung der Menschen werde ihr Ziel
nicht en-eichen, unser Geschlecht werde nie reif genug werden,
um aus der Vormundschaft des Oflfenbarungsglaubens in die
Freiheit der reinen Vernunftreligion tiberzutreten. So voll-
kommen er aber hierin mit den radicalsten Vertretern der
Zeitphilosophie tibereinstimmt, so weit geht er anderei'seits
wieder in der näheren Bestimmung des Zieles, dem er die
Menschheit zugeführt wissen will , tiber sie hinaus: Für die
gewöhnliche Aufklärung jener Zeit ist kaum ein anderer Zug
so bezeichnend, als der ganz ausserordentliche Werth, welchen
sie dem ünsterblichkeitsglauben beilegte. Nicht wenigen war
fast ihre ganze Dogmatik in diesen Einen Ai-tikel zusammen-
geschiTimpft. Seinen Gott und seinen Christus hätte man sich
eher nehmen lassen, als das pei-sönliche Fortleben nach dei»
Tode. Nachdem das Ich alle anderen Götter als Götzen zer-
schlagen hatte, behauptete es nur um so zäher seine eigeo^
Unendlichkeit Selbst die sittliche Verpflichtung wusste mB^^
nur durch die Aussicht auf eine künftige Vergeltung zu ei^*
pfehlen. Gegen diese „Eigennützigkeit des menschlich^''
Herzens" sträubte sich Lessings reine, sittlich gesunde Natti-^
Er hegte nicht den geringsten Zweifel an dem Fortleben na.^'
dem. Tode, wenn er sich auch dasselbe in der Form eit»-^
Seelenwanderung zu denken geneigt war. Aber er wot3^
nicht, dass der Glaube an dieses Fortleben zum moraliscto-^
Lessing als Theolog. 327
Motiv gemacht, dass die uneigennützige Freude am Guten
durch die Rücksicht auf Belohnung oder Strafe verunreinigt
werde. Die Zeit des „ewigen Evangeliums" ist für ihn ei-st
dann gekommen, das Menschengeschlecht ist der Leitung durch
eine positive Religion erst dann wirklich entwachsen, es hat
erst dann „seine völHge Autkläining" erlangt, wenn es die
„Reinigkeit des Herzens" gewonnen hat, die es fähig macht,
die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben. Wie daher
Lessing die gewöhnliche Aufkläining seiner Zeit durch den
geschichtlichen Sinn übertriflPt, welcher ihn in den positiven
Religionen ein naturgemässes Erzeugniss und eine unentbehr-
liche Bedingung der menschlichen Geistesentwicklung, in dem
gegenseitigen Verhältniss dieser Religionen einen stufenweisen
Fortgang zu immer höherer Vollkommenheit erkennen lässt,
so übertriflft er sie auch durch die Läuterung und Vertiefung
des Begriffs, welchen sie sich von der Veraunftreligion und den
sittlichen Aufgaben gemacht hatte. In demselben Mass aber,
wie Lessing über den Standpunkt seiner Zeit hinausgeht,
bahnt er den der Folgezeit an. Der Denker ist so zugleich
ein Prophet, und wenn wir zweifelhaft sein können, ob die
Zeit jemals kommen wird , die er in weiter Feme geschaut
hat, die Zeit, wo das Menschengeschlecht im Ganzen weit genug
ist, um keines Auktoritätsglaubens mehr zu bedürfen, so
können wir um so weniger über die Bedeutung im Zweifel
sein, welche seine allgemeinen Gedanken über die Religion
sehon fär die nächste Zukunft gehabt haben. In der Ei'ziehung
des Menschengeschlechts liegt als ihr innei-ster Kern der
Gnuidgedanke der Hegerschen Religionsphilosophie, und in dem
Evangelium der reinen Moral liegt der Grundgedanke der
Kantischen Sittenlehre.
\
I
I
I
i
IX.
Drei deutsche (lelehrte.
Schon fünfmal ist mir die schmerzliche Aufgabe zugefallen,
bedeutenden Gelehrten, denen ich persönlich nahe gestanden
hatte, nach ihrem Hingang einen Nachinif zu widmen. Drei
von ihnen sind durch den Tod aus einer ungewöhnlich ein-
greifenden und fi-uchtbaren Wirksamkeit, die ein volles Men-
schenalter ausgefüllt hatte, am Abend eines ausgereiften, zu
seiner inneren und äusseren Vollendung gekommenen Lebens
abgei-ufen worden, noch ehe die Schwäche des höheren Alte»
sie beiührt hatte: Baur, Strauss, Gervinus; zwei wui-det».
in der Vollkraft der Jahre, der eine aöhtunddreissig - , der an-
dere dreiundvierzigjährig , von jäher Krankheit :i weggerafft •
Schwegler und Waitz. Baur's Persönlichkeit und seiiÄ
wissenschaftliches Wirken habe ich in einem Aufeatz geschil-
dert, der jetzt im ersten Theil der vorliegenden Sammluag
steht; Strauss' Leben und schriftstellerische Thätigkeit in der
kleinen, bald nach seinem Tod erschienenen Schrift: „David
Friedrich Strauss". Auf den folgenden Blättem stelle ich dr^i
Aeussei-ungen zusammen, zu denen mich der Tod der drei aD>-
deren Freunde seiner Zeit veranlasste: den Nekrolog Schwe^-
ler's, welcher 1858 dem dritten Band seiner römischen G
schichte beigefügt wurde; den von Waitz, welcher 1864
Nr. 292 der Stlddeutschen Zeitung erschien; und die Wort^»
welche ich zwei Tage nach Gervinus' Tod an seinem Gral::^®
Drei deutsche Gelehrte. 329
chen habe. Die letzteren haben beim Wiedei-abdruck
erständlich keine, die beiden anderen Stücke nur ganz
»bliche Abändeningen erfahren.
1. Albert Sehwegler.
ibei-t Sehwegler wurde den 10. Februar 1819 in dem
ibergischen Dorfe Michelbach bei Schwäbisch Hall ge-
wo sein Vater Kan-er war. Seine Gebui-t erfolgte unter
abwerten Umständen, dass das Leben der Mutter und
ndes in der höchsten Gefahr schwebte; dagegen glaub-
ichkundige von dem letzteren aussei-ordenüiches weis-
zu dürfen, weil es eine sogenannte Glückshaube über
;opf habe, die immer etwas besonderes bedeute. Die
m Schicksale unseres Freundes haben diese Weissagung
)estätigt, aber seine Pei-sönlichkeit und seine Leistungen
irtigten allerdings später die Erwartungen, zu welchen
zufällige Sache den ei-sten Anlass gegeben hatte. Sehwegler
ner von jenen seltenen Menschen, die sich frühzeitig
3los durch glänzende Gaben, sondem auch durch eine
)hnliche geistige Selbständigkeit auszeichnen. Schon in
nderjahren entwickelte er sich schnell an Körper und
und mancher Beweis seines frühreifen Verstandes wurde
Bekannten von Mund zu Mund getragen. Sein auf-
:tes Wesen, seine liebreiche Zutraulichkeit machten ihn
llgemeinen Liebling. Sein Unteracht war durch das
und die Wissbegierde des Knaben, seine Erziehung durch
enheit seines Benehmens erleichtert; seine Wahrheits-
^ar so gi-oss, dass ihn die Eltern nie wegen einer Lüge
fen hatten. An unverbrüchlichen Gehorsam war er fiühe
it worden. Sein Vater unterwarf ihn einer Zucht, an
Strenge er in späteren Jahren oft nicht ohne Bitterkeit
ken vermochte; der Knabe liess sich seine heitere Un-
3nheit dadurch nicht rauben ; allerdings trug aber diese
mg wohl mit dazu bei, dass in ihm die starken und
en Züge, deren Ue'bergewicht in seiner Natur begründet
■■'I
330 I^rei deutsche Gelehrte.
war, vorzugsweise zur Entwicklung kamen. Den ei'sten Un-
temcht erhielt er sehr frühe, und da er die grösste Freude
am Lernen hatte, machte er rasche Fortschritte : als ein Kind
von vier Jahren konnte er schon gut lesen, und im Latei-
nischen und Griechischen hatte er unter der Leitung seines
Vaters bereits einen schönen Anfang gemacht, als er im Früh-
jahr 1829 der Schule zu Schwäbisch Hall tibergeben wurde.
Den Lehrern, welche er hier fand, hat er auch später eine An-
hänglichkeit bewahrt, die beiden Theilen zur Ehre gereicht;
sie ihrei'seits iUhmen nicht allein das Talent und den Eifer,
sondern auch die Folgsamkeit ihres Zöglings und das Ver-
trauen, mit dem er sich ihrer Fühning überliess. „Sein Lehrer
zu sein", schreibt einer derselben, „war eine Lust, denn er war
aufmerksam, fasste und behielt leicht und konnte das Gehörte
klar wiedergeben ; keine Arbeit war ihm zu viel ; bald zeigte
er in seinen Uebei'setzungen Geschmack und zuletzt im Deut-
schen, Lateinischen und Griechischen einen netten Styl. Rich-
tige Auffassung eines gegebenen Stoffes und produktive Be—
handlung desselben sprach sich besondeis auch in seinen latei-
nischen Vei'sen aus." (Auch in giiechischen Gedichten ver —
suchte er sich, wie denn überhaupt damals die nützliche Eunsft^
des Versmachens auf den würtembergischen Schulen nocti:
blühte.) Die Freunde seiner späteren Jahre werden schon icri
dieser Schilderung manche von den Zügen wiedererkennen, di^
in der Folge seine wissenschaftliche Bedeutung begründeten
ebenso mag es als ein Vorzeichen seines später so reich entz.
wickelten geschichtlichen und politischen Sinnes gelten, das* *
er schon als Knabe Geschichtsdarstellungen und Zeitungen m»
Vorliebe aufsuchte. Zugleich war er aber ein munterer Jung^3
der sich gerne mit seinen Kameraden herumtummelte, heit^
und redselig; als ein Beweis seiner Gutherzigkeit wird e^rr*
wähnt, dass er das Geld, in dessen Besitz er durch zahlreieli»-
Schulpreise kam, an arme Kinder seines Geburtsortes zu ve^v
theilen pflegte , und dass ihm dabei immer die Freude d^^
Wohlthuns hell aus den Augen geleuchtet habe.
In seinem vierzehnten Jahre (Herbst 1832) kam Schwegl^^
Albert Schwegler. 331
in das evangelische Seminar, welches in den schönen Räumen
des ehemaligen Cistercienserklosters Schönthal (zwischen Heil-
bronn und Mergentheim), in einem stillen, abgeschiedenen
Thal seinen Sitz hat. Vier Jahre verweilte er hier mit einigen
dreissig Altersgenossen, um sich auf dem landesüblichen Wege
durch die gewöhnlichen Gymnasialstudien, unter genauer Auf-
sicht der Lehrer, in halbklösterlicher Abgeschlossenheit , für
das theologische Studium vorzubereiten. Die Eigenschaften,
welche schon den Knaben ausgezeichnet hatten, erwarben ihm
auch hier den ei-sten Platz unter seinen Mitschülern ; was aber
besondei-s an ihm hervortrat, war eine Reife des Verstandes
und eine Weite des Blicks , die über seine Jahre hinausgieng.
So fand er schon damals an einer umfassenderen Uebersicht
über philologische Literatur ein besonderes Gefallen, so dass
sein späterer Uebergang von der Theologie zur Philologie als
eine Rückkehr zu seiner ei-sten Jugendneigung betrachtet wer-
den konnte. Gewandtheit im Styl, im lateinischen wie im
deutschen, war ihm gleichfalls damals schon eigen, und als er
einmal in den Ferien, kaum ITjährig, für den plötzlich er-
ki'ankten Vater mit einer Predigt eintrat, emdtete er bei sei-
ner ländlichen Zuhörerschaft solchen Beifall, dass es sich alte
Leute in der Gemeinde als eine besondere Gunst erbaten, der-
einst ihre Grabrede von ihm zu erhalten. Dagegen zeigte er
niemals Freude an der Mathematik, mit der er sich denn auch
später nicht weiter beschäftigte. Neigung und Talent führten
ihn den geschichtlichen Studien, im weiteren Sinne des Worts,
mit jener ganzen Entschiedenheit zu , welche bei entsprechen-
der Kraft die sicherste Bürgschaft des Erfolgs ist. Im übrigen
^w'^rde aber niemand in dem lebendigen, leicht beweglichen, zu
allerlei Scherz und Neckerei aufgelegten, auch wohl im Gefühl
seiner Ueberlegenheit mit Schwächeren gutmüthig spielenden
Jüngling den Einst und die Vei-schlossenheit geahnt haben,
welche seine letzten Lebensjahre vor der Zeit umwölkten. Er
selbst dachte wenige Jahre später, unter den inneren Kämpfen
seiner Universitätszeit, mit Sehnsucht an jene „schönen Jahre
^^^ Unschuld", an die Einsamkeit, in der er nicht einmal
332 I^fei deutsche Gelehrte.
geahnt habe, was das Leben sei, an die Sicherheit jenes „in-
stinktartigen, nur halbbewussten Treibens", und doch warf er
sich zugleich vor, dass er diese Jahre verträumt und für die
Bildung seines Gharaktei*s nicht genug benützt habe, und er
fand den hauptsächlichsten Grund davon in dem Unbedeuten-
den seiner Umgebungen, welche ihm zu wenig geistige Nahrung
zugefühi-t und sein Freundschaftsbedüifniss nicht in höherer
Weise befriedigt haben. Diess war nun wohl allzustrenge ge-
urtheilt, und in Schönthal selbst hatte er auch jenen Mangel
nicht in dem gleichen Masse empfunden; aber soviel werden
wir immerhin zugeben müssen, dass einem so reichbegabten
und in seiner geistigen Entwicklung seinen Altei-sgenossen so
unverkennbar voraneilenden Jüngling vielseitigere Anregungen,
weitere Verhältnisse und ältere Freunde schon desshalb zu
wünschen gewesen wären, weil sie ihn sicherer vor jener gei-
stigen Selbstgenügsamkeit bewahrt hätten, der es schwer ist,
ganz zu entgehen, wenn man sich an das Gefühl, über seinen
Umgebungen zu stehen, gewöhnt hat.
Innerlich gereift und wissenschaftlich vorbereitet, wie
wenige, bezog Schwegler im Herbst 1836 als Zögling des
evangelisch - theologischen Seminars die Universität Tübingen.
Die höheren Aufgaben des Universitätsstudiums wurden mit
einem seltenen Eifer und mit dem glücklichsten Erfolge von
ihm ergiiflfen. Zunächst zog ihn die Philosophie an, mit wel-
cher sich die künftigen Theologen ohnedem, der bestehenden
Einrichtung gemäss, während der ersten Halbjahre Vorzugs- -
weise zu beschäftigen hatten. Er wai*f sich gleich anfangs nüt«;i
Eifer in die hegel'schen Schriften hinein, unter denen er na —
mentlich die Phänomenologie und die Logik bewunderte, &
dass er auch hierin den andern vorauseilte. Auch er selbs
schloss sich in seiner wissenschaftlichen Ueberzeugung denn,
hegel'schen System an; und wenn er sich auch ziemlich bal(E3
gestehen musste, dass es ihn doch nicht vollkommen befiiedige^
so kam er doch nach allen Bedenken gegen dasselbe in der^
Hauptsache immer wieder darauf zuiiick. Neben Hegel ge^
wann für ihn seit dem Beginn seines theologischen Cursor
Albert Schwegler. 333
Schleiermacher, über den er damals eine anregende Vorlesung
bei Reiflf hörte, die grösste Bedeutung, nur dass er freilich an
Schleiermacher vor allem den Kritiker und den Philosophen
in's Auge fasste, und die in der schleiennacher'schen Schule
herrschende Vorstellung von seinem Verhältniss zum Christen-
thum geradezu für einen Beweis theologischer Beschränktheit
hielt Durch Schleiermacher und Reiflf, auch durch Erdmann's
Schrift über Glauben und Wissen veranlasst, begann er auch
Kant und Fichte einen höheren Werth beizulegen, als fi-üher.
Der herbartischen Lehre dagegen, mit der er sich gleichfalls
durch eigenes Studium bekannt machte, in die er aber doch
damals noch nicht erachöpfender eingieng, wusste er keinen
Geschmack abzugewinnen, und die Versuche jüngerer Männer,
die Philosophie in theilweisem Gegensatz gegen Hegel auf
neue Grundlagen zu stellen, regten ihn zuei'st lebhaft an, fan-
den aber auf die Dauer bei ihm keinen Beifall. Auch als die
theologischen Studien den grössten Theil seiner Zeit in An-
spruch nahmen, verlor er die philosophischen Fragen nicht aus
den Augen; er wusste, wie er selbst in seinem Tagebuch be-
merkt, dass er bei allen seinen theologischen Anschauungen
von philosophischen Kategorieen zehre, und empfand den
Mangel umfassenderer philosophischer Beschäftigung in dieser
Zeit schmeralich. So lebendig aber auch sein philosophisches
Interesse und so klar sein Verständniss philosophischer Systeme
war, so war doch im ganzen genommen die abstrakte Speku-
lation seiner geistigen Eigenthümlichkeit weniger angemessen,
als die geschichtliche Forschung. Sein heller, Bestimmtheit
aller Vorstellungen fordernder Verstand konnte den festen Bo-
den der Thatsachen, seine lebendige Einbildungskraft die an-
schaulichen Gestalten der Wirklichkeit nicht entbehren ; seinem
gelehrten Fleiss war die Sammlung, seinem Scharfsinn die
Sichtung massenhafter StoflFe eine lockende Aufgabe ; sein um-
fassender Blick fand sich von der Betrachtung, sein architek-
^lüßches Talent von der wissenschaftlichen Durchdringung,
^®ine Darstellungsgabe von der Schildei-ung geschichtlicher
^^stände und Entwicklungen vorzugsweise angezogen. Zu
334 I^rei deutsche Gelehrte.
diesem entschiedenen inneren Beruf kamen aber im vorli^en-
den Fall noch die bedeutendsten äusseren Anregungen. Als
Schwegler in Tübingen eintrat, waren eben durch Strauss'
Leben Jesu die herrschenden Annahmen über den geschicht-
lichen Charakter der evangelischen Erzählungen mit seltener
Kühnheit und Meisterschaft in Anspruch genonmien , und es
war ebendamit der Theologie die dringende Aufgabe gestellt
worden, den Ursprung und die älteste Entwicklung des Chii-
stenthums aufs neue, und gründlicher als bisher, zu untersuchen.
Schwegler selbst war von jenem epochemachenden Werke tief
ergriffen worden. Er glaubte einzusehen, dass diese Kritik die
nothwendige Spitze der ganzen Entwicklung sei, welche das
Verhältniss der Theologie zur Philosophie bisher genommen
habe, dass man entweder mit der evangelischen Kirchenzeitung
diese ganze Entwicklung verwerfen oder mit Strauss ihr un-
vermeidliches Ergebniss ziehen müsse. Die mancherlei Mass-
regeln, durch welche Staats- und Kirchenbehörden der Ver-
breitung straussischer Ansichten immer offener entgegentraten,
machten auf ihn einen niederschlagenden und zugleich einen
aufi-egenden Eindnick. „Es gehört Selbstentäusserung und
hoher Muth dazu," bemerkt eines seiner Tagebuchblätter dar-
über, „in unseiTi Tagen die Wahrheit offen und rückhaltlos
herauszusagen. Die Welt erschrickt davor." Und mit deir
ganzen Heftigkeit eines neunzehnjährigen Jünglings fügt er bei =.
„0 dass ich dieses feige und hinterlistige Geschlecht zertretei
könnte! Aber es wird auf den Dächern gepredigt werden. ,
was man jetzt in den Kammern lispelt, es wird eine Zeit kom —
men, wo des Jahrhunderts eherne Zunge gelöst werden un^^
Strauss nicht mehr isolirt stehen wird." Aber seltsam, in dem — j-
selben Augenblick, wo er diess schreibt, kommt ihm d e * i^
Zweifel, ob e r dann noch Straussianer sein werde, und je ai
haltender er sich mit dem „Leben Jesu" beschäftigt, um
mehr findet er daran auszusetzen, so dass er am Ende meini
er könnte wohl etwas eben so gutes schreiben, und schon jel
getraute er sich eine solidere historische Grundlage aus dei
evangelischen Text herauszudiviniren. Ja er trug sich selb] "^^
Albert Schwegler. 335
nit einem Aufsatz fllr eine Zeitschrift, worin er die straussi-
iche Schiift besprechen und unbarmherzig damit umgehen
sollte — welchen vorzeitigen Plan er dann aber doch wieder
lufgab. Seine wissenschaftlichen Ueberzeugungen waren über-
laupt um jene Zeit, in den ei*sten Jahren seines theologischen
yursus, in ein gewisses Schwanken gerathen. Während er
Tundsätzlich auf dem Boden des hegel'schen Systems stand,
chien es ihm doch, dass dieses System der Persönlichkeit zu
^enig einräume; er wirft die Frage auf, ob die Philosophie
icht christlicher werden sollte, er misstraut den Meinungen
ler Philosophen, er sucht ein neues theologisches Princip,
lurch welches die Theologie tiefer mit der Philosophie ver-
öhnt, dem positiv religiösen Standpunkt eine grössere Be-
'echtigung zuerkannt werde; er begeistert sich füi- die Idee
ier Kirche , er beachtet die Bedeutung des Bösen für die
religiöse Weltansicht, er findet, dass eine treue Vertiefung in
die Pei'sönlichkeit Christi im praktischen Leben viel wirksamer
sei, als ein abstraktes Moralprincip, denn wenn diese Pei^sön-
lichkeit auch keine schlechthin absolute sei, so gehöre sie doch
jedenfalls zu den vollendetsten der Weltgeschichte; er macht
fJen Vei-such, die Religion unter den praktischen Gesichtspunkt
^ stellen, dass die Wahrheit in ihr erlebt werde; er findet,
l^s er selbst immer christlicher werde, ja einmal meint er
ögar, so traurig es sei, so könne er doch nicht dafür stehen,
t> er nicht einmal Pietist werde. Diese letztere Besorgniss
^r nun fi*eilich gewiss überflüssig : zur pietistischen Foim der
i'ömmigkeit fehlte Schwegler, nach Bildungsgang und Naturell,
icht weniger als alles. Aber soviel ergibt sich doch aus dem
^en bemerkten, dass es ihm nicht länger möglich war, der
^sitiven Religion gegenüber in jener ablehnenden Stellung zu
-X'haiTen, die der angehende Philosoph zueilst angenommen
^tte. Er war fiiihe an den heiTSchenden Voratellungen irre
-forden: er hatte das Knabenalter kaum verlassen, als er
^ch schon anfieng, zu zweifeln, und er beklagte es später, in
öin Zeitpunkt, an dem wir jetzt stehen, dass er nicht all-
^^ilieh vom Glauben zum Zweifel geführt worden sei, sondern
336 ^^rei deutsche Gelehrte.
mit dem Zweifel und der Verneinung angefangen habe, und
nun , nach einem positiven Halt lechzend , sich mit Mühe zur
Position durchschlage. Die letztere war ihm jetzt allerdings
Bedürfniss geworden; aber dieses Bedüi-fiiiss konnte seine Be-
friedigung bei ihm, seiner ganzen Natur nach, wieder nur auf
dem theoretischen Weg finden. Was sich für ihn aus der Un-
zufriedenheit mit seinem bisherigen Standpunkt ergab, war
nicht die Flucht vor der Wissenschaft ; während sich vielmehr
die meisten vor den Ergebnissen der straussischen Kritik nur
dadurch zu retten wussten, dass sie allen kritischen Unter-
suchungen über die christliche Religion den Abschied gaben,
folgerte er daraus richtiger, dass diese Untei-suchungen in um-
fassenderer Weise betrieben und eben dadurch zu einem posi-
tiveren Ergebniss geführt werden müssen. Diese Aufgabe
hatten aber auch schon ältere Männer in Angriff genommen,
und niemand hatte sich ihr mit einem grösseren Aufwand von
Scharfsinn und Gelehi'samkeit unterzogen, niemand löste sie
in selbständigerer Weise und giiff durch diese Lösung tiefer
in den Gang der deutsch - protestantischen Theologie ein, als
der, welcher unter Schwegler's theologischen Lehrern un-
bestritten die erste Stelle einnahm, und welcher schon als
Vertreter der historischen Fächer sein Interesse voi-zugsweise
auf sich ziehen musste, Dr. Baur. Gerade in den Jahren,
in welche Schwegler's Studienzeit fällt, wurde von diesem Ge-
lehrten, neben umfassenden dogmen - geschichtlichen Arbeiten,
eine Reihe der wichtigsten Untersuchungen über das ürchri-
stenthum und seine Geschichte theils veröffentlicht, theils vor-
bereitet, und es wurde dieses Gebiet auch in den Kreis seiner
Vorlesungen immer vollständiger hereingezogen ; während «n*
gleich ein freundlich gewährter und eifrig benutzter persön-
licher Verkehr einem Schüler von Schwegler's Wissbegierie
volle Gelegenheit bot, die neuen Ansichten noch genauer an
der Quelle selbst kennen zu lernen und an den Entdeckungen
des Meisters sich lernend zu betheiligen. Kein Wunder, dass
sich der empfängliche junge Mann den Ansichten und der
historisch - kritischen Methode seines Lehi-ers mit allem Feuer
Albert Schwegler. 337
^endlicher Entschiedenheit anschloss. Fand er doch hier
es, was seiner eigensten Natur zusagte: gelehrte Behen-
lung eines reichhaltigen Materials, rücksichtslose Kühnheit
d Schärfe der Kritik, gi-ossai-tige geschichtliche Combinatio-
n, einen seltenen Scharfsinn im Aufspüren verborgener Zu-
mmenhänge, und alle diese Eigenschaften an einem Gegen-
inde von unermesslicher Bedeutung für die höchsten mensch-
hen Interessen bethätigt. Eine besondere Veranlassung zu
5sen Studien gaben ihm in zwei aufeinanderfolgenden Jahren
sologische Preisaufgaben, welche er mit so glücklichem Er-
g löste, dass ihm beidemale nicht allein der akademische
eis, sondern auch eine ungewöhnlich anerkennende Beui-thei-
Qg von Seiten der evangelisch - theologischen Fakultät zu
leil wurde. Die erste derselben betraf das Verhältniss des
ealen und des historischen Christus, die zweite den Monta-
Bmus; durch jene war ein genaueres Eingehen auf die evan-
jlische Christologie in ihren verschiedenen Formen, durch
ese eine umfassende Beschäftigung mit der gesammten christ-
chen Literatur der zwei ersten Jahrhunderte und namentlich
lit TertuUian's Schriften gefordert, welche am Ende gleich-
ills wieder aufs vierte Evangelium zurückführte. Der letzteren
Lrbeit besonders hatte Schwegler die reichsten Anregungen
n verdanken : er selbst bemerkt gegen das Ende seiner Stu-
lienzeit, er mache täglich neue Entdeckungen, namentlich in
Beziehung auf den neutestamentlichen Kanon. Aber seine
lusßiehten auf eine engere Anschliessung an's Positive giengen
labei freilich nur zum kleinsten Theil in Erfüllung; jene Ent-
leckungen, fügt das Tagebuch bei, seien eben lauter heterodoxe,
lud an diese Bemerkung knüpft sich ein sehr unmuthiger Ausfall
^^das „Pfaffengeschmeiss , das einem den Mund kneble": so
^lar er auch einsah, was seinem äusseren Fortkommen förder-
ich wäre und was von den Mächten des Tages verlangt werde,
wenig veratattete ihm doch sein wissenschaftliches Gewissen,
len Weg zu verlassen, welchen ihm der Gang seiner Studien
uu einmal aufdrang. Seine Freude an der Theologie konnte
ber natürlich durch die Wahrnehmung des Zwiespalts, in den
Zell er, Vorträge und Abhandl. 22
338 ^fc^ deutsche Grelehrte.
er sich mit der herrschenden Richtung versetzte, nicht ge-
winnen, und so kam ihm wohl einmal der Gedanke, sich nach
Beendigung des theologischen Studiums noch auf die Jurispru-
denz zu werfen, die ihm ohne Zweifel nach verschiedenen Sd-
ten hin die günstigsten Aussichten eröfbet haben würde; in-
dessen wurde dieser Gedanke aus inneren und äusseren Gründen
nicht weiter verfolgt.
Gieng aber schon Schwegler's wissenschaftliche Entwicke-
lung nicht ohne Anstoss vor sich, so war diess nach einer
anderen Seite hin noch weniger der Fall. Es war unsei*em
Freunde nicht beschieden, in seinem inneren Leben von einer
Stufe zur andern in jener ruhigen und gemessenen Weise fort-
zugehen, deren sich gerade unter den Talentvollsten immer
nur wenige Glückliche zu erfreuen haben. Er selbst bemerkt
einmal über sich, und er betrachtete es als sein Unglück,
dass er fast gar keine weiblichen und fast bis zum Uebei-fluss
männliche Elemente in sich habe. Oder genauer: es fehlte
ihm auch nicht an jenen, aber es wurde ihm nicht leicht, das
hannonische Verhältniss beider zu finden. Er besass von Natur
ein weiches, zum Mitleid geneigtes, für Liebe und Freundschaft
empfängliches Gemüth. Geselliger Verkehr mit anderen Men-
schen war ihm Bedüifniss, er suchte eine innigere Verbindung
mit einzelnen, und wenn es ihm in der einen oder der anderen
Beziehung nicht glückte, konnte sich ein heftiger Schmerz und
eine verzehrende Sehnsucht seiner bemächtigen. Selbst solchen,
die in jeder Beziehung tief unter ihm standen, konnte er eine
Zuneigung schenken, wie man sie diesen Personen gegenüber
nicht von ihm erwartet hätte: so nahm er sich z. B. dnes
äusserst hemntergekommenen Theologen, der ihm als Ab-
schreiber diente , nach Kräften an , und sorgte fllr ihn , als er
krank im Spital lag, und in einem eigenthümlichen humoristi-
schen Vertrauensverhältniss stand er mit dem Barbier, der ihn
jeden Tag bediente; dieser Mann behandelte aber freilich auch
seine Kunst im höheren Styl, und die Würde und Bildung,
mit der er sich umgab, machte ihn zu einer für Schwegler
höchst erheiternden Erscheinung. Namentlich war er aber ein
Albert Schwegler. 339
i*osser Kindeiireund und auch unter seinen Geschwistern be-
»nders zärtlich gegen die zwei jüngsten , die als Kinder ge-
tx>rben sind ; gerade weil sich seine eigene schai-fkantige Natur
-emder Eigenthtlmlichkeit nicht so leicht anschmiegte, schien
ich seine Neigung dem weichen und widerstandslosen Wesen
er Kinder mit Vorliebe zuzuwenden. Wenn ihn daher Fenier-
:ehende nicht selten für kalt und gemüthlos hielten, so war
iess gewiss unrichtig. Allerdings waren aber in seinem Cha-
ikter die männlichen Züge durch Naturanlage und äussere
inflüsse schäiier ausgeprägt. Er besass nicht blos einen
^rken Willen, sondern auch kräftige Leidenschaften; es
urde ihm schwer, sich in AnspiUche, deren Recht er nicht
iigeben konnte, zu fügen, andere sich vorgezogen zu sehen,
ilche, denen er sich geistig überlegen wusste, auf gleichem
'uss zu behandeln; er war von dem Ehi-geize beseelt, sich
lurch seine Leistungen auszuzeichnen, er selbst glaubte aber,
lieser Ehrgeiz sei in seiner früheren Jugend stärker, als gut
war, genährt worden; er war gewohnt, seine Ziele mit Energie
zu verfolgen, er wollte seine Umgebungen mit sich foitreissen,
und konnte einen Widerstand, der ihm entgegentrat, nament-
lich dann kaum eintragen, wenn es der Widerstand der Be-
schränktheit und Gleichgültigkeit war oder zu sein schien.
Seinem scharfen Blick konnten fremde Schwächen nicht leicht
entgehen, seine gross angelegte Natur wui-de durch enge Ver-
haltnisse gedrückt, sie war zum Zorae geneigt, wenn sich ihr
die Schlechtigkeit, zur Verachtung , wenn sich ihr der Unver-
stand und die Mittelmässigkeit der Menschen aufdrängte.
Frühe gewohnt, sich über sich selbst klar zu sein und sich
M dem Zustand seines Innern Rechenschaft abzulegen, fand
^r sich durch die Reflexion, welche ihm zur andern Natui- ge-
^ord^ war, in der Unbefangenheit seines Thuns nicht selten
gestört, und er selbst macht sich einmal (in dem Tagebuch
seiner Univei*sitätszeit) in einem tiHben Augenblick Vorwürfe
<iarüber, dass er es nicht lassen könne, mit sieh zu kokettiren,
öass er ein Schauspieler sei, der beides, Publikum und Scene,
•
*ii sich selbst habe. Es wäre freilich sehr ungerecht, wenn
22*
340 l^i^ei deutsche Crelehrte.
man daraus schliessen wollte, es sei ihm mit seinen wissen-
schaftlichen Bestrebungen und mit der sittlichen Arbeit an sidi
selbst nicht ernst gewesen; gerade eine so herbe und über-
triebene Selbstanklage beweist ja vielmehr das Gegentheil;
aber das sieht man hieraus, dass es ihm auch von dieser Seite
her mehr, als manchem andern, ei*schwert war, zu einer gleich-
massigen und innerlich bei*uhigten Stimmung zu gelangen.
Es begreift sich so, dass er in den Jahren, welche für die Ent-
wickelung seines Charakters von der grössten Bedeutung waren,
in seinen üniversitätsjahren, von lebhaften inneren Bewegungen
und Kämpfen nicht verschont blieb, so wenig auch die R^d-
mässigkeit seines äusseren Verhaltens im ganzen dadui*ch ge-
stört wurde. Ein Tagebuch, welches er von 1837 bis 1840
mit der gi'össten Offenheit gegen sich selbst fühlte, lässt nns
in ein Meer von unruhigen Gemüthserregungen hineinblicken.
Bald ist es Unzufriedenheit mit sich selbst, bald sind es Irrun-
gen mit andei-n, bald die Zustände des Seminars, bald ökono-
mische Verlegenheiten, die ihn in Aufregung versetzen. Er
hat ein entschiedenes geselliges Bedürfniss, er sehnt sich nach
einem Freunde^ er fasst für einzelne eine lebhafte, selbst lei-
denschaftliche Neigung. Aber immer gestalten sich die ge-
selligen Beziehungen unter seinen Commilitonen und seine
eigene Stellung darin wieder andei's, als er gewünscht hat; er
macht die Eifahrung, dass die anderen kein rechtes Herz m
ihm fassen, dass eine gewisse Scheu sie von ihm entfemt hält,
und wenn er den Freund gefunden zu haben glaubt , den er
sucht , will es doch nie auf die Dauer gelingen , in das be-
ruhigte Verhältniss ungetiHbter Innigkeit mit ihm zu treten-
Dann ergreift ihn wohl das schmerzliche Gefühl der Täuschong;
er veraweifelt an sich selbst und an seinen Umgebungen, er
sehnt sich aus den engen Verhältnissen der Anstalt und der
Univei-sität, welcher er angehört, in's Weite, aus der Gegaiwirt
überhaupt in die Vergangenheit; er schwärmt mit HölderüB»
den er auch in der Nacht seines Wahnsinns aui^esucht hat
für Hellas; er macht sich Vorwürfe, dass er unter den Men-
schen, die ihn umgeben, lange nicht würdig, zurückhaltend»
Albert Schwegler. 341
kalt genug sei. Und doch kann er es nicht lassen, eben diese
Menschen aufzusuchen, die Einzelnen zu lieben, während er
sich zeitweise einbildet, er hasse die Menschheit; und doch
sind ihm auch die provinciellen Beschränktheiten, von denen
er sich beengt fühlt, so tief in's Fleisch gewachsen, dass es
ihn in die äussei*ste Uninihe vei-setzt, wenn ihm die Befürch-
tung aufsteigt, er könnte seine Stelle an der Spitze seiner
Jahresabtheilung im Tübinger Seminar nicht behaupten, oder
kein ganz ausgezeichnetes Examen machen ; und er selbst war
sich klar genug über sich selbst, um zu wissen, dass er ein
ächter Sohn seiner schwäbischen Heimath sei. Es lagen eben
verschiedenartige Elemente in seinem Wesen, deren Ausglei-
ehung ihm dadurch, dass er sich ihrer so deutlich bewusst
war, nicht erleichtert, sondern erschwert wurde. In dem
Wechsel seiner Stimmungen konnte es ihm selbst begegnen,
abenteuerlichen Voi-stellungen , für die er eigentlich gar nicht
gemacht war, vorübergehend sein Ohr nicht ganz zu ver-
schliei^en. So hatte er einmal den Einfall, sich von einer Kar-
tenschlägerin wahnsagen zu lassen, von deren Kunst er man-
cherlei gehört hatte, und so albem er die Person sonst fand,
machte es doch auf ihn einen starken Eindiiick, als er auf
die Fi-age , wie alt er werde , die Antwort erhielt : 29 Jahre.
Es zeigte sich dann fi-eilich, dass ihn die Sibylle nur falsch
verstanden hatte: sie meinte, er frage, wie alt er sei, und
als ihr die Sache erklärt war, prophezeite sie ihm aufs frei-
gebigste ein langes Leben; was freilich leider ebenso falsch
^ar, als die erste Antwort (denn er war damals erst neun-
zehn) und als all das Glück, das sie ihm sonst noch weissagte.
Indessen war das nur ein flüchtiger Einfall, dessen wir nicht
en?ähnen würden, wenn er nicht zeigte, dass es unserem
Freande auch an einer phantastischen Ader nicht ganz fehlte.
Sofeiii es sich um seine ernstliche Meinung handelte, hatte er
natürlich andere Mittel, seinen inneren Bedrängnissen zu ent-
gehen, und das wirksamste von allen war die Arbeit. Schwegler
^ar überhaupt eine Pei-sönlichkeit , der es nur in der Thätig-
keit, und in anstrengender Thätigkeit, wohl war. Sobald ihm
342 ^^6i deutsche Gelehrte.
der Stoff oder der Trieb dazu ausgieng, überkam ihn das Ge-
fühl der ErschlafiFung , die Unruhe der Reflexion, die Unzu-
Medenheit mit sich selbst. Er konnte nicht thatlos gemessen,
nicht behaglich in Empfindungen ausmhen ; sein rastloser Geist
hatte jedes Ziel in dem Augenblick übei-flogen, in dem er da-
vor ankam, und was er sich auf ^s lebhafteste gewünscht hatte,
verlor für ihn seinen stärksten Reiz, wenn er mit keinem Hin-
deiTiiss mehr dämm zu kämpfen hatte. Nur in der Anspan-
nung seiner Kräfte gedieh die Schwungkraft seiner Seele, nur
in der lebendigsten Bewegung kam er zur Ruhe. Er war
eine von jenen männlichen Naturen, die so bedeutendes in der
Welt leisten und so selten in ihr glücklich werden. Oder ihr
Glück ist wenigstens anderer Ai*t, als das der gewöhnlichen
Menschen: es ist eben die Freude des Schaffens und Fort-
schreitens als solche, die Arbeit selbst, nicht die Erholung
nach der Arbeit. Diese Arbeitslust bewährte Schwegler schon
auf der Universität. Das gesellige Treiben und die Zer-
streuungen des akademischen Lebens blieben ihm nicht fi*emd,
aber sie befriedigten ihn nur wenig; sein eigentliches Lebens-
element waren die Studien, denen er namentlich dann, wenn
er eigene Arbeiten zu machen hatte, oft wochenlang den
grösseren Theil der Nächte widmete. Je rastloser er arbeitete,
je mehr das Bewusstsein seiner Leistungen ihn hob , um so
stolzer und freudiger blickte er in die Zukunft, und nur wenn
seine Kräfte durch übeimässige Anstrengung ei*schöpft waren, i
oder wenn irgend ein sonstiger Gmnd ihn von der gewohnten j
Thätigkeit abhielt, traten jene tiiiben und leidenschaftlichen j
Stimmungen ein, die in seinen eigenen Aufzeichnungen wohl
desshalb einen unverhältnissmässigen Raum einnehmen, weil
er in den Zeiten der frischesten wissenschaftlichen Thätigkeit
weit weniger in der Selbstbetrachtung vei'weilte. Er selbst
machte sich die Ungleichmässigkeit seiner Studien zum Vor-
wurf, wie er denn auch nur wenige Vorlesungßn regehnässig
besuchte; und schon die zweijährige Beschäftigung mit um-
fangi'eichen Preisarbeiten musste hier eine gewisse Einseitigkeit
herbeiführen. Dass er indessen kein Gebiet der Theologie
Albert Schwegler. 343
ganz vernachlässigt, und auch in denen, welchen er weniger
Zeit widmete, sich leicht und rasch orientirt hatte, zeigte die
glänzende Prüfung, mit der er im Herbst 1840 seine Studien-
zeit beschloss. Gleichzeitig erhielt er von der theologischen
Faeultät ausser dem wissenschaftlichen noch den ersten homi-
letischen und den ersten katechetischen Preis, — und er hatte
auch wirklich diesen Uebungen alle Sorgfalt zugewandt — ;
und so fehlte es ihm am Schlüss seiner Univei-sitätsjahre nicht
an vielfacher Anerkennung. Abgespannt von Arbeiten, aber
hocherfreut und mit neuem Vertrauen zu seinem Glück zeich-
net er diese Erfolge in sein Tagebuch ein, und doch ist sein
letztes Wort der bezeichnende Ausmf: „Erringen ist süsser,
als Besitzen ! **
Im Lauf seiner Studienzeit . hatte Schwegler seinen Vater
verloren, der im Frühjahr 1839, während der Osterferien,
einer langwierigen Krankheit erlegen war. Zwischen zwei so
heftigen und so scharf ausgeprägten Naturen, wie hier Vater
und Sohn waren , konnte es gerade wegen der Aehnlichkeit
ihrer Charaktere nicht ganz an Reibungen fehlen, nachdem der
jüngere von beiden gleichfalls zur Selbständigkeit zu erwachen
b^onnen hatte ; und so fühlte sich Schwegler durch die Strenge
der väterlichen Anforderungen und durch die Verstimmungen,
welche eine natürliche Folge der Krankheit waren, nicht selten
aufgeregt und gediilckt. Aber er lernte sich überwinden, und
wenn er in den Ferien zu den Seinigen zuiilckkehrte , wusste
er doch immer dem entmuthigten Kranken einen Trost, der
bekümmerten Familie eine Aufheiterung zu bringen. Er sah,
was vor allem seine Mutter litt, und er fühlte, was er ihr
schuldig war. „Ich weiss," schreibt er nach einem solchen
Besuch, nur ein halbes Jahr vor dem Tode des Vatei*s — „ich
weiss, dass ich ihr Einziges bin, dass alle ihre HoflEhung auf
mich gebaut ist, alle ihre Liebe mir angehört, ich weiss, was
sie durchzumachen hat, und das diilckt mir fast das Herz ab.*"
Als die lange vorhergesehene Katastrophe eintrat, war er tief
erschüttert. Auch die äussere Lage der Familie war beengend,
und legte denr hochstrebenden Jüngling manches Opfer auf;
344 ^rei deatsche Gelehrte.
nicht das kleinste war für ihn das der Zeit, welche er auf die
Ei*theilung von Privatuntenicht verwenden musste. Die glei-
chen Verhältnisse hemmten ihn auch nach dem Austritt aus
dem Seminar in der Verfolgung seiner wissenschaftlichen Lauf-
bahn: er war fast ganz auf sich selbst angewiesen, und da er
doch über das Gewöhnliche hinausstrebte, so lag seine Zukunft
in unbestimmten Umrissen vor ihm. Zunächst jedoch machte
es ihm die Staatsunterstützung, durch welche in Würtemberg
schon so manches Talent zum Nutzen des Ganzen gefördert
worden ist , möglich , noch eine geraume Zeit seiner weiteren
Ausbildung zu widmen. Er blieb vorerst noch drei Viertel-
jahre in Tübingen mit einer schriftstellerischen Arbeit beschäf-
tigt. Einen ersten Versuch hatte er schon als Student gemacht
durch einen Aufsatz: „Erinnerungen an Hegel", welcher anoDym
in der Zeitung für die elegante Welt (1839, Nr. 35 — 37) er-
schien, und vielen Beifall fand; auch Rosenkranz bat ihn in
HegeFs Leben (S. 287) berücksichtigt. Jetzt beschloss er,
seine jüngste Preisabhandlung für den Druck zu bearbeiten.
Sie erschien im Jahr 1841 unter dem Titel: „der Montanis-
mus und die christliche Kirche des ' zweiten Jahrhunderts",
und gleich diese Erstlingsschrift stellte die wissenschaftliche
Bedeutung des Verfassers ausser Zweifel. Eine Reihe von
Fragen, welche in die Untei-suchung über die älteste christ-
liche Kirche und über den Ursprung der neutestamentlichen
Schriften tief eingi-eifen, war hier mit Geist und Schärfe er-
örtert; die Verhältnisse einer geschichtlich noch so dunkeln
Zeit waren mit eindringender gelehrter Foi-schung beleuchtet;
neue und fruchtbare Gesichtspunkte waren aufgestellt, wichtige
Momente, welche bisher unbeachtet geblieben waren, aufgezeigt
worden. Was man daher auch von den Ergebnissen halten
mochte, die Schwegler gewonnen hatte: dass sein Buch meto
als eine gewöhnliche Probeschrift sei, dass Freunde und Gegner
vielfache Anregung und Belehmng daraus schöpfen können,
musste jedermann zugeben. Schwegler hatte die theologischen
Lehrjahre mit einer Leistung beschlossen , die für seine Beifö
das günstigste Zeugniss ablegte, und es war Zeit für ihn, die
Albert Schwegler. 345
gelehile Wandei*schaft anzutreten, auf welche sich nach einem
alten vom Staat geförderten Herkommen alljährlich eine An-
zahl würt^mbergischer Theologen zu begeben pflegt. Sein
Hauptziel war Berlin, wo doch immer weitere Verhältnisse,
reiche Hülfsmittel und mannigfache Anregungen zu finden
waren, wenn auch die Universität als solche ihre theologische
und philosophische Blüthe schon um ein Jahrzehend hinter
sich hatte. Doch war sein Plan nicht auf diese Stadt be-
schränkt: er gieng zuei*st (1841, Anfangs Juli) nach München,
das er schon früher besucht hatte, und verweilte hier fast
einen Monat, um die doi-tigen Kunstschätze zu studiren, von
verschiedenen Seiten und zum Theil von hochstehenden und
bedeutenden Männern freundlich aufgenommen und gefördert.
Von München aus nahm er seinen Weg über Wien und Prag.
Erst am 3. Oktober traf er in Berlin ein. Er blieb hier in
Gesellschaft einiger Landsleute bis in den Mai des folgenden
Jahrs. Sein Absehen gieng aber dabei weit weniger auf Be-
nützung der Vorlesungen, als auf Gewinnung erweiterter An-
schauungen, auf genauere Orientirung in den wissenschaftlichen
und literarischen Kreisen, auf Vervollständigung seiner Welt-
kenntniss und Weltbildung ; zugleich hegte er die unbestimmte
Hoffiiung, dass sich ihm vielleicht hier auch für ihn selbst neue
)Vege eröffnen würden. Er kam nicht als Student, sondern
als ein junger Gelehrter. So beschäftigten ihn denn auch hier
literarische Arbeiten; eine Kritik von Neander's Geschichte
des apostolischen Zeitalters, welche schon die allgemeinsten
Umrisse seines späteren Werks über das nachapostolische Zeit-
alter enthält, ei-schien in den Deutschen Jahrbüchern (1842,
165 flf.), eine gehaltvolle Abhandlung über „die neuste johan-
neische Literatur" in den ei*sten Heften der Theologischen
Jahrbücher; eine Schrift über die herbartische Philosophie, die
iDa ersten Entwurf bereits fertig war, ist nicht gedmckt wor-
^öiL Um dieselbe Zeit tmg sich Schwegler mit dem weitaus-
sehenden Plan, eine Geschichte des byzantinischen Ostens zu
Schreiben, und er hatte bereits an der Sammlung des Mate-
rtals mehrere Wochen hindurch eifrig gearbeitet , als ihn die
346 ^1^6^ deutsche Gelehrte.
Schwierigkeiten zuiilckschreckten , mit welchen die Herbei-
schafifung der literarischen Hülfsmittel für ihn verknüpft war.
Seine Freunde wollten sogar wissen, dass der Gedanke, sich
in diesem Osten Zutritt zur diplomatischen Laufbahn zu suchen,
kein blosser Scherz sei. Von den wissenschaftlichen und politi-
schen Zuständen Berlins fand er sich im ganzen nicht be&ie-
digt; die Macht und die Rücksichtslosigkeit der theologischen
Reaktion machte auf ihn einen niederschlagenden Eindruck,
die Charakterlosigkeit, mit der sich die meisten ihren An-
forderungen fügten, die Furchtsamkeit, welche selbst unter
den freier Denkenden viele von einem männlichen Auftreten
zuiückhielt , widerte ihn an , und was er sich von Berlin für
sich selbst versprochen hatte, gieng nur zum kleinsten Theil
in Erfüllung. Früher, wenn ihn die Verhältnisse des Tübinger
Seminars di-ückten, hatte er alle Hoffnungen auf Berlin ge-
setzt, dort hatte er leichter zu athmen und sich freier zu
bewegen gedacht. Statt dessen fand er die Luft dumpfer, die
Ansichten beschränkter, die Menschen ihrer Mehrzahl nach
kleiner, als in der Heimath ; selbst die wissenschaftliche Arbeit
war ihm hier durch die Umstände weit mehr ei-schwert; da-
von ohnedem , dass für seine eigene Zukunft hier nichts zu
machen sei, musste er sich bald überzeugen. War ihm doch
selbst der persönliche Verkehr durch die Engherzigkeit der
Parteien und das Vorurtheil gegen die Tübinger Theologen so
ei-schwert, dass er sich fast ganz auf die wissenschaftlichen
Gesinnungsgenossen beschränkt fand; diese allerdings nahmen
ihn mit Zuvorkommenheit auf, und schon sein Montanismos
hatte ihm bei ihnen einen guten Namen gemacht. Doch ver-
säumte er es nicht, die reichen Bildungsmittel der Hauptstadt
nach den verschiedensten Seiten hin zu benützen, und er
wandte in dieser Beziehung namentlich den bildenden Künsten
alter und neuer Zeit seine Aufmerksamkeit zu. Ebenso er-
giiff er später die Gelegenheit zum Studium der niederländi-
schen Kunst, indem er auf der Rückkehr Holland, Belgien und
den Rhein besuchte. Auch England sehen zu können, hatte
er lebhaft gewünscht, und sich in dieser Aussicht in Berlin auf
1
Albert Schwegler. 347
die englische Sprache gelegt ; seine Verhältnisse nöthigten ihn
jedoch, auf diesen Wunsch zu yei*zichten und sich neben den
Niederlanden auf Deutschland, wo er natürlich besonders die
Univei-sitäten aufsuchte, zu beschränken.
Während Schwegler in Berlin war, wurde ihm von dem
Fürsten von Löwenstein - Wertheim eine PfaiTstelle angeboten.
So dankenswerth aber dieses Anerbieten auch war, und so er-
wünscht die Annahme desselben seiner Familie hätte sein
müssen, so stand doch ein solcher Schritt mit allen seinen
Lebensplanen zu sehr im Widerspinich , als dass er sich dazu
entschliessen konnte, und seine treu besorgte Mutter wollte
schliesslich gleichfalls lieber ihre Wünsche und ihren Vortheil
zum Opfer bringen, als ihm die Laufbahn vei-schlossen sehen,
zu der ihn sein innerer BeiTif hinzog. Dass es aber hiebei
nicht ohne Schwierigkeiten für ihn abgehen werde, zeigte sich
freilich gleich nach seiner Rückkehr in die Heimath (August
1842). Er bemühte sich zunächst um eine Vei^wendung im
Kirchendienst oder im höheren Lehrfach, welche ihm die nöthige
Müsse liesse, und ihm durch die Nähe einer Bibliothek die
Mittel gewährte, um seine gelehrten Studien und seine litera-
rischen Plane weiter zu verfolgen. Da sich aber einige Monate
lang keine geeignete Stelle finden wollte, entschloss er sich,
im Herbst 1842 nach Tübingen überzusiedeln, von wo er zu-
gleich drei Vierteljahre lang die kirchlichen Geschäfte in dem
nahen Bebenhausen besorgte; weitere Subsistenzmittel ge-
währten vorerst Conecturarbeiten für Peschier's Dictionaire.
Schwegler kehrte so zunächst in der bescheidensten Stellung
auf den Boden zui*ück, der ihn geistig grossgenährt hatte, und
auf dem sein übriges Leben verlaufen sollte.
Es hatte sich um diese Zeit in Tübingen eine Anzahl
jüngerer Männer von fielen Grundsätzen und wissenschaft-
lichem Streben zusammengefunden, die als Lehrer in vei-schie-
denen Facultäten wirkten, und auch als Schriftsteller, zum
Theil in eigenen Zeitschriften, ihren Ansichten Geltung zu ver-
schaffen suchten. Einige dei*selben waren bereits angestellt,
die meisten hatten damals noch als Privatdocenten , oft unter
348 I^rei deutsche Gelehrte.
lebhaftem und langjährigem Widerstand, um die Stellung zu
ringen, die sie in der Folge denn doch alle innerhalb oder
ausserhalb Würtembergs gefunden haben. Die einen kamen
aus der Schule der Hegerschen Philosophie, andere waren von
empirischer Forschung ausgegangen; aber wie jene die philo-
sophische Spekulation durch Kritik und 6eschichtsfoi*schung
zu ergänzen suchten, so strebten diese nach einer wissenschaft-
lichen Verknüpfung und Erklärung der Thatsachen. So war
bei aller Mannigfaltigkeit der Fächer und der Ansichten doch
eine überwiegende Verwandtschaft der wissenschaftlichen Denk-
weise vorhanden. Dazu kamen vielfache persönliche Verbin-
dungen und Universitätsfreundschaften, Gleichheit der akade-
mischen und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es war
natürlich, dass unter diesen Umständen der grössere Theil der
Genannten in einen engeren pei*sönlichen Verkehr trat; andere
schlössen sich an, meist gleichfalls jüngere Männer in vei^schie-
denen Lebensstellungen; ab und zu kamen Fremde hinzu, die
sich länger oder kürzer in Tübingen aufhielten, und es bildete
sich so ein bunter und munterer Kreis mit wechselnder Peri-
pherie, der aber doch seinen festen Mittelpunkt an den Stamm-
gästen hatte, welche sich jeden Abend und theilweise auch
Mittags zusammenfanden, um sich in heiterem Gespräch von
der Tagesarbeit zu erholen. Da gab es denn in der Regel
eine belebte Unterhaltung, in der literarische und pei*sönliche
Mittheilungen, wissenschaftliche und politische Gespräche, gute
und schlechte Scherze sich drängten ; die Gegner wurden nicht
geschont , was die kleine Universitätsstadt an Neuigkeiten bot,
war sicher hier zu finden; der Ton war der ungezwungenste,
man sprach sich freimüthig, auch wohl iUcksichtslos und derb
aus; aber weil man sich im allgemeinen schätzte und zusam-
menpasste , wurden Misstöne leicht überwunden , und ein gut-
müthiger Humor wusste auch das widrige zu vereöhnen und
über die unangenehmen Erfahrungen, von denen die meisten
Theilnehmer zu erzählen hatten , hinwegzuheben. Es war ein
fröhliches Zusammenleben, eine Nachblüthe der üniversitäts-
jahre, der es doch auch schon an Früchten nicht fehlte, eine
I
I
J
Albert Schwegler. 349
Zeit reich an Bestrebungen und Planen, an Hoffnungen, Täu-
schungen und Erfolgen. Auch Schwegler trat bald in diesen
Kreis ein und behauptete darin seine eigene Stellung. Einer
der Stilleren in der Gesellschaft wurde er gewöhnlich nur
dann gesprächig, wenn die Unterhaltung eine literarische, wis-
senschaftliche oder politische Wendung nahm, und besondei-s
wenn sich eine eingehendere Debatte entspann; an manchem
Abend sass er schweigsam, durch seine Lage verstimmt oder
mit seinen Arbeiten und Planen beschäftigt; aber doch ent-
gieng das Gespräch der übrigen seiner Aufmerksamkeit nicht,
und unversehens warf er oft ein treffendes Wort dazwischen.
Die anderen Hessen ihn in seiner Eigenthümlichkeit gewähren ;
einzelne kamen ihm persönlich und wissenschaftlich näher; alle
achteten die Tüchtigkeit seines Charakters und die seltenen
Eigenschaften seines Geistes. Konnte er daher auch unter
seinen Freunden für die Ungunst der sonstigen Verhältnisse
keinen vollen Ersatz finden, so wurde es ihm doch durch den
Umgang mit denselben ohne Zweifel wesentlich erleichtert, sie
zu ertragen.
Von Schwegler's wissenschaftlicher Thätigkeit in dieser
Zeit zeugten zunächst mehrere werthvolle Abhandlungen in den
Theologischen Jahrbücheni. Bald aber sollte sich ihm eine
neue und eigenthümliche literarische Wirksamkeit eröffnen.
Mehrere von den jüngeren Lehreni der Universität, meist aus
dem ebenbezeichneten Kreise, tragen sich schon länger mit
dem Plan einer Zeitschrift, welche die Fragen der Zeit und
die hervon*agenden Erscheinungen der Literatur und der Kunst
in ähnlicher Foi-m, aber in massvöUerer Haltung, ^Is die einst
so bedeutenden, jetzt immer mehr einem unbesonnenen Radi-
kalismus verfallenden Deutschen Jahrbücher, besprechen, und
so die fortschreitende Wissenschaft beim grösseren Publikum
vertreten sollte. Durch die polizeiliche Unterdräckung der
Deutschen Jahrbücher ward die Verwirklichung dieses Planes
beschleunigt, und mit dem Juli 1843 wurden die ersten Num-
mern von den Jahrbüchern der Gegenwart ausgegeben, welche
ei-st zu Stuttgart, seit 1844 zu Tübingen erschienen und bis
350 ^^^ deutsche Gelehrte.
in das Jahr 1848 sich erhielten. Für die Redaktion wusste
man keinen geeigneteren Mann zu finden, als unsem Freund,
wiewohl er unter den Begründern der Zeitschi-ift an Jahren
weit der jüngste war , und der Erfolg hat gezeigt , wie glück-
lich diese Wahl war. Wenn die Jahrbücher der Gegenwart
in der periodischen Literatur jener Zeit eine anerkannte und
achtungswerthe Stellung einnahmen, wenn sie die Sache des
wissenschaftlichen, religiösen und politischen Fortschritts mit
Muth und Besonnenheit führten, wenn sie viele Namen vom
besten Klang unter ihren Mitarbeitern zählten, wenn sie ihre
anfangs noch etwas ungelenke, literaturzeitungsartige. Gestalt
nach wenigen Monaten mit einer freieren und ansprechenderen
Form vertauschten, so haben sie diess nicht zum geringsten
Theile der Einsicht und dem Takt ihres Herausgebers zu ver-
danken. Seine eigenen Arbeiten für dieselben, grösstentheils
politischen Fragen gewidmet, zeigten eine ungewöhnliche publi-
zistische Befähigung. Festigkeit der Grundsätze, Grossaitig-
keit der Auffassung, männliche Reife des TJrtheils zeichnen sie
aus; mit gesunder Einsicht in die Natur und die Bedingungen
des Staatslebens wird jederzeit nur das Mögliche und Lebens-
fähige angestrebt; die Darstellung ist klar und durchsichtig,
die Sprache charaktervoll, würdig und bestimmt, wo es der
Gegenstand fordert schwungvoll und sogar glänzend; die Po-
lemik schlagend und durch die Ueberlegenheit ihres Tons und
ihrer Beweisführung nicht selten vernichtend. Wäre Schwegler
in die Lage gekommen, sich in grösserem Umfang und auf
einem bedeutenderen Felde der publizistischen Thätigkeit zu
widmen, so würde er unbedenklich den Musterschriftstellern
dieses Faches zugezählt werden.
Für ihn jedoch waren diess blosse Nebenarbeiten, als sei-
nen eigentlichen Beinif betrachtete er fortwährend den wissen-
schaftlichen. Um sich hiefiii* eine weitere Wirksamkeit und
eine akademische Stellung zu sichern, habilitirte er sich im
Herbst 1843 als Privatdocent bei der philosophischen FacultÄt
mit einer gelungenen Abhandlung über Plato's GastmaW.
Doch hatte er es zunächst mehr auf die schriftstellerische, als
i
Albert Schwegler. 351
auf die Lehrthätigkeit abgesehen, und überdiess liess sieb er-
warten, dass er bald, wie er wünschte, als Repetent an dem
evangelisch - theologischen Seminar werde eintreten können.
Wiewohl aber kein anderer gegründetere wissenschaftliche An-
sprüche auf eine solche Verwendung hatte, als Schwegler, so
fand doch die Oberkirchenbehörde seine theologischen Ansich-
ten mit der Eichtung, welche man den künftigen Kirchendie-
nern zu geben wünschte, zu wenig im Einklang; und es half
ihm nichts ; dass er jene Ansichten nie anders, als in streng
wissenschaftlicher Weise, geäussert hatte, dass andere zu den
gleichen Ansichten ohne Gefahr für ihre Stellung sich bekann-
ten, dass die Schläft, worin er sie zuei^st vortrug, von der
competentesten Behörde, der theologischen Facultät, eines
Preises würdig befunden war, dass einzelne von denen, welche
jetzt amtlich und ausseramtlich gegen ihn wirkten, kurz zuvor
den Antrag auf seine Anstellung selbst mit unterstützt hatten :
er wurde mit der Repetentenstelle übergangen. So empfindlich
aber diese Massregel unter seinen Verhältnissen für ihn sein
musste, so wenig liess er sich dadurch entmuthigen oder von
dem geraden Wege seiner Ueberzeugung abdrängen; vielmehr
unternahm er eben jetzt (1844 — 45) eine Arbeit, welche nicht
allein von seinem Talent, sondern auch von seinem wissen-
schaftlichen Muth einen glänzenden Beweis liefert, sein zwei-
bändiges Werk über das nachapostolische Zeitalter. Schwegler
steUt sich hier die Aufgabe, aus den ältesten christlichen
Schriften, wie uns diese theils im Neuen Testament theils
ausser demselben vorliegen, die Parteiverhältnisse, die Kämpfe
Und die Entwicklung der christlichen Kirche, vom apostoli-
schen Zeitalter an bis gegen das Ende des zweiten Jahrhun-
lierts, nachzuweisen ; er will das Geschichtsbild, dessen Grund-
Züge zuei-st Baur entworfen hatte, genauer ausführen, er will
Tins an der Hand der Literatur eine Gesammtanschauung von
cier innem Geschichte unserer Religion in jenem Zeitraum
^verschaffen. Jene positive Geschichtsansicht über den Ur-
sprung des Christenthums, welche er schon beim Beginn des
tiheologischen ^Studiums angestrebt, und von der er dann in
352 ^i^ei deutsche Gelehrte.
seinem Montanismus ein bedeutendes Binichstück bearbeitet
hatte, sollte jetzt zwar nicht vollständig entwickelt werden ; —
die Untei-suchung über den Stifter des Christenthums war vom
Plan der Schrift ausgeschlossen, und Seh wegler glaubte über-
haupt nicht, dass sie sich zu einem sicheren Resultat f&hren
lasse; auf den paulinischen Lehrbegriff gieng er nicht näher
ein, und die wichtigen gnostischen Systeme wurden nur im
Vorübergehen berührt; — aber doch sollte, so weit es unsere
Quellen erlauben, gezeigt werden, wie sich die christliche Ge-
meinde seit dem Tod ihres Stiftei-s allmählich zur katholischen
Kirche fortbildete, wie aus den Religionsvorstellungen der
ersten Christen die Dogmatik des zweiten Jahi'hunderts er-
wuchs. Die Ergebnisse dieser Untersuchung lagen nun aber
freilich von dem gewöhnlichen Wege weit ab. Das älteste
Christenthum wollte ihr zufolge nichts anderes sein, als die
Vollendung des Judenthums, es war Judenchristenthum , und
näher essenisch gefärbtes Judenchristenthum, Ebjonitismus.
Erst Paulus ist es, welcher die Autonomie und Universalität
des Christenthums zur Anerkennung gebracht hat ; aber auch
nach ihm blieb der Ebjonitismus noch lange die hen-schende
Denkweise in der Kirche, wenn er auch seine schroffsten An-
sprüche und Gmndsätze allmählich aufgab; erst nach einem
langen Kampfe gelang es dem Paulinismus, so weit durchzu-
dringen, dass das Wesentliche seiner Ginndsätze anerkannt
wurde; doch kam er auch jetzt noch keineswegs zur Allein-
herrschaft, das Judenchristenthum blieb vielmehr ein wesent-
liches Element der christlichen Religion, und nur aus einer
Vermittlung beider Richtungen, aus gegenseitigen Zugeständ-
nissen der einen an die andere, aus einer allmählichen Ve^
Schmelzung ihrer dogmatischen Anschauungen, ihrer Einrich-
tungen und ihrer Gmndsätze, entstand um die Mitte und
nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts die gesanmitchiist-
liche oder katholische Kirche und mit ihr jene Dogmatik,
welche den Gegensatz der Parteien in der gemeinsamen Ver-
ehrung des menschgewordenen Logos aufhebt. Die verschie-
denen Stufen und Wendungen dieses Pai*teikampfs und sdner
Albert Schwegler. 353
Yennittlung spiegeln sieb nicht blos in der ausserkanoniscben,
sondern aucb in der kanonischen Literatur ab : anch die neu-
testamentlichen Schriften sind Denkmale von den kirchlichen
Zuständen und dem dogmatischen Bewusstsein verschiedener
Generationen; die jüngste derselben, der zweite Petrusbrief,
fdhi-t bis gegen das Ende, das Johannesevangelium bis über
die Mitte des zweiten Jahrhunderts herab; dem apostolischen
Zeitalter gehören nur die vier wichtigsten paulinischen Briefe
und die Apokalypse an; zwischen diesen Grenzpunkten liegen
die übrigen, theils der Darstellung und Vertheidigung , theils
der Vermittlung des judenchristlichen und paulinischen Stand-
punkts gewidmeten Bücher. Diess sind die leitenden Gedan-
ken eines Werks, dessen Inhalt übrigens viel zu reich und
mannigfaltig ist, als dass sich in der Kürze eine genauere
Vorstellung davon geben Hesse. Es war zu erwarten, dass
diese Ergebnisse bei der tiberwiegenden Mehrzahl der Theo-
logen fast nur Widerspnich finden würden; und gewiss ist
manches darin, was der Berichtigung, der Ergänzung, der
näheren Ausführung und Begi*ündung bedurfte, so richtig auch
ohne Zweifel die Grundgedanken, und so treffend die meisten
von den Wahrnehmungen sind, auf die Schwegler seine An-
sicht gestützt hatte. Aber das konnten selbst Gegner, wenn
sie gerecht sein wollten, nicht läugnen, dass das „nachaposto-
lische Zeitalter** ein gelehrtes, geistvolles, vortrefflich geschrie-
benes Werk sei, das für seine Zeit eine mehr als gewöhnliche
Bedeutung habe. Unsere Bewunderung für diese Leistung
moss aber um so höher steigen, wenn wir erwägen, dass jene
57 Bogen starke Schiift in weniger als sechs Monaten nieder-
^esdirieben wurde ; eine Baschheit der schriftstellerischen Her-
vorbringung, wie sie auch nach den umfassendsten Vorarbeiten
cloch nur durch jenen eisernen Fleiss, jene Leichtigkeit der
Darstellung und jene vollendete HeiTSchaft über den Stoff
Joaöglich war, deren sich Schwegler in einem seltenen Grade
:Biihmen konnte.
Das „nachapostolische Zeitalter** bildet in zweifacher Hin-
sicht den Abschluss von Schwegler's theologischer Thätigkeit:
Zeller, Vorträge und Abhandl. 23
354 ^^ei deutsche Gelehrte.
einmal, sofern er seine früheren Untersuchungen hier vervoll-
ständigt zu einem Ganzen zusammenfasste , und sodann , weil
er mit dieser Arbeit wirklich von der Theologie Abschied
nahm, um sich andern Fächern zuzuwenden; denn was er
später dahin einschlagendes drucken liess, seine Ausgaben der
Clementinischen Homilieen (1847) und der Eusebianischen Kir-
chengeschichte (1852), das kann theils ebenso gut zur Philo-
logie gerechnet, theils an allgemeiner Bedeutung, so verdienst-
lich es auch an sich ist, doch den früheren Schriften nicht an
die Seite gestellt werden.
Noch ehe der Druck des „nachapostolischen Zeitaltei-s*
vollendet war, sehen wir den vielseitigen und unermüdlichen
Verfasser bereits wieder mit einer neuen Arbeit auf einem
weit entlegenen Gebiete beschäftigt , einer Ausgabe , Ueber-
setzung und Erläuterung der aristotelischen Metaphysik, welche
1847 und 1848 in vier Theilen erschien. Auch dieses Werk
ist in seiner Art ausgezeichnet, und es wird wegen der sorg-
fältigen und scharfsinnigen Feststellung des Textes, für welche
freilich neue handschriftliche Hülfsmittel nicht benützt werden
konnten, wegen der erfolgi*eichen Bemühungen um die Er-
klämng schwieriger Stellen, wegen der eingehenden Entwick-
lung der philosophischen Begiiflfe, auch neben dem gleichzeitig
ei'schienenen Commentar von Bonitz, mit dem es sich vielfach
berühit und ergänzt, immer geschätzt werden. Um die gleiche
Zeit (1847) erschien feiner als ein Theil der Stuttgailer En-
cyklopädie Schwegler's kui-ze Geschichte der Philosophie, welche
sich durch die geistreiche, lichtvolle und übei-sichtliche Behand-
lung ihres Gegenstandes solchen Beifall erwarb, dass schon im
Lauf der ersten zehn Jahre drei starke Auflagen von zusammen
7000 Exemplaren nöthig wurden ; die letzte derselben besorgte
Prof. C. Köstlin unmittelbar nach dem Tode des Verfassers,
unter Benützung seines Nachlasses. Auch in's Englische und
in's Dänische ist das Buch übei-setzt worden.
Im Februar 1846 unterbrach Schwegler seine Arbeiten,
um einen lange gehegten Wunsch zu verwirklichen, zu dessen
Ausfühnmg ihm sein „nachapostolisches Zeitalter" die Mittel
Albert Schwegler. 355
verschaflFte, eine Reise nach Italien. Ein fünfmonatlicher Auf-
enthalt in diesem klassischen Lande, den er aufs gewissenhaf-
teste benützte, gewähi-te ihm reiche Anregung und Belehinng.
Nachdem er Mailand, Paima, Bologna, Florenz und andere
merkwürdige Punkte Oberitaliens besucht hatte, verweilte er
längere Zeit in Bom, mit antiquarischen und Eunststudien
eifrig beschäftigt; von da gieng er nach Neapel, machte in
der Junihitze ohne Schaden für seine Gesundheit zu Pferde
die beschwerliche Reise um die sicilische Küste, und kehrte
über Florenz, Venedig und München zui-ück. Neben der Kennt-
niss von Land und Leuten, und neben der Erweitei-ung seiner
Kunstanschauungen , hatte er es bei dieser Reise namentlich
auf Vorstudien für eine i-ömische Geschichte abgesehen, deren
Plan in Rom selbst bei ihm vollends zui' Reife gedieh; wäre
diese vollendet, so dachte er auf seinen Jugendgedanken, die
Bearbeitung der byzantinischen Periode, zurückzukommen, und
wenn ihm das Schicksal ein längeres Dasein vergönnt hätte,
so war er ohne Zweifel diesen beiden Aufgaben, von denen
jede ein gewöhnliches Menschenleben ausfüllen könnte, ge-
wachsen. Von den Italieneni selbst war er wenig erbaut, und
über den moralischen Zustand der römischen und süditalieni-
schen Bevölkei-ung machte er sich keine Dlusionen. So schreibt
er z. B. aus Neapel: „Im ganzen ist Neapel hinter meiner
Erwartung zurückgeblieben, und der schurkische Charakter
des Volks, von dem man sich in der Feme gar keinen Begriff
machen kann, verbittert dem Fremden jeden langem Aufent-
halt Ueberhaupt sind die Apologieen und Lobpreisungen des
italienischen Volkscharakters, wie sie neuerdings Mode gewor-
den, namentlich durch Mittermaier's Buch, eitel erlogenes Zeug
und eine Deutschmichelei : wenn man die dürre und nackte
Wahrheit sagen will, so sind die Italiener durch die Bank —
höchstens etwa die Toscaner ausgenommen, die geistig und
"moralisch höher stehen — Schufte. Diese Unredlichkeit im
ä^del und Wandel, diese moralische ünzuverlässigkeit, diese
Hoheit und Ignoranz, dieses Gemisch von Bigotterie und Fri-
volität, worauf man überall stösst, flösst dem Deutschen bald
23*
356 I^rei deutsche Gelehrte.
einen gründlichen Ekel ein; ich wenigstens habe das Volk voll-
kommen satt Vorgestern wurde ich von einem gemeinen Kerl,
der sich mir als Cicerone für das sog. Grab VirgiFs aufdringen
wollte, den ich aber abwies, weil ich den Weg gut kannte
und schon einmal dort gewesen war , fast gepiügelt und aufs
empörendste insultirt, als ich ihm ein Trinkgeld verweigerte.
S. erzählte mir, dass dergleichen hier unzähligemale vorkomme
und er selbst vor einigen Wochen von einem Fiaker, dem er
eine Uebei-forderung abschlug, mit Steinen geworfen worden
sei. Bei der Polizei zu klagen, hilft nichts, wenn man den
Polizeibeamten nicht besticht. Deutsche, die seit längerer
Zeit hier leben, können mir nicht genug sagen von der en^
setzlichen Corruption, die durch alle Stände geht. Alles, alles
ist hier feil, und umgekehrt, ohne Geld ist nichts zu eiTeichen,
nicht einmal das einfachste Recht." Es versteht sich, dass er
selbst diese Urtheile, welchen man den Unmuth deutlich an-
fühlt, nicht für mehr als für das Ergebniss seiner persönlichen
Erfahrungen und Erkundigungen ausgegeben, dass er schwer-
lich jedes Wort darin vertreten, oder ihre Allgemeingültigkeit,
namentlich in Betreff der Bewohner von Oberitalien, behauptet
haben würde; hier führe ich sie zunächst nur als einen Be-
weis seiner Missstimmung und des Eindmcks an, welchen er
von den Italienern erhalten hatte. Besonders widerwärtig war
ihm die volksthümliche Erscheinung des dortigen Katholicis-
mus, und es war insofern eine doppelt verlorene Mühe, die
sich einige römische Geistliche gaben, ihn zur katholischen
Kirche zu bekehren. „Der Anblick des italienischen Fetisch-
dienstes", heisst es in dem schon ei*wähnten Briefe, „hat meine
antitheologische Schärfe um vieles vermehrt ; " und eine Be-
schreibung der Festlichkeiten in der Charwoche , die ihn i©
übrigen lebhaft interessirten , schliesst nach Erwähnung der
Peterskirchenbeleuchtung und der Girandola mit den Worten:
„Mit diesen Spektakelstücken schloss die sog. heilige Woche,
die eigentlich in Bom ein ununterbrochenes Spektakelstück,
ein blosser Gegenstand neugieriger Schaulust, eine Beihe von
Ceremonien ohne Andacht und religiöse Weihe ist." Das
Albert Schwegler. 357
moderne Born liess ihn überhaupt ziemlich kalt; nur das alte
Rom, fand er, verleihe dem jetzigen einen eigenthümlichen
Glanz und Beiz^ und allen Spuren der alten Geschichte und
Kunst gieng er mit jener Rastlosigkeit nach, mit der er alles
zu verfolgen pflegte, was er einmal ergriffen hatte. In dem
jetzigen Italien sprach ihn weit am meisten Florenz an, die
einzige italienische Stadt, von der er illhmt, dass er gerne
dort gewesen sei. Der gefällige Charakter der Einwohner, die
Wohlfeilheit des Lebens, die schöne Lage des Oites, der Reich-
thum an Kunstschätzen und historischen Erinnerungen machte
diese Stadt filr ihn zu einem höchst angenehmen Aufenthalt.
Mit den Deutschen in Italien war er im allgemeinen, so weit
er sie kennen gelernt hatte, gleichfalls nicht zufrieden, und
nur wenige waren darunter, die einen so wohlthuenden Ein-
druck auf ihn machten, wie der alte üeffliche Maler Reinhard.
Seine persönlichen Eiiahioingen waren auch hier nicht günstig;
gerade in Rom, wo er am meisten mit Deutschen in Verkehr
gekommen war, hatte er zwar mehr als Einen wackem und
gebildeten Mann getroffen, zugleich hatte er aber in dem
Treiben der gelehi-ten Coterieen so viel Menschliches entdeckt,
dass seine Meinung von denselben nicht wenig herabgestimmt
wiu'de. So gross auch der geistige Gewinn der Reise war,
seine Ansicht von den menschlichen Dingen und seine Ge-
müthsstimmung war daduich nicht heiterer geworden.
Leider fand er aber auch im Vaterland für seine Pei*son
keine erfi-eulichen Verhältnisse. Die Furcht vor allem und die
Gereiztheit gegen alles, was man Hegelianer nannte, hatte
eben damals in Wüitemberg in den massgebenden Kreisen
ihren Höhepunkt en-eicht; von verschiedenen Seiten und aus
verschiedenen Beweggi-ünden wui'de diese Stimmung, nicht
immer mit den löblichsten Mitteln , genähii und benützt ;
Schwegler selbst und mehrere von seinen näheren Freunden
hatten in den letzten Jahren unter dei*selben empfindlich zu
leiden gehabt, und auch für die Zukunft schienen sich ihm
keine besseren Aussichten zu eröffnen. Um seinen weitschich-
tigen wissenschaftlichen Arbeiten mit der nöthigen Müsse
358 ^^^ deutsche Gelehrte.
•
obliegen zu können, wünschte er sich sehnlich eine äussere
Stellung, die ihn in seiner Existenz wenigstens nothdürftig
sicherte und ihm die Nothwendigkeit eines raschen literari-
schen Erwerbs ersparte; um seinerseits nichts zu versäumen,
widmete er sich mit verstärktem Eifer der akademischen Thä-
tigkeit ; aber selbst die bescheidensten Wünsche fanden längere
Zeit keine Erfüllung; ei-st zu Ende des Jahres 1847 eröf&iete
sich ihm die untergeordnete Stelle eines Bibliothekai*s an dem
evangelischen Seminar, und erst das Jahr 1848 brachte ihm
(den 4. Juli) durch seine Ernennung zum ausserordentlichen
Professor für römische Literatur und Alteiiihümer die längst
verdiente Anerkennung. Von jetzt an hatte er keinen Grund
mehr, über seine äussere Stellung zu klagen: er hatte, was
er zunächst beduifle, ein bescheidenes, aber doch sorgenfreies
Auskommen, einen akademischen Wirkungskreis, Müsse ftr
seine Arbeiten; er duifte sich ohne Zweifel noch immer auf
Kämpfe gefasst machen, er war vielleicht fortwährend miss-
liebig, aber seine Lage war doch nicht mehr die eines Zurück-
gesetzten, eines Verfolgten. Leider hatten aber seine bis-
herigen Erlebnisse nur zu tiefe Spuren in seinem Gemüthe
zui-ückgelassen , und manche Umstände waren dazu angethan,
die alte Missstimmung wach zu erhalten und neue zu erzeugen.
In erster Linie steht unter diesen der Gang der öffent-
lichen Angelegenheiten. Die überwältigende Bewegung des
Jahrs 1848 musste einen Mann von Schwegler's politischem
Sinn , welcher die Begeisterung für Grösse und Freiheit des
Vaterlandes zwar zur Schau zu tragen verschmähte, ftti* den
sie aber nur um so mehr innei-ste Heraensangelegenheit war,
einen Mann, der bis dahin auch pei*sönlich so viel zu ertragen
und zu kämpfen gehabt hatte, aufs tiefete ergi'eifen. Aber
auch jetzt bewährte sich die Stärke seines Charakters und die
Ueberlegenheit seines politischen Blickes : so lebhaft er wünschte,
dass jene Bewegung zu einem heilbringenden Ziele führe, so
täuschte er sich doch keinen Augenblick über die vorhandenen
Hindernisse und Gefahren. Fast noch in den Mäi*ztagen selbst,
und noch vor dem Zusammentritt des Frankfurter Parlaments,
Albert Schwegler. -359
sprach er es in den Jahrbüchern der G^enwart wiederholt
aus, dass die Lage Deutschlands eine furchtbar ernste und
gefahrdrohende sei; er trat den Täuschungen der heirschenden
Meinung mit aller Verstandesschärfe entgegen, er bat und be-
schwor, das Nothwendige unverweilt zu thun und mit dem
Möglichen sich zu begnügen, vor allem nach Einheit und Macht
zu streben, und die Sorge für gi'össere Freiheit, wenn nöthig,
der Zukunft zu überlassen. Er selbst verbarg es nicht, so sehr
er damit anstossen musste, dass ihm die einfache monarchische
Einheit, mit Preussen an der Spitze, das liebste wäre; da er
sich aber von der ünausführbarkeit dieses Planes überzeugte,
sprach er sich für den Siebzehnerentwurf aus. Mochte ihn
aber auch die spätere Wendung der deutschen Frage weniger
überraschen, als die meisten, so traf sie ihn dämm doch nicht
weniger schmerzlich. Der Schiffbruch aller der Hofhungen,
deren auch der Nüchternste bei dem stürmischen Aufflammen
des Volksgeistes und dem plötzlichen Umschwung aller Ver-
hältnisse sich nicht erwehren konnte, die steigende Macht der
kirchlich - politischen Reaktion, die sittliche Erschlaffung, welche
der leidenschaftlichen Erhebung so rasch folgte, die Gleich-
gültigkeit der Gegenwaii; gegen die ideellen Interessen lastete
schwer auf ihm; seine Urtheile über die Menschen wurden
immei* herber, seine Ansicht vom menschlichen Leben, seine
Ei-wailungen über die Zukunft unseres Volks immer ti-über.
Dazu kamen manche unangenehme Ei*fahrungen in seinem
Amte: er klagte über den Stand der würtembergischen Philo-
logie, über die laue Aufnahme seiner Vorschläge zur Abhülfe,
über die Vernachlässigung der philosophischen und humanisti-
schen Studien, er hatte auch persönlich manche Verdriesslich-
keiten, die er ohne Zweifel schwerer nahm, als sie es verdienten.
Auch die geselligen Verhältnisse seines Wohnortes befriedigten
ihn immer weniger: von den alten Freunden waren viele im
Laufe der Zeit abgegangen, manches erfreuliche Verhältniss
war durch die politischen Gegensätze oder durch sonstige Um-
stände gestört worden, und neue Verbindungen anzuknüpfen,
welche über das Alltägliche hinausgiengen , fühlte er wenig
360 ^^ deutsche Gelehrte.
Neigung. Was ihm aber, vollends in der kleinen und ziemlich
einförmigen Stadt, allein einen Ei*satz geben konnte, und was
ihn auch mit andern in einem lebhafteren Verkehr erhalten
haben würde, die eigene Häuslichkeit, fehlte ihm. Nicht als
ob er an sich keinen Sinn dafür gehabt hätte; aber früher
stand seine äussere Lage allen Wünschen, die sich etwa nach
dieser Seite hinneigten, im Wege, und später sagte er sich
wohl bisweilen, er sollte eine Frau haben, aber er nahm nie
einen ernstlichen Anlauf, um sich eine zu suchen. So kam es,
dass er sich mehr und mehr auf sich selbst zurückzog, dass
er schweigsam und der Geselligkeit entfremdet selbst die be-
wähi*ten Freunde nur noch selten aufsuchte, dass die düstere
Ahnung eines frühen Todes in ihm aufstieg. Femei-stehende
mochten ihn in dieser Zeit wohl für eine kalte Natur halten;
seine näheren Freunde wussten, dass er seinem eigentlichen
Wesen nach ein weit weicheres Herz hatte, als man bei ihm
gesucht hätte, und dass die Kämpfe und Verstimmungen vieler
Jahre nöthig gewesen waren, um ihm die schroffe und ab-
stossende Haltung aufzuprägen, welche er jetzt zu behaupten
pflegte.
Je weniger ihm aber in dem letzten Abschnitt seines Le-
bens die Aussenwelt bot, um so ausschliesslicher vergi-ub er
sich in die wissenschaftlichen Arbeiten, die sein einziger Genuss
waren, um so vollständiger concentrirte er vor allem seine
ganze Kraft -in seiner römischen Geschichte. Dass er sich
dieses Thema gewählt hatte, musste von allen, die ihn kannten,
als ein sehr glücklicher Griflf, oder richtiger, als ein Beweis
wissenschaftlicher Selbstkenntniss betrachtet werden. Denn
wenn ihn überhaupt seine ungewöhnliche Arbeitskraft, sein
umfassendes, treues Gedächtniss, seine geistvolle Gombinations-
gäbe, sein scharfes und sicheres Urtheil, seine Uebung in bi-
tischen Untersuchungen , die Klarheit seines Denkens und die
Classicität seiner Sprache vor vielen zum Historiker befihig-
ten, so lag gerade im römischen Wesen so manches, was seiner
eigenen Natur wahlverwandt war, dass sich für die Darstellung
des römischen Volkes und seiner Geschichte das bedeutendste
Albert Schwegler. 361
von ihm erwarten liess. Diese Erwartung ist auch durch das
Werk, dessen dritter Band leider bereits von einem andern
herausgegeben werden musste, in vollem Masse erfüllt worden.
Einer von den Vorzügen fehlt dieser römischen Geschichte
allerdings, die eine andere gleichzeitig erschienene auszeichnen ;
er fehlt ihr aber nach dem Plan und der Absicht ihi'es Ver-
fassers, weil er mit andern, welche er anstrebte, unvereinbar
wai*. Sie will kein populäres Werk sein, sie gibt nicht bloß
die Resultate der gelehrten Forschung, sondern diese selbst in
einer Vollständigkeit und quellenmässigen Urkundlichkeit,
welche nichts zu wünschen übrig lässt. Sie gibt dieselbe aber
zugleich in einer so durchsichtigen Gestalt und mit solcher
Beherrschung des massigen Steifes, sie weiss uns mit so sicherer
Hand durch das Sagengewin*e der ältesten Zeit zu geleiten,
mit so sicherem Takt das wahi*scheinliche von dem unglaub-
würdigen zu unterscheiden, in der religiösen und rechtlichen
Entwickelung des römischen Volkes, in den Standes - und Ver-
fassungskämpfen die treibenden Kräfte und Interessen mit so
tiefem Verständniss herauszufinden, von den inneren und
äusseren Verhältnissen eine so klai*e Anschauung zu gewähren,
dass es jedem Freund dieser Studien höchst schmerzlich sein
muss, ein so grossailig angelegtes und so meisterhaft aus-
geführtes Gebäude als Ruine dastehen zu sehen. Und wie sich
Schwegler als Schriftsteller immer vollständiger des Gebietes
bemächtigte, dessen akademische Vertretung ihm anvertraut
war, so war auch der Umfang und der Erfolg seiner Vorlesun-
gen im Wachsen. Neuestens erst war ihm neben der Philo-
logie noch das Fach der alten Geschichte übeiiragen worden,
und von diesem gerade duifte man sich bei ihm besonders
viel versprechen. Noch am Morgen des 5. Januar 1857 von
8 — 9 Uhr hielt er seine Vorlesung in gewohnter Weise, ohne
dass seine Zuhörer die geringste Störung in seinem Befinden
bemerkt hätten. Eine halbe Stunde später fand man ihn in
seinem Arbeitszimmer bewusstlos auf dem Boden liegend ; ein
Kervenschlag hatte ihn getix)ffen, und es gelang den schnell
lierbeigerufenen Aerzten nicht mehr, ihn in's Bewusstsein
362 I^rei deutsche Gelehrte.
zui-ückzurufeD ; bald zeigte sich sein Zustand hofinungslos, und
am Morgen des folgenden Tages erloschen die letzten Zuckun-
gen des entweichenden Lebens. Den 9. Januar wurde die ent-
seelte Hülle zur Erde bestattet. Die allgemeinste Theilnahme
und Trauer folgte dem Fillhgeschiedenen, der so plötzlich und
ei-schütteiTid hinweggeraflft war. Welcher jähe Schlag, dieser
Tod eines Mannes, der geistig so bedeutend, köi*perlich so ge-
sund , kaum erst in die Jahre des kräftigsten Wirkens ein-
getreten war ! Wie vieles hätte er mit seinem seltenen Talent,
seinem reichen Wissen, seinem rastlosen Fleiss, seiner , wie es
schien, fast unverwüstlichen Arbeitskraft noch leisten können!
Wie vieles hat er aber auch geleistet! In einem Lebensalter,
in welchem sich die meisten aufs Leraen und Aufnehmen zu
beschränken allen Grund haben, hatte er sich bereits durch
eigene Forschungen eine bleibende Stelle in der Geschichte
der wissenschaftlichen Theologie eiTungen, und als er sich
einem zweiten Gebiete zuwandte , en-eichte er auch hier in
weniger als einem Jahrzehend Erfolge, wie sie sonst nur der
Preis einer langen wissenschaftlichen Thätigkeit zu sein pflegen.
So erhielt dieses kurze und äusserlich ziemlich einfache Ge-
lehrtenleben eine dauernde Bedeutung, und so lange die deut-
sche Wissenschaft fortlebt, wird unter den Männern, durch
deren hingebende Arbeit sie aufgebaut wui-de, Schwegler's
Name mit Ehren genannt werden.
„Schwegler's äussere Erscheinung — wir lassen hier einen
unserer Freunde reden — brachte dem ersten Blick das Herbe
in seinem Charakter entgegen; ein finsterer Zug über den
Augen, die starken Backenknochen, der streng geschlossene
Mund sprachen Härte, stolzes BehaiTon in sieh aus; dazu
stimmte die gelbliche Farbe des glatt gehaltenen Gesichts, der
gedningene Wuchs von mehr als mittlerer Grösse, die feste
Muskeltextur und eine zur Gewohnheit gewordene steife Hal-
tung des linken Aims im Gehen. Wer den einsamen Spazier-
gänger nicht kannte, mochte ihn wohl für einen strengen und
herrischen Beamten halten ; in Italien wurde er, wie er scher-
zend selbst erzählte . öftei*s für einen böhmischen Offizier an-
Theodor Waitz. 363
gesehen. Sah man aber näher in seine Züge, wurde er ein-
mal in Gesellschaft gesprächig, mittheilsam, so las man auch
alsbald auf der klaren, bedeutenden Stime, die unter den hell-
brannen Haai*en sich wölbte, im feinen ümriss der regel-
mässigen Nase, in der gefälligen und beredten Bildung der
Lippen, der angenehmen, fast klassischen Ausrundung des
Kinns die tiefe Intelligenz, die Idealität bei aller Nüchtern-
heit, den Beruf und die Gewohnheit künstlerischen Bildens in
geistigen Sphären; das lichte blaue Auge blickte, wenn das
Eis der Strenge geschmolzen war, wohlwollend, humoristisch,
und ein eigenthümlich weicher Klang der hellen, etwas hohen
Stimme, den man namentlich dann hörte, wenn er auf Mah-
nungen zu eifrischeüdem Lebensgenuss mit kurzen Worten der
Resignation antwortete, verrieth deutlich genug, dass unter
dem Stolze, der Bitterkeit, doch eine rührende Weichheit des
Herzens, Liebe und Bedüiihiss der Liebe, Sehnsucht nach Auf-
schliessung, offener Weltsinn verborgen war." Nur ein Theil
seines Wesens kam im Verlauf seines Lebens zu freier Ent-
faltung, anderes, was in seiner Natur gleichfalls angelegt war,
ist durch den Gang seiner Entwicklung und die Ungunst der
Verhältnisse theil weise zurückgedrängt worden; aber was er
der Welt von seinem reichen geistigen Leben mittheilen konnte,
das wird für die Zukunft nicht verloren sein, und seine Freunde
werden ihm so, wie er war, mit seinen Vorzügen und seinen
Schwächen, mit den lichten und den trüberen Seiten seiner
Persönlichkeit, ein treues Andenken bewahren.
2* Theodor Waitz.
Es sind jetzt bereits dreizehn Jahre, seit Theodor Waitz
aus der ßeihe der deutschen Philosophen geschieden ist; aber
auch jetzt noch darf es, wie damals, gesagt werden, dass durch
^inen Tod nicht allein die Univei-sität Marburg, der er als
Lehrer angehöi*te, sondern die ganze deutsche Wissenschaft
^inen schweren Verlust erlitten hat. Das früh vollendete
364 ^^^^ deutsche Gelehrte.
Leben dieses Gelehrten war reich an bedeutenden Leistungen;
und es war nicht blos ein ausgezeichneter Forscher, sondern
auch ein vortrefif lieber Mensch, der in ihm zu Grabe getragen
wurde. Den 17. März 1821 zu Gotha geboren, hatte Waitz
schon frühe eine ungewöhnliche wissenschaftliche Begabung an
den Tag gelegt. Sein Vater, Heinrich Waitz, Stifts-
prediger und Director des Schullehrerseminars in Gotha, hatte
sich neben der pädagogischen Thätigkeit, die er als seine
Hauptaufgabe betrachtete, auch mit Philosophie beschäftigt;
als Frucht dieser Beschäftigung hat er ein kurzes Lehrbuch der
Logik (1840) herausgegeben. Nach der gleichen Seite hin
giengen die Neigungen des Sohns. Seinen ersten Unterricht
hatte dieser auf der Seminarschule erhalten, und schon hier
den Grund zu seiner tüchtigen mathematischen Bildung gel^;
dann besuchte er das Gymnasium seiner Vateratadt, auf dem
er ausser andern die ausgezeichneten Philologen Rost und
Wüstemann zu Lehrern hatte. Neben den alten Sprachen,
in denen er rasche Fortschritte machte, trieb er fortwährend
mit Interesse die Mathematik; am meisten aber fand er sich
(wie er in einer uns vorliegenden Aufeeichnung selbst bemerkt)
schon vor dem Beginn seiner Universitätsstudien von abstrakten
philosophischen Fragen angezogen, wie überhaupt in seiner
ganzen Entwicklung als einer der bezeichnendsten Züge eine
ungewöhnlich fi-ühe geistige Reife hei-vortritt. So konnte er
denn auch früher, als diess in der Regel der Fall ist, schon
im siebzehnten Jahre, zur Universität entlassen werden. Ausser
seinem Vater hatten auch seine Vorfahren weiter hinauf
grossentheils dem geistlichen und dem höheren Lehrstand an-
gehört, und er selbst hatte schon fi-ühe eine entschiedene
Neigung für den Lehrerbenif gezeigt ; doch übei-zeugte er sich
bald, dass er diesen in einer für sich befiiedigenden Wdse
nicht im Dienst der Kirche, dem er sich anfangs hatte widmen
wollen, finden werde. Er sollte in Jena Theologie studiren;
aber schon nach dem ersten Halbjahi* gab er diese Absicht
auf, um sich ganz historischen, philologischen, mathematischen
und philosophischen Studien zu widmen. Unter seinen Ubr
Theodor Waitz. 365
rern in Jena war es vor allem der treffliche Göttling, dessen
geistvoller Unten-icbt ihn anzog, während er für sich fast aus-
schliesslich mit dem Studium Plato's, Kant's und Herbart's
beschäftigt war. Weitere Förderung für diese Studien suchte
er nach einem Jahre in Leipzig, wo er besonders mit D ro-
bisch in eine für ihn sehr fruchtbare Verbindung trat, die
auch in der späteren Zeit seines Lebens foitdauerte ; und schon
nach dem ersten Jahre seines dortigen Aufenthalts war er so
weit gefördert, dass er seine Eltern zu ihrer silbernen Hoch-
zeit mit dem philosophischen Doctordiplom überraschen konnte,
das er sich in der ehrenvollsten Weise und aus eigenen Mitteln
erworben hatte. Neben dem herbai-t'schen System studirte er
jetzt auch das aristotelische, und wenn er selbst sich in seiner
philosophischen Ueberzeugung dem ersteren mit Entschieden-
heit anschloss, so war damit jene Vorliebe für den giiechi-
schen Philosophen und für die Richtung seines Denkens wohl
vereinbar, welcher er auch in der Folge treu blieb. Als Waitz
nach vollendetem Triennium Leipzig verlassen hatte, benützte
er einen einjährigen Aufenthalt im elterlichen Hause, um sich
nicht blos auf eine längere Beise nach Italien und Frank-
reich, sondern zugleich auf eine Arbeit über die logischen
Schriften des Aristoteles vorzubereiten, zu der ihm die Biblio-
theken dieser Länder das Material liefern sollten. Nach einem
längeren Aufenthalt in vei*schiedenen italienischen Städten und
in Paris nach Hause zuillckgekehrt , nahm er diese Arbeit
sofort in Angriff, und im Jahr 1844 ei*schien der erste, 1846
der zweite Theil seiner Ausgabe des aristotelischen Organen,
welche ausser einer neuen kritischen Bevision des Textes und
einer Anzahl ungedruckter griechischer Schollen, auch einen
über die sämmtlichen logischen Bücher des Aristoteles sich
erstreckenden ausführlichen Commentar in lateinischer Sprache
darbietet Schon dieses erste Werk des jugendlichen Ver-
fassers zeigt alle die Vorzüge, welche seine Arbeiten überhaupt
auszeichnen: die gewissenhafteste Genauigkeit der Einzel-
forschung, eine erschöpfende Kenntniss und vollkommene Be-
herrschung des gelehi*ten Materials, eine Sicherheit des wissen-
366 I^^ei deutsche Gelehrte.
schaftlichen Verfahrens und eine Reife des Urtheils, wie sie
bei einem dreiundzwanzigjährigen Jüngling sich äussei-st selten
in solcher Vollkommenheit finden werden; und es nimmt da-
durch eine so ehrenvolle Stelle in der aristotelischen Literatur
ein, dass mehrere Jahre später einer von den ersten Kennern
und verdientesten Bearbeitern des Aristoteles in der Gegen-
wart, Hermann Bonitz, in dem Vorwort seines vortreff-
lichen Commentars zur Metaphysik Waitz' Erklärung des
Organen und Trendelenburg's Ausgabe der Bücher von der
Seele als die Vorbilder bezeichnen konnte, denen er selbst
nachgestrebt habe. Neben seinen aristotelischen Studien
machte sich aber Waitz in dieser Zeit auch mit den Quellen
der Geschichte der neueren Philosophie genauer bekannt, und
so vorbemtet liess er sich 1844 in Marburg als Docent der
Philosophie nieder. Die zwanzig Jahre von da an bis zu seinem
Tode, fast die Hälfte seines Lebens und die ganze Periode
seines selbständigen Wirkens, hat Waitz dieser Universität
als Lehrer gewidmet; und seine anregenden, dui'chdachten
Vorträge, die Ordnung und Schärfe seines Denkens, die Klar-
heit seiner freifliessenden, alle rhetorischen Mittel verschmä-
henden, aber in ruhiger Sicherheit sich entwickelnden Dar-
stellung fanden schon in den ei'Sten Jahren solchen Beiffül,
auch durch wissenschaftliche Besprechungen und im persön-
lichen Verkehr übte er auf den strebsamei-en Theil der aka-
demischen Jugend eine solche Anziehungskraft aus, dass es nur
eine wohlverdiente Anerkennung des bewährten Verdienstes
war, als er im Jahre 1848 zum ausserordentlichen Professor
befördert wurde. Auch als Schiiftsteller sehen wir ihn in
Marburg rüstig foi-tarbeiten. Im Jahi- 1846, fast gleichzeitig
mit dem zweiten Theil seines aristotelischen Organen, erschien
seine „Grundlegung der Psychologie", 1849 sein „Lehrbuch
der Psychologie", zwei von den werthvoUsten neueren Werken
aus dem Gebiete dieser Wissenschaft; 1852 die „Allgemeine
Pädagogik", eine duich scharfe Beobachtung wie durch klare
und dabei streng wissenschaftliche Behandlung ausgezeichnete
Dai-stellung des Faches, für welches Waitz immer eine be-
Theodor Waitz. 367
sondere Vorliebe gehabt, hat, und von dem er schmei-zlich be-
lauerte, dass ihm die Verhältnisse seiner Adoptivheimath für
leine Vorlesungen dai'über nur eine beschränkte Wirksamkeit,
Ür eine praktische Thätigkeit in demselben keine Aussicht
iröfiheten. *) Der philosophische Standpunkt, von dem diese
Nevke ausgehen, ist im allgemeinen der der Herbart'schen
Ichule. Indessen zeigt sich Waitz als den selbständigsten unter
len Männern dieser Schule schon dadurch, dass er Herbait's
ttathematische Methode für die Psychologie ausdiücklich auf-
gab, die Lehre vdn den Selbsterhaltungen und dem statisch-
aechanischen Verhältniss der Voi-stellungen stillschweigend bei
Seite legte, und die Vorgänge in der Seele als wirkliche Ver-
üderungen, nicht wie Herbart als Sache einer „zufälligen
üisicht'' behandelte; so dass es schliesslich, neben den streng
estgehaltenen Herbart'schen Voraussetzungen über die Ein-
achheit der Seele, und neben der hieraus folgenden Zurück-
ühmng aller psychischen Erscheinungen auf die Voi-stellungs-
hätigkeit, hauptsächlich das anerkennenswerthe Streben nach
sakter Untersuchung war, in dem sich der Einfluss dieses
Systems bei Waitz an den Tag legte^ Diese freiere Stellung
5U Herbai-t wurde bei Waitz namentlich auch durch die Be-
schäftigung mit den Naturwissenschaften unterstützt, zu der
ihm sein Freund Ludwig, der beillhmte Physiologe, welcher
bis zum Jahr 1849 neben ihm in Marburg lehrte, die be-
deutendste Anregung gegeben hatte. Indem er sich bemühte,
die Psychologie in eine möglichst enge Verbindung mit der
Physiologie zu setzen, und ihr überhaupt eine streng empirische
Gnmdlage zu geben, mussten sich ihm von selbst, je weiter
er in dieser Richtung foi-tschritt , um so mehr die Bande des
Systems lockern, und er musste sich schliesslich auch mit
solchen, deren philosophischer Ausgangspunkt ursprünglich von
dem seinigen weit ablag, in der gemeinsamen Richtung auf
*) Eine neue Ausgabe dieser Schrift, die mit einigen kleinen päda-
Sogischen Aufsätzen ihres Verfassers und einem ausfuhrlichen Bericht des
BerauBgebers über die praktische Philosophie desselben bereichert worden
®^ wurde 1875 von Professor Dr. 0. Will mann in Prag besorgt
368 ^^ei deutsche Gelehrte.
ein wissenschaftliches Verständniss des Thatsächlichen in Natur
und Geschichte begegnen.
Anderswo würde man es nun als selbstverständlich be-
trachtet haben, dass einem Manne, der sich als Lehrer und
als wissenschaftlicher Foi-scher so unanfechtbar bewährt hatte,
bei ei*ster Gelegenheit die Stellung geboten werde, die einem
akademischen Lehrer nicht auf die Dauer vei*weigert werden
darf, wenn ihm ein freudiges und erfolgreiches Wirken mög-
lich sein soll. In Kurhessen verhielt es sich damit natürlich
ganz anders. Für Hassenpflug und seine Helfershelfer war die
erste Frage bei einer akademischen Befördeining nicht die
nach der wissenschaftlichen, sondern die nach der Gesinnungs-
tüchtigkeit. Nun hatte Waitz zwar niemals eine politische
Rolle gespielt oder zu spielen versucht; er hatte selbst die
gewaltige Bewegung des Jahres 1848 nur als theilnehmender
Zuschauer, nicht als handelnde Person mitgemacht : theils weil
überhaupt seine ganze Natur mehr für die Stille des Gelehrten-
lebens, als für das Gedränge und Getöse des öffentlichen
Lebens gemacht war, theils weil ihm auch seine Grundsätze
nicht erlaubt hätten, eine Thätigkeit zu suchen, für die er
sich nicht in jeder Beziehung geeignet und gerüstet wusste.
Ebensowenig hatte er sich jemals an theologischen Verhand-
lungen betheiligt, so entschieden er selbst auch, in seinen
religiösen wie in seinen politischen Ueberzeugungen, auf der
Seite des Fortschritts stand. Aber einer Politik, die von
Hassenpflug geleitet und von Vilmar inspiriii; war, konnte diess
nicht genügen: sie verlangte nicht blos, dass man sich ihr
gegenüber nicht compromittirt habe, sondern sie verlangte,
dass man sich im Dienst ihrer Pai'tei politisch oder warn-
schaftlich compromittirt habe. Mochten auch die akademisches
Behörden Waitz noch so dringend für die ordentliche Pro-
fessur der Philosophie empfehlen, welche im Jahr 1852 e^
ledigt worden war : die Regieioing liess sich dadurch nicht ab-
halten, einen auswärtigen Docenten zu berufen, gegen welches
von der Facultät zwar die entschiedensten Einwendungen e^
hoben wurden, von dem aber ein auswärtiger Theolog ve^
Theodor Waitz. 369
;hei*t hatte, dass er der eifrigste Verfechter einer christlichen
lilosophie sein werde. Und um das Mass des Uni'echts voll-
machen, beeilte sich der Neubeioifene , in Kassel zu ver-
lassen, dass Waitz aus der Prüfungscommission für Gym-
siallehrer, in der er sfeit Jahren den hochbetagten ordent-
hen Professor der Pädagogik zu vertreten gehabt hatte,
tfenit, und er selbst an seine Stelle gesetzt wurde. Ei-st
ide 1862 gelang es, als gleichzeitig zwei ordentliche Lehr-
3llen der Philosophie in Marburg erledigt wurden, für die-
lige von ihnen, deren Wiederbesetzung unumgänglich nöthig
dien, Waitz durchzusetzen; wobei es aber wieder für die
irhessischen Zustände höchst bezeichnend war, dass die
)minalprofessur der Pädagogik von den zwei Professoren der
lilosophie, die man jetzt hatte, nicht demjenigen übertragen
irde, der dieses Fach seit 18 Jahren in Marburg allein ge-
irt und allein daiüber geschrieben hatte, sondern dem,
sicher bis dahin weder durch eine akademische noch durch
ae schriftstellerische Leistung zu der Vermuthung Anlass
igeben hatte, dass er sich überhaupt jemals damit beschäf-
^ habe.
Eine so lange andauernde Zurücksetzung musste einen
ann von empfindlichem sittlichem Gefühl, der sich seines
erthes bewusst war, nothwendig aufs tiefste kränken. Auch
Ksh andere Umstände trugen dazu bei, unserem Freunde den
ufenthalt in Marburg zu verbitten! : in ei-ster Linie der, dass
e bleierne Atmosphäre, welche seit 1850 auf Kurhessen
stete, ihren Druck auch der Univei-sität mehr und mehr
hlbar machte, und die tüchtigen Lehrkräfte, die ihr trotz
ancher schweren Verluste immer noch geblieben oder auch
3u gewonnen waren, in ihrer Wirksamkeit lähmte. Unter
iesem Zustand hatten besondei*s die philosophischen Studien
1 leiden, da die Theologie- Studirenden , welchen die Philo-
)phie nicht selten noch viel zu ausschliesslich als ihre Privatsache
berlassen zu werden pflegt, sich gi'össtentheils, moralisch und
lateriell unfi-ei, in eine glaubensstarke und geistesträge Or-
bodoxie hineinziehen liessen, welche theils überhaupt von
Zell er, Vorträge und Abhandl. 24
370 I^rei deutsche Gelehrte.
keiner Philosophie , theils jedenfalls von keiner freien und
reinen Philosophie etwas hören wollte. So geschätzt Waitz
auch als Lehrer fortwährend blieb, so fand er doch vielfach
Ursache, sich zu beklagen, dass seine Fächer nicht mehr mit
demselben Interesse und Erfolge gehört werden, wie früher.
In der Aufzeichnung vom Jahr 1862, die wir benutzen, und
die er selbst fiir eine beabsichtigte Fortsetzung des „Hessischen
Gelehitenlexikons" bestimmt hatte, sagt er, wie diückend ihm
mit der Zeit „der längere Aufenthalt in einer kleinen Uni-
versitätsstadt geworden sei, die an Kunstgenüssen fast nichts,
interessanten geselligen Verkehr nur in sehr beschränktem
Masse, und dem akademischen Lehrer nur eine geringe Wirk-
samkeit bot, ja in der die Wissenschaften selbst mehr nur
noch geduldet, als gepflegt zu werden schienen." „Er suchte
und fand für diese Entbehrungen eine Entschädigung in einem
glücklichen Familienleben und in Ferienreisen, vor allem aber
in weiteren Studien." Diese wandten sich von nun an vor-
zugsweise einem in Deutschland damals noch wenig angebauten
Fache, der Anthropologie und Ethnographie, zu, und nach
sechsjähriger angestrengter Vorarbeit erschien 1859 der erste
Theil des Werkes, welches am meisten dazu beigetragen hat,
Waitz' Namen auch über den engeren Kreis der Fachgenossen
hinaus in der rühmlichsten Weise bekannt zu machen, seiner
„Anthi'opologie der Natui'völker". Nachher folgten noch drei
weitere Bände; von dem fünften war bei Waitz' Tod nur ein
Theil der Hauptsache nach fertig und wurde von Georg
Gerland 1865 herausgegeben; Dei-selbe hat unter Benützung
des von Waitz hinterlassenen Materials die zweite Hälfte des
fünften und den umfangi*eichen sechsten Band ausgearbdtet,
und 1876 den ei-sten in einer zweiten, mit späteren Zusätzen
des Verfassei'S vermehrten Auflage herausgegeben. Dieses um-
fassende Werk erregt nun zunächst schon als ein Denksud
des unennüdlichsten Fleisses und des vielseitigsten Wissens
unsere höchste Bewunderung. Aus Hunderten, ja Tausenden
von Bänden in fast allen europäischen Sprachen, welche sich
Waitz mit grosser Mühe verschafft hatte (für den 8. und
Theodor Waitz. 371
4. Band allein nennt er über f ilnfthalbhundert , gi*ossentheils
mehrbändige Werke, die er benützt hat), sind mit der ge-
wissenhaftesten Sorgfalt die Nachrichten gesammelt, aus denen
die Darstellung des Verfassers, die Schild^mng der zahllosen
wilden und halbwilden Stämme vom Nil bis an's Gap der guten
Hoffiiung, vom Nordpol bis an die Südspitze Amerikas, die
Untersuchung über die Ai-teinheit und die Racenverschieden-
heit der Menschen, über den Natuizustand unseres Geschlechts
und die Bedingungen der Kulturentwicklung, sich aufbaut ; mit
der eingehendsten Genauigkeit, der vollendetsten Heii'schaft
über den unermesslichen Stoff, werden die physischen Charak-
tere, die sittlichen, religiösen, politischen und intellectuellen
Zustände der verschiedenen Völker beschrieben: eine scharfe
und gesunde Kritik sichtet die Ueberlieferungen , ein über-
schauendes Denken verknüpft die Masse vereinzelter That-
sachen zu klaren Gesammtbildern und untersucht ihre Ur-
sachen ; mit dem wissenschaftlichen verbindet sich das Humani-
tätsinteresse, dem selbstsüchtigen Wahn entgegenzutreten, als
ob ein Theil unseres Geschlechts von der Natur zu ewiger
Unmündigkeit und Knechtschaft verdammt sei. Schon der
erste Theil dieses bedeutenden Werks fand bei allen Sach-
verständigen die verdiente Anerkennung, welche durch die
folgenden nur befestigt und gesteigert werden konnte. Noch
allgemeiner aber war die Beachtung, und noch lebhafter, als
iu Deutschland, war die Bewunderung, die ihm in England
gezollt wurde; wie ja auch die Untersuchungen, mit denen es
sich beschäftigt, in England zui* Zeit noch ungleich populärer
sind, als bei uns. Zum Zweck einiger weiteren nachträglichen
Stadien für diese Arbeit, und zugleich zu seiner Erholung
hatte Waitz die letzten Osteiferien in München zugebracht.
Halbkrank kam er nach Hause zui*ück ; und schnell entwickelte
sich hier ein Typhus, der nach längerem anscheinend günstigen
Verlauf sich plötzlich verschlimmeile und am Morgen des
2l. Mai seinem Leben ein Ende machte. Es war ein Leben,
<ias der Wissenschaft mit seiteuer Hingebung und grossem Er-
folge gewidmet war, das ihr bei längerer Dauer noch weitere
24*
372 I^rei deutsche Gelehrte.
reiche Früchte versprach; dass es so plötzlich abgeschnitten
wurde, müssen alle die doppelt beklagen, welche dem Früh-
geschiedenen pei-sönlich näher gekommen sind, welche seinen
edehi und ehrenhaften Charakter, seine fein organisirte, ideell
angelegte, nach den vei-schiedensten Seiten hin geistig durch-
gebildete Persönlichkeit, seine Liebenswürdigkeit im geselligen
Verkehr, sein eingehendes Verständniss und seine acht mensch-
liche Theilnahme für alles, dem er ein tieferes Interesse ab-
gewinnen konnte, gekannt und geschätzt haben.
3. Georg Crottfried Grerylnus.
(Worte an seinem Grabe in Heidelberg den 20. März 1871 gesprochen.)
Geehrte Trauerversammlung!
Es ist ein schwerer und schmei*zlicher Verlust für uns
alle, der uns hieher geführt hat. Der Mann, dessen Hülle
dieser Sarg umschliesst, war einer von den besten und geistig
hervorragendsten in unserem Volke; und dieser Mann ist aus
unserer Mitte so plötzlich abgemfen worden, dass sein Scheiden,
unvorbereitet, wie es uns traf, uns nur um so tiefer ei^schüt-
tem musste. Kaum können wir es fassen, dass er nicht mehr
unter uns sein soll; dass wir der stattlichen Gestalt nicht
mehr begegnen sollen, die wir so oft, von der wachsenden Zahl
der Jahre nicht gebeugt, leicht und lilstig einhei-schreiten
sahen; dass das Auge sich für immer geschlossen haben soll,
an dessen mildem, geistigem Ausdruck wir uns stets aufs neue
erfreuten; dass der Mund jetzt verstummt sein soU, aus dem
so manche gewichtige und belehrende Kede hervorgieng, der
aber auch für jeden, selbst den geringsten, ein wohlwollendeß,
freundliches, zum Herzen gehendes Wort hatte. Je schmen-
licher aber dieses Vennissen für uns ist, um so lebhafter
drängt es uns auch, den inneren Gehalt und die bleibende
Bedeutung des Lebens, das nun abgeschlossen vor uns liegt»
uns noch einmal zu vergegenwärtigen , so unvollständig auch
Georg Gottfried Gervinus. 373
immer das Bild sein wird, das sich in wenigen Worten von
einer so reichen und bedeutenden Pei*sönlichkeit entwerfen
lässt.
Denn reich und bedeutend war die Persönlichkeit unseres
geschiedenen Freundes, reich und bedeutend auch die Früchte
seiner vielseitigen Thätigkeit. Es mussten sich mancherlei
Gaben und Eigenschaften in eigenthümhcher Verknüpfung zu-
sammenfinden, wenn er der sein sollte, als den wir ihn ge-
kannt und verehrt haben. Ein männlicher Einst, eine charak-
tei-voUe Selbständigkeit und Bestimmtheit, eine unbestechliche
Wahrheitsliebe, ein strenges Rechts- und Pflichtgefühl, ein
Adel der Gesinnung, dem alles Niedrige und Gemeine im
Innersten widerstrebte ; und dabei ein weiches menschenfreund-
liches Gemüth, eine seltene Feinheit und Tiefe der Empfindung,
und bei allem Gefühl seines Werthes, bei aller Würde des
Benehmens, eine persönliche Anspiiichslosigkeit, die bei einem
so bedeutenden Manne in Erstaunen setzen könnte, wenn nicht
die gediegensten Charaktere immer auch die bescheidensten
zu sein pflegten. Eine ausgebreitete, weite Gebiete mit gründ-
lichem Wissen umfassende Gelehrsamkeit, ein Verstand, der
den Dingen auf den Grund gieng und die bunte Mannigfaltig-
keit der Ei*scheinungen durch die Erkenntniss ihres Zusammen-
hangs beheiTSchte; und daneben eine lebendig gestaltende
Phantasie, eine rege Empfänglichkeit für alles Schöne, ein
oflfener Sinn und ein tiefdringendes Verständniss für die Kunst.
Ein angestrengtes wissenschaftliches Arbeiten, und gleichzeitig
ein scharfes Auge für die realen Verhältnisse, eine feine
Menschenbeobachtung, eine reiche Keüntniss von Ländern und
VölkeiTi, eine lebendige und hingebende Theilnahme an der
Bewegung des öffentlichen Lebens. In Gervinus lagen diese
verschiedenartigen Eigenschaften und Interessen nicht im Streite,
sondern sie unterstützten und förderten sich gegenseitig; und
desshalb war es ihm auch möglich, nach den verschiedensten
Hichtungen zu wirken und doch immer er selbst zu bleiben,
seine vielseitige Thätigkeit auf Ein letztes Ziel zu richten, und
sein Leben, wenn auch manche unberechenbare Zwischenfälle
374 r^rei deutsche Gelehrte.
den Gang desselben durchkreuzten, doch in seinem Kern und
Wesen harmonisch zu gestalten.
Seine Hauptaufgabe fand er in der Wissenschaft, zu der
schon den Jüngling ein unwiderstehlicher innerer Drang aus
dem praktischen Bei-ufe, für den er anfangs bestimmt war, hin-
gefühi-t hatte ; und aus dem vielverzweigten Gebiete der wissen-
schaftlichen Thätigkeit hatte er sich mit glücklicher Hand das
Fach ausgewählt, welches seiner eigenthümlichen Begabung
unstreitig am besten entsprach, die Geschichte. Aber wie sich
in allem, was er trieb, seine ganze Persönlichkeit ausprägte,
so gibt sie sich auch in dem Geist und der Kichtung seiner
wissenschaftlichen Arbeiten deutlich zu erkennen. Es ist nicht
blos der Umfang des Wissens, die Gründlichkeit der Forschung,
die Kunst der Darstellung, was seinen Geschichtswerken ihren
eigenthümlichen Werth und Charakter gibt; sondern neben
dem, dass sich auch hierin die wenigsten mit ihm vergleichen
konnten, tritt uns in denselben ein weitei^er bezeichnender
Zug entgegen, in dem er sich seinem Lehrer, dem von ihm
so hochverehrten Schlosser, am nächsten verwandt zeigt: der
lebendige Antheil seiner sittlichen Natur an den Gegenständen,
die er behandelt. Die Unpai-teilichkeit des Geschichtschreibers
will er nicht verletzen , und er hat sie mit Wissen auch da
nie verletzt, wo der nahe Zusammenhang des Erzählten mit
den Interessen der Gegen wai-t die Versuchung dazu noch so
nahe legte. „Nach bestem Wissen und Gewissen die OTe.
die strenge und volle Wahrheit zu sagen," diess ist der Grund-
satz, den er selbst an die Spitze seiner Geschichte des 19. Jahr-
hunderts gestellt hat. Aber zur vollen Wahrheit rechnet er
eben vor allem auch dieses, dass der Geschichtschmber mit
seinem ürtheil über den moralischen Werth der Menschen und
ihrer Thaten nicht zurückhalte; und wenn er in acht histori-
schem Geiste darauf ausgeht, den Zusammenhang der B^ebea-
heiten an's Licht zu stellen, so vergisst er doch nie, dass diese
Begebenheiten das Werk fi-eiwollender, einer sittlichen Zurech-
nung unterliegender Wesen sind, dass, wie er selbst sich aus-
diückt, „des Menschen Natur und Wandel die eigenste Werk-
Georg Gottfiried Gervinus. 375
Stätte seiner Geschicke ist". Es ist ein hoher sittlicher Ernst,
von dem seine Geschichtsdarstellung getragen wird; und der-
selbe Eindruck war es auch, den seine Schüler von seinen viel-
besuchten Vorträgen erhielten. Er war nicht blos ein Lehrer
der akademischen Jugend, er war ihr ein hohes Vorbild,
wie für ihr wissenschaftliches Sti-eben, so audi für ihren
Charakter; er war ein Mann, in dem ihnen zur Anschauung
kam, was sie werden sollen. Unsere Hochschule darf stolz
darauf sein, dass er wähi-end der vollen Hälfte seines Lebens
ihr angehört hat, dass er ihr zumeist seine akademische Bil-
dung verdankte, dass er die erste und die letzte Zeit seiner
Lehi-thätigkeit ihr gewidmet hat ; und es ist für sie Pflicht, wie
Bedürfhiss, diess auszusprechen und den Verdiensten, welche
der Verewigte sich auch um sie und um \ien ihr anvertrauten
Theil der deutschen Jugend ei-worben hat, hier an seinem
Sarge den Zoll der Anerkennung und des Dankes darzu-
bringen.
Den Ausdruck seiner Pei-sönlichkeit werden wir auch in
den Gegenständen erkennen, denen unser Freund seine schrift-
stellerische Thätigkeit vorzugsweise zuwandte. So vielseitig
sein Wissen auch war, so sind es doch hauptsächlich di-ei
Stoffe, denen er einen bedeutenden Theil seines Lebens ge-
widmet und die er in umfassenden Werken von unvergäng-
lichem Werthe behandelt hat; und zu jedem dieser Stoffe ist
er nicht blos durch das Intei-esse der wissenschaftlichen Foi-schung
geftthi-t worden, sondera sie standen mit dem, was sein eigenes
Leben bewegte, in nahem Zusammenhang. Seine erste gi-osse
Arbeit war die Geschichte der deutschen Nationalliteratur, das
epochemachende Werk, durch das er der Begründer der wissen-
schaftlich behandelten deutschen Literaturgeschichte geworden
ist, dasselbe Werk, dem auch die angestrengte Thätigkeit seiner
letzten Jahre gehörte, das er aber in seiner neuen Gestalt
nicht mehr zu Ende führen sollte. Sein deutsch- nationales
Interesse und sein Sinn für die Dichtkunst vereinigten sich,
ihm dieses Thema zu empfehlen. Seinem poetischen Ver-
ständniss setzte er ein Denkmal in jener Schrift über den
376 I^ei deatsche Gelehrte.
grossen britischen Dichter, in deren Anerkennung England mit
Deutschland wetteifeite ; und an sie schloss sich in der Folge
die tiefdringende Studie über den deutschen Tondichter an,
in dem er den Geistesverwandten Shakespeare's erkannte,
welcher ebenso in der Tonkunst ein Höchstes geleistet habe,
wie dieser in der Dichtkunst. Mit dem Interesse des Ge-
schichtschreibers verbündete sich endlich das des Politikers,
um zur Geschichte des 19. Jahrhunderts den Anstoss zu geben,
diesem Werk eines riesigen Fleisses, einer staunensweiüien
Arbeitskraft, eines weitschauenden, tiefdringenden, überall auf
die durchgieifenden Grundzüge und den gi*ossen Zusammen-
hang der Dinge gerichteten historisch-politischen Blickes. Und
so weit auch diese Gegenstände seiner Forschung auseinander-
liegen: in ihrer Behandlung spricht sich doch immer derselbe
Geist aus; und wie die Werke der Kunst von ihm mit einer
Vorliebe, die selbst dem Vorwurf der Einseitigkeit nicht ganz
entgehen konnte, auf ihren sittlichen Gehalt angesehen werden,
so hat andererseits auch der Geschichtschreiber des 19. Jahr-
hunderts den Zusammenhang der politischen Ereignisse mit
dem geistigen und sittlichen Leben unserer Zeit nie übersehen.
Die feste Geschlossenheit seines eigenen Wesens setzte ihn
in den Stand, auch in der Geschichte die Zusammengehörig-
keit und Wechselwirkung der vei-schiedenen Lebensgebiete zu
erkennen und den Gang derselben, ohne dass ihm der leitende
Faden aus der Hand glitt, auf ihrem so vielfach verschlungenen
Wege zu begleiten.
Aber Gervinus war nicht blos ein Beobachter und Ge-
schichtschreiber der Ereignisse: es lebte in ihm auch der
Drang, sich thätig an ihnen zu betheiligen, und zur En-eichung
der Ziele, in denen er die Aufgabe unseres Volkes und unseres
Geschlechtes erkannte, in seinem Theile mitzuhelfen. Wie er
die Kunst nicht blos geschätzt und besprochen, sondern auch
gepflegt und geübt, wie er ihr in seinem Hause, von seiner
kunstsinnigen Gattin unterstützt , eine freundliche Stätte be-
reitet, wie er viele Jahre mit aufopfernder Hingebung daran
gearbeitet hat, die Werke des Tonkünstlers, den er vor allen
Georg GottMed Gervinus. 377
andern hodihielt, in unserem Volke einheimisch zu machen:
so begnügte er sich auch nicht damit, die Geschichte unserer
Zeit zu erzählen, sondern erfühlte sich vei-pflichtet, so weit
er es vermochte, an dieser Geschichte mitzuarbeiten. Das
deutsche Volk wird es ihm nicht vergessen, wie unerschi*ocken
er als junger Mann in Göttingen für den verfassungsmässigen
Rechtszustand eintrat,, wie er ohne Bedenken sein Amt und
seinen ihm lieb gewordenen Wirkungskreis seinem Pflichtgefühl
opferte; wie er ebenso in der Folge das Recht der deutschen
Stämme an der Nordsee als einer der einigsten, thätigsten
und opferwilligsten verfocht; wie er unennüdlich mahnte und
lieth, um Deutschlands politische Entwicklung auf heilsame
Ziele zu lenken; wie er bei der gewaltigen und anfangs so
vielversprechenden Bewegung des Jahres 1848 im Dienst des
Vaterlandes arbeitete ; wie man immer auf ihn rechnen konnte,
wo es galt, die Sache der Nationalität und der Freiheit zu
fördern, und wie er sich auch durch wiederholte schmerzliche
Erfahrungen von seiner wohlerwogenen Ueberzeugung nicht
abdrängen, ebenso wenig aber auch zu übei-stürzenden Be-
strebungen verlocken liess. Er war allerdings kein Parfei-
mann. Er kannte die Nothwendigkeit der gemeinsamen poli-
tischen Arbeit; aber er gab sein Ui*theil fremder Meinung nie
gefangen, er vfar der Mann, der selbst einer lauten und auf
ihre Unfehlbarkeit vertrauenden öffentlichen Stimmung, wenn
es sein musste, in einsamer Selbständigkeit gegenübertrat.
Auch den grossen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit
gegenüber behauptete er diese Unabhängigkeit und Eigen-
artigkeit seines Urfheils. Er wusste manches, was geschehen
^ar, mit seinem Rechtsgefühl nicht zu vereinigen, er sah
Weniger vertrauensvoll als die meisten in die Zukunft. Ob er
sich darin geiiTt hat, oder nicht, das haben wir an diesem
Orte nicht zu fragen; aber die Anerkennung wird dem Manne,
Gössen ganzes Leben seinem Volke in treuer, hingebender
'^rt)eit geweiht war, nicht versagt werden, dass auch seine
Tarnungen und Befürchtungen aus der lautersten Liebe zu
diesem seinem Volke hervorgiengen ; und wie ihm das Herz
378 Drei deutsche Gelehrte.
„in Freude zitterte bei der Aussicht auf die Wiederversamm-
lung verlorener Stämme zu der deutschen Familie", so hat er
selbst es noch in der letzten Zeit ausgesprochen, dass niemand
glücklicher sein werde, als er, wenn seine Besoi-gnisse durch
den Erfolg widerlegt werden.
Soll ich unseren Freund von dem Schauplatz seines öffent-
lichen Wirkens noch in die engere Sphäre seines häuslichen
und Privatlebens begleiten? Soll ich schildern, was er der
Gattin gewesen ist, die noch in der ersten Jugendblüthe sich
an dem starken, hohen Manne emporrankte, und die in funf-
unddreissigjähriger Ehe alles, was er war und was er hatte,
treu und verständnissvoll mit ihm getheilt, jede Wendung
seines inneren und äusseren Lebens in inniger Gemeinschaft
mit durchlebt hat ? Was er den Freunden war, deren ihm die
seltenen Eigenschaften seines Geistes und seines Charakters
in früheren und in späteren Jahren so viele ei-worben und
filr's Leben festgehalten haben ? was den Jüngei*en, denen sein
Haus und sein Hera jederzeit mit dem reinsten Wohlwollen
geöffnet war? was allen jenen, die er in der anspruchslosesten
Weise, uneigennützig und hülfsbereit, mit Rath und That unter-
stützt und gefördert hat? Ich fürchte, es möchte nicht in
seinem Sinn sein, wenn ich diese Beziehungen seines persön-
lichsten Lebens hier öffentlich näher besprechen wollte. Wir
alle fühlen es ja, was wir an ihm gehabt haben, wir fühlen
es doppelt, seit wir ihn verloren haben. Auch das aber ffthlen
wir, was jedes Hinscheiden eines bedeutenden Menschen uns
immer aufs neue einprägt: dass das Beste, was er uns g^
währt hat, ein unvergängliches ist, das in uns fortlebt, so lange
nur wir es treu pflegen und bewahren. Und so wird auch der
Geist dieses unseres geschiedenen Freundes unter uns fort-
leben. Höher können wir ja unsere Todten nicht ehren, als
durch liebende Erinnerung und durch treue Arbeit fOr das,
was auch ihnen das höchste Ziel ihres Strebens gewesen ist
Je höher der Werth eines Menschenlebens war, um so schmeß-
licher ist die Lücke, die es zui-ücklässt , wenn seine Zeit um
Georg Gottfiried Gervinus. 379
ist. Dieser Schmerz um die Hingegangenen ist naturgemäss
und gerecht. Aber vergessen wir über der Klage auch des
Dankes für das nicht, was uns in ihnen geschenkt war; und
vergessen wir nicht, uns von ihnen das zu erhalten, was als
ein Inneres ihre sichtbare Erscheinung, als ein Ewiges ihr
zeitliches Dasein überdauert.
X. .
Die Politik in ihrem Verhältniss zum Recht
(1868.)*)
Der Gegenstand, welchem dieser Vortrag gewidmet ist,
hat das Nachdenken der Menschen nicht ei-st in der neueren
Zeit beschäftigt. Es sind mehr als zweitausend Jahre, seit der
griechische Philosoph Kanieades seine römischen Zuhörer mit
der Frage in Verlegenheit brachte, ob denn jene Staatskunst,
die Kom gross gemacht hatte, jederzeit nur den Weg des
Bechts verfolgt habe; es sind fast dritthalb tausend, seit So-
krates und Plato den Sophisten gegenüber zu beweisen hatten,
dass das Recht etwas anderes sei, als eine willkürliche Satzung,
durch welche die Schwachen sich gegen die Stärkeren und
Klügeren zu schützen versuchen. Aber auch heute noch ist
dieser alte Streit nicht ausgetragen. Die Geltung des Rechts-
gesetzes wird wohl im allgemeinen nicht leicht bestritten ; aber
bei jeder gi*össeren Verwicklung, jeder eingreifenderen Er-
schütterung im Leben der Völker sehen wir die Meinungen
weit auseinander gehen; und es ist nicht blos die Beurthei-
lung des einzelnen Falles, über der sie sich zu trennen pflegen,
sondern damit verbindet sich gerade bei solchen, denen es um
Uebereinstimmung aller ihi'er Ueberzeugungen zu thun ist,
sofort auch die allgemeinere Frage, wie sich überhaupt die
*) Vorgetragen in Heidelberg, erschienen in den Preussischen Jah^
büchem 1868, Juniheit.
Bie Politik in ihrem Verhältniss zum Recht. 381
Politik zum Eechte verhalte, ob die Grundsätze, welche wir
in den Verhältnissen des Privatlebens als massgebend an-
erkennen, auch auf die der, Staaten und Völker, ob das, was
im gewöhnlichen Gang der Dinge in unbestrittener Geltung ist,
auch auf ausserordentliche Zeiten, die ungewöhnlicher Mittel
bedürfen, Anwendung finde. Wenn eine solche Frage bei
jeder Gelegenheit sich aufs neue hervordrängt, und wenn
auch die Redlichsten und Einsichtigsten über sie getheilter
Meinung sind, so ist diess ein sicheres Anzeichen dafür, dass
in der Sache selbst Schwierigkeiten liegen, welche sich nur
durch eine tiefergehende Untersuchung heben lassen ; hiezu ist
aber das ei-ste Erfordeniiss, dass man dieser Schwierigkeiten
selbst sich bewusst werde, und mit den Ursachen des Streites
zugleich auch die Punkte sich klar mache, welche jeder Ver-
such seiner Entscheidung voraugsweise in's Auge zu fassen hat.
Vergegenwärtigen wir uns zu diesem Behuf in der Kürze,
was jeder der streitenden Theile für sich vorbringt. Das
Rechtsgesetz, erklären die einen, ist ein unbedingtes Gesetz
des menschlichen Handelns; seine Heiligkeit ist unverbrüch-
lich, und duldet keine Ausnahme; es gilt für die Völker so
gut, wie für die Einzelnen, für die Regierungen so gut, wie
für die Regierten; und der verderblichste Irrthum wäre es,
wenn man meinte, ungewöhnliche Ereignisse und ausserordent-
liche Umstände können von seiner Befolgung entbinden, wenn
grosse Interessen in's Spiel kommen, dürfe man sich um des
öjffentlichen Wohles willen darüber hinwegsetzen. Gerade die
wichtigen und schwierigen Fälle sind es ja, für die wir der
sittlichen Normen am meisten bedürfen; gerade dann, wenn
ihre Verletzung einen bedeutenden Vortheil verspricht, ist es
am nöthigsten, dass wir uns an die Strenge des Pflichtgebotes
erinnern. Entschuldigt man doch das Unrecht des Einzelnen
auch nicht mit der Grösse der Vortheile, die es ihm gebracht
hat; verlangt man doch von ihm, dass er unter allen Um-
ständen und auf jede Gefahr hin am Recht festhalte. Es lässt
sich nicht absehen, warum für die Staaten und für ihre Lenker
andere Grundsätze gelten sollten ; warum man ihnen gestatten.
382 ^c Politik in ihrem Verhältniss zum Recht.
oder wohl gar an ihnen bewundern sollte, was man im Privat-
leben bestraft und verurtheilt; wainim der Erfolg rechtfertigen
sollte, was an sich selbst, seiner sittlichen Beschaffenheit nach,
keine Bechtfei'tigung zulässt. Es gibt nun einmal nur einerlei
Gesetz für das menschliche Handeln: das Sitten- und Bechts-
gesetz ; diesem Gesetz haben wir zu folgen, was auch für uns
selbst oder für andere daraus hervorgehen mag : „ es geschehe,
was recht ist, und wenn die Welt daiüber zu Grunde gienge."
Diesen Standpunkt halten nun aber andere ftlr be-
schränkt und unpraktisch. Die Fragen der Politik, sagen sie,
lassen sich nicht in der gleichen Weise entscheiden, wie ein
Eechtsstreit ; im Völkerleben wirken noch andere Mächte, als
das fonnale Recht; die Bedürfiiisse, die Kräfte, die Ueber-
zeugungen, die Leidenschaften der Menschen und der Völker
geben hier den Ausschlag; mit diesen Faktoren hat der Poli-
tiker zu rechnen, wenn er etwas zweckmässiges und lebens-
fähiges schaffen will. Die erste Frage ist für ihn nicht die,
was geschehen soll, sondern was geschehen kann; er hat
nicht abstrakte B<echtsansprüche gegen einander abzuwägen,
sondern realen Kräften ihi-e Richtung vorzuzeichnen und ihr
Verhältniss zu bestimmen; und dieses Verhältniss richtet sich
nicht nach den Ansprüchen, welche jeder Theil aus allge-
meinen Reditsbegriffen für sich ableitet, sondern nach denen,
welche er in der Wirklichkeit durchsetzen, denen er ihre Gel-
tung in der Welt erkämpfen kann. „Im Leben — wie der
Schiller'sche Vers sagt — gilt der Stärke Recht, dem Schwachen
trotzt der Kühne, wer nicht gebieten kann, ist Knecht;" wer
da etwas ausrichten will, der dari auch dem formellen Recht
gegenüber nicht zu scrupulös sein ; er wird es achten, so lange
es angeht, aber wo es sich um grosse politische Schöpfungen
handelt, wird er sich nicht dui*ch kleinliche Rücksichten auf
vorhandene Rechtsansprüche lahm legen und von der Aus-
führung dessen abhalten lassen, was er einmal als nothwendig
erkannt hat. Oder ist es denn jemals andei*s gehalten worden,
seit die Welt steht? Gibt es denn ein einziges mächtiges
Staatswesen, das ohne Krieg und Eroberung begründet, dem
Die Politik in ihrem Yerhältniss zum Kecht. 383
in seiner Entwicklung der Durchgang durch Bevolution oder
Despotismus erspart worden wäre? Ist jemals eine durch-
greifende Veränderung in den Staatsvei-fassungen und den ge-
sellschaftlichen Einrichtungen durchgesetzt worden, ohne dass
Gewalt gebraucht, oder wenigstens angedroht wurde? Und
kann irgend jemand, der die menschliche Natur so nimmt, wie
sie ist, und nicht so, wie sie unsem Wünschen nach sein
sollte, sich übeiTeden, dass es in dieser Beziehung sich
jemals anders verhalten werde? Dass die Menschen ihrer
grossen Mehrzahl nach die Opfer, welche das Gemeinwohl er-
fordei-t, fi*eiwillig biingen, dass sie freiwillig auf Rechte ver-
zichten werden, die ihnen vortheilhaft sind, oder ihrem Selbst-
gefühl schmeicheln, einzig und allein weil das Interesse des
Ganzen diesen Verzicht fordert? Doctrinäre Idealisten mögen
dieses glauben, und sich der Hoffnung hingeben, die Welt
durch politische Deduktionen und freie Ueberzeugung zu ver-
bessern ; der Bealpolitiker weiss, dass diess ein schöner Traum
und nicht mehr ist.
So ungefähr lauten die beidei*seitigen Behauptungen, und
sie stehen sich in dieser Fassung schroff genug gegenüber. Die
eine stellt sich eben so ausschliesslich auf den Standpunkt des
Rechts, wie die andere auf den der Zweckmässigkeit; jene
geht von der Idee aus, diese von den thatsächlichen Verhält-
nissen und dem praktischen Bedür&iss ; jene will unsere realen
Zustände nach unsem sittlichen Begriffen bestimmt und be-
urtheilt wissen, diese unsere Begriffe nach den realen Zu-
ständen. Ist aber dieser Gegensatz wirklich ein so vollkom-
mener, dass man nur zwischen der einen oder der anderen
Ansicht die Wahl hätte, dass die eine ebenso unbedingt im
Recht wäre, wie die andere im Unrecht? Oder hat vielleicht
keine von beiden durchaus Recht, jede aber in einer gewissen
Beziehung? Und wenn das ei*ste der Fall sein sollte: für
welche von den sti-eitenden Meinungen sollen wir uns ent-
scheiden? wenn das andere: was von jeder sollen wir an-
nehmen, was vei^werfen?
Um hieräber in's reine zu kommen, wird es nöthig sein,
384 ^^6 Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht.
eine Unterscheidung vorzunehmen, die nicht selten, zum Schaden
für die Sache, zu wenig beachtet wird. Man fragt, ob die
Politik unter allen Umständen an das Recht gebunden sei,
oder nicht. Aber diese Frage kann einen zwiefachen Sinn
haben. Wenn wir vom Recht reden, so bezeichnen wir mit
diesem Ausdruck bald das positive, bald das natürliche oder
Vei-nunftrecht. Das positive Recht eines Volkes oder Gemein-
wesens besteht in allen den Bestimmungen, welche von ihm
a;ls Gesetze für das Verhalten der Einzelnen oder der Ge-
sammtheit anerkannt sind; ein positives Recht ist eine Regel
des Handelns, deren Geltung entweder auf einem Akt der Ge-
setzgebung, oder auf einem Vertrag, oder auch auf stillschwei-
gender Uebereinkunft und Gewohnheit beruht. Das Natur-
oder Vernunftrecht dagegen ist der Inbegriff derjenigen Gesetze,
welche sich für unser rechtliches Verhalten gegen andere Men-
schen aus unserer sittlichen Natur als solcher, und abgesehen von
jeder positiven Satzung, ergeben; welche ebendesshalb für jeden
Menschen und jede mensphliche Gemeinschaft anderen gegen-
über auch in dem Fall verbindlich sind, wenn ihr Rechts-
verhältniss zu denselben weder durch Verträge, noch durch
positive Gesetze geordnet ist. Würde nun das positive Recht
seinem Inhalt nach mit dem' Vemunftrecht immer und noth-
wendig zusammenfallen, so könnte man unbedenklich vom
Recht überhaupt reden, ohne sich näher daiHber zu erklären,
was für ein Recht man damit meine; da diess aber offenbar
nicht der Fall ist, so ist diese Erklärung unerlässlich, wenn
man sich nicht der Gefahr aussetzen will, verschiedenartige
Dinge zu verwechseln, oder sich über Sätze zu streiten, bd
denen der eine an etwas ganz anderes denkt, als der andere.
Diess gilt nun auch von der Frage, welche uns eben jetzt b^
schäftigt. Wenn es sich darum handelt, ob die Politik un-
bedingt an das Recht gebunden, oder ob sie unter Umständen
daillber hinwegzuschreiten befugt sei, so kann sich diese Frage
sowohl auf das natürliche, als auf das positive Recht beziehen.
Da aber diese beiden nicht blos in ihrem Ui-sprung, sondern
auch in ihrem Inhalt sehr verschieden sein können, so muss
Die Politik in ihrem VerhältiiiBS zum Recht. 385
sie fttr jeden von diesen zwei Fällen besonders gestellt, das
Verhältniss der Politik zum natürlichen Recht, und ihr Ver-
hältniss zum positiven Recht müssen getrennt untereucht
werden.
Was nun zunächst das natürliche Recht betrifft, so ist die
Sache sehr einfach. Politik heisst zu deutsch: „Staatskunst" ;
ein Politiker ist, wer die Aufgaben des Staatslebens kunst-
mässig, mit den richtigen, der Natur und den Bedingungen
desselben entsprechenden Mitteln zu lösen versteht. Dass zu
diesen Mitteln unter Umständen auch die Verletzung der all-
gemeinen Rechtsgesetze gehören könne, wäre eine Behauptung,
nicht minder widei*sinnig, als wenn man sagen wollte: seine
Kunst erlaube dem Arzt, den menschlichen Organismus nicht
blos den Gesetzen desselben entsprechend, sondern bisweilen
auch ihnen widei-sprechend zu behandelu. Wenn jene Gesetze
für die Einzelnen verbindlich sind, so sind sie es auch für die
Staaten; wenn es dem Einzelnen nicht erlaubt ist, um seines
Vortheils willen anderen Unrecht zu thun, so wird diess einem
Volk oder einer R»lgieiTing ebensowenig erlaubt sein. Das
öffentliche Recht trägt allerdings in vielen Beziehungen einen
anderen Charakter, als das Privatrecht. So geht z. B. aus
der Natur und Aufgabe des Staates das Recht desselben her-
vor, seine Angehörigen gesetzlichen Beschränkungen zu unter-
werfen, Ansprüche an sie zu machen und Opfer von ihnen zu
verlangen, auf welche kein Einzelner andern Einzelnen gegen-
über ein Recht hat; ebenso müssen für das Verhältniss der
Völker zu einander vielfach andere Bestimmungen gelten, als
für das Verhältniss zwischen Privatleuten: ihre Streitigkeiten
lassen sich nicht wie ein Civilprocess behandeln, und sie sind
schon desshalb, weil sie keinen gemeinsamen Richter übersieh
haben, in hundei-t Fällen zur gewaltsamen Selbsthülfe ge-
nöthigt und berechtigt, in denen von dem Privatmann verlangt
werden müsste, dass er sein Recht vor Gericht suche. Aber
aus dieser Verschiedenheit der Rechtsverhältnisse folgt
nicht im geringsten eine Verschiedenheit der Rechtsgrund-
sätze, und nur die äusserste Oberflächlichkeit könnte meinen,
Z e 1 1 e r , Vorträge nnd Abhandl. 25
386 ^ic Politik in ihrem YerhältDiss zum Becht.
dass die Politik desshalb, weil sie nach der Natur ihres Gegen-
standes die Bestimmungen des Privatrechts nicht ohne
weiteres in Anwendung bringen kann, nach dem Becht über-
haupt nicht zu fragen habe. Diess ist in Wahrheit so wenig
der Fall, dass vielmehr umgekehrt gerade die eigenthümliche
Natur des Staatslebens den Staaten und ihren Lenkern, so-
wohl den eigenen Angehörigen als auswäiügen Völkern gegen-
über, die strengste Rechtlichkeit zur Pflicht macht. Die Grösse
eines Staates beruht ja doch nicht blos auf dem Umfang seines
Gebiets, auf der Stärke seines Heeres, auf der Zahl, dem
Reichthuih, dem Gewerbfleiss und der Geistesbildung seiner
Einwohner ; sondern in erster Linie auf der sittlichen Tüchtig-
keit des Volkes, auf der Gewissenhaftigkeit, mit der jeder
Einzehie seine Stelle im Ganzen ausfüllt, auf der allgemeinen,
zur Gewohnheit gewordenen Achtung vor dem Gesetz, auf der
Gesinnung, welcher das Staatswohl schlechthin das Höchste,
welcher für die Erhaltung des Staates kein Preis zu hoch und
kein Opfer zu schwer ist. Diese sittliche Grundlage
des Staatslebens zerstört eine Politik, weichein
ihrem Theile das Recht nicht achtet; gleichviel, ob
diese Rechtsverletzung gegen das eigene Volk oder gegen
fremde Völker begangen wird; sie zei-stört dieselbe um so
sicherer, je dauernder ihre Herrschaft und je blendender ihr
äusserer Erfolg ist. Eben damit gräbt sie aber auch sich
selbst die Wurzeln ihrer Kraft ab. Das ist der Fluch jeder
despotischen Regieiiing, dass sie keine zuverlässigen Diener
findet, dass sie die tüchtigen und ehrlichen Leute zu Hass und
Widerstand aufstachelt, die schwachen und schwankenden an
stumpfe Unthätigkeit, die dienstwilligen an eine Gesinnungs-
losigkeit gewöhnt, welche sich in der Stunde der Noth un-
fehlbar gegen sie selbst wendet. Das ist die Strafe, von der
jede gewaltthätige und erobei-ungssüchtige Politik unausbleib-
lich ereilt wird, dass sie den Rechtssinn im eigenen Volk ab-
tödtet, zu innerem Zwist und sittlichem Verfall in ihm den
Grund legt. Die Väter opfern sich vielleicht noch den Zwecken
der gemeinsamen Selbstsucht, und vollbringen in ihrem Dienste
Die Politik in ihrem YerhältDiBS zum Recht. 387
ruhmvolle Thaten; die Söhne oder die Enkel ziehen sich aus
dem, was der Staat thut und gutheisst, die Lehre, dass es mit
dem Hecht überhaupt nichts auf sich habe, dass jede Bechts-
verletzung entschuldigt sei, wenn sie vom Glück begünstigt
wird. Warum sollte dann aber dieser Grundsatz nur den
Staaten zu Gute kommen? Wenn ein Volk das Hecht hat,
andere Völker zu berauben und zu unteijochen, warum sollte
der Einzelne anderen und der Gesammtheit gegenüber dieses
Hecht nicht ebensogut haben? Wenn uns daher die Geschichte
so viele Fälle zeigt, in denen erobernden Staaten gerade auf
der Höhe ihrer Macht der Keim des inneren Verderbens ein-
gepflanzt wurde, wenn im Alterthum auf die wunderbaren Er-
folge Alexander's die verheerenden Kämpfe seiner Feldherm,
auf die gewaltigen Eroberungen der römischen Hepublik die
Zeiten des Sittenverfalls und der Bürgerkriege, auf die Sci-
pionen die Sulla's und Gatilina's gefolgt sind, wenn in den
letzten Jahrhundei-ten die glänzende Periode Ludwig's XIV.
zu der schmählichen Missregierung seines Nachfolgei*s, zu der
inneren Fäulniss und dem gewaltsamen Umsturz des Staats-
wesens den Giomd gelegt hat, wenn das sittliche und politische
Leben des französischen Volkes noch heute an den Nachwehen
der napoleonischen Eroberungskriege im Innei'sten leidet, so
ist diess kein Zufall. Eine PoUtik, welche das Hecht nicht
achtet, ist nicht blos unsittlich, sie ist auch immer kurzsichtig :
sie mag voillbergehend einen noch so glänzenden Erfolg haben,
«twas dauerndes und innerlich begründetes veimag sie nicht
2a schaffen.
Aber wir müssen hier allerdings untei-scheiden. Nicht
alles, was irgendwann und irgendwo zu Hecht besteht, ist auch
an sich selbst berechtigt; das positive Hecht stimmt mit dem
natürlichen Hecht nicht immer überein. Das positive Hecht
l>ezeichnet zunächst, wie bemerkt, nur diejenigen Bestimmungen,
ipyelche in einem gewissen Theile der menschhchen Gesellschaft
imd einem gewissen Zeitpunkt als gültig anerkannt, durch Ge-
setze, Verträge oder Gewohnheit festgestellt sind. Nun wird
man freilich im allgemeinen annehmen können, dass solche
25*
388 1^16 Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht
Bestimmungen ihren guten Grund haben, und das um so mehr,
je länger sie sich in Geltung erhalten haben, und je wichtiger
die Gegenstände sind, auf die sie sich beziehen. Man wird ja
Verträge über wichtige Dinge nicht leichthin schliessen, son-
dern jeder Theil wird darin seine Rechte und Interessen mög-
lichst zu wahren suchen; man wird Gesetze nicht ohne Noth
erlassen oder abändern ; und wo uns eine seit unvordenklichen
Zeiten bestehende, mit der Sitte eines Volkes verwachsene
Rechtsgewohnheit begegnet, da können wir zum voraus über-
zeugt sein, dass dieselbe aus den Verhältnissen und der Denk-
weise dieses Volkes sich naturgemäss entwickelt habe. Aber
daraus folgt noch lange nicht, dass die Bestimmungen, welche
auf diese Art zur Geltung gekommen sind, unter allen Um-
ständen zweckmässig und gerecht sind. Ein Vertrag kann
durch Gewalt erzwungen oder durch List ei*schlichen werden;
es kann aus Eigennutz oder aus Irrthum solches zum Gesetz
gemacht werden, was die Rechte des Volkes oder Einzehier
im Volke verletzt; aus rohen Kulturauständen, aus Zeiten der
Gewalt und der Unterdrückung können Einrichtungen hervor-
gehen, welche den Rechtsbegriffen, der Humanität, dem Frei-
heitsbedürfniss eines gebildeteren und aufgeklärteren Zeitalters
schnui*stracks zuwiderlaufen. Es gibt kaum irgend ein Un-
recht, das nicht da und dort zu Recht bestanden, oft Jahr-
tausende lang und in der weitesten Ausdehnung gegolten hätte.
Was kann z. B. vom Standpunkt des natürlichen Rechts ans
verwei-flicher sein, als die Sklaverei ? Und doch bestand diese
Einrichtung nicht blos im Alterthum, ohne dass auch nur Eine
Stimme sich dagegen erhoben hätte, sie ist nicht blos damals
von den gebildetsten und sittlich hervoiTagendsten Männern
gutgeheissen, von einem Plato gebilligt, von einem Aristoteles
vertheidigt worden; sondern auch bei den christlichen Völkern
hat sie sich bis in unsere Zeiten in einer das menschliche Ge-
fühl empörenden Gestalt und Ausdehnung erhalten. Was kann
es unsittlicheres, mit dem Wesen der Ehe unverträglicheres
geben, als die Polygamie? Aber die Gesetze gestatten diese
Unsittlichkeit noch in zahllosen Ländern, und ehedem wenig-
Die Politik in ihrem Yerhältniss zam Recht. 389
stens war sie selbst bei Völkern von verhältnissmässig hoher
Bildung einheimisch. Welchen schauderhafteren Wahnsinn kann
man sich denken, als jene Sitte der Hindus, derzufolge die
Witwe den Scheiterhaufen ihres gestorbenen Gatten lebend zu
besteigen hatte? Aber dieser Wahnsinn war während vieler
Jahrhunderte bestehendes, durch Eeligion und Gesetz ge-
heiligtes Eecht. Die Seeräuberei und der Sklavenhandel, die
Menschenopfer und die Ketzerverbrennung, die He^enprocesse,
die Folter und die Gensur konnten das bestehende Hecht für
sich anrufen ; was nur immer der Despotismus und die Gewinn-
sucht, der Fanatismus und der Aberglaube zur Unterdrückung
und Ausbeutung der Menschen ei*sinnen mochten, das hat sich
noch jederzeit zum Gesetz zu erheben, sich mit dem Schein
des Rechts zu umgeben, auf göttliche und menschliche Auk-
toritäten zu stützen gewusst
Es sind aber gar nicht blos diese schlechten und verwerf-
lichen Gillnde, welche einen Widerspruch des positiven Rechts
mit dem Natur- und Vemunftrecht herbeiführen: auch solche
Einiichtungen und Gesetze, die zui- Zeit ihrer Einführung wirk-
lich berechtigt und zweckmässig waren, können diess später
zu sein aufhören, was früher Eecht war, kann unter Umstän-
den in der Folge zum Unrecht werden. Ein positives Gesetz
ist eine Eegel, welche durch die Anwendung des allgemeinen
Eechtsgesetzes auf bestimmte, geschichtlich gegebene Verhält-
nisse gefunden wird. Mag man nun bei der Feststellung dieser
Eegel auch noch so richtig verfahren sein^ so wird sie doch
der Sachlage immer nur so lange entsprechen, als die Ver-
hältnisse, auf die sie von Anfang an berechnet war, sich nicht
erheblich verändert haben ; tritt dagegen eine solche Verände-
rung ein, so werden dieselben Bestimmungen, welche früher
wohlbegründet waren, sich diUckend und ungerecht zeigen;
„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage," und was die Ver-
gangenheit vielleicht als grossen Foi-tschiitt dankbar begrüsste,
das wird von der Gegenwart verwünscht. So war das Zunft-
wesen ursprünglich eine ganz zweckmässige und wohlthätige
Einrichtung, und weil es diess war, konnte man sich auch über
390 I^ie Politik in ihrem YerhäLtniss zum Becht.
die Beschränkungen nicht beklagen, welche es dem Einzehen
auferlegte. Späterhin wurde es zu einem Hemmschuh fOr den
gewerblichen Foilschritt, zu einer Quelle der gehässigsten Un-
gleichheiten und Härten; und es wurde diess nicht blos durch
seine eigene Entartung, sondern vor allem durch die Entwick-
lung des Erwerbs- und Verkehrslebens : als diesem eine freiere
Bewegung zum Bedüiihiss wurde, hatte das Zunftwesen seine
innere Berechtigung verloren. So waren die drei mittelalter-
lichen Stände lange Zeit wirklich die einzigen, welche zu poli-
tischer Arbeit die Fähigkeit und den Beiiif hatten, und eine
Versammlung, welche aus den Vertretern dieser drei Stände
bestand, konnte als wirkliche Volksvertretung gelten. Als ein
Theil dieser Stände seine heiTorragende Bedeutung verloren
hatte, als andere gesellschaftliche. Mächte neben ihnen empor-
gewachsen und über sie hinausgewachsen waren, konnte das
Volk seine Vertreter nicht mehr in ihnen finden, das alte
Recht, welches sie als solche anerkannte, wurde zum Unrecht
Das gleiche gilt von allen gesellschaftlichen und politischen
Einrichtungen, es gilt auch von den völken'echtlichen Be-
ziehungen der Staaten unter einander. Auch hier tritt häufig
der Fall ein, dass ein Verhältniss zwischen zwei Staaten,
welches früher naturgemäss war, in der Folge unhaltbar und
unerträglich wird, dass die Verträge, die ein solches Verhält-
niss feststellen, mit der Zeit als eine drückende Fessel em-
pfunden werden. Bevölkemngen, die an verschiedene Staaten
vertheilt sind, können durch die Gemeinsamkeit ihrer Inter-
essen, ihrer Sitten, ihrer Bildung zusammengeftthit, solche, die
in Einem Staatswesen vereinigt sind, durch die Verschieden-
heit dei*selben auseinandergetrieben werden ; ein Staat, dessen
Führung sich andere überlassen hatten, kann seine Bedeutung
verlieren, während sich jene aus ihrer untergeordneten Stel-
lung emporarbeiten ; Verpflichtungen, die ein Staat gegen einen
anderen übernommen, Hechte, die er ihm eingeräumt hat,
können im weiteren Verlauf mit seiner eigenen Wohlfahrt un-
verträglich werden, die Bedingungen seines Bestehens und Ge-
deihen» gefährden; es kann mit Einem Wort auch in diesen
Die Politik in ihrem Verhältniss zum Recht. 391
Verhältnissen das, was unzweifelhaft bestehendes, fonnales
Recht ist, selbst wenn es anfangs nicht ungerecht war, unter
veränderten Verhältnissen zum unleidlichen materiellen Unrecht
werden.
Was ist nun in solchen Fällen zu thun? Das Unrecht
muss aufgehoben, das positive Recht muss mit dem natürlichen
Recht in Uebereinstimmung gebracht, die Gesetze der Staaten,
die Verträge der Völker müssen den Abänderungen unter-
zogen werden, welche durch die realen Verhältnisse und die
thatsächlich vorhandenen Bedürfhisse gefordert sind. Diese
Fortbildung des bestehenden Rechts zu sichern, ihr die ge-
setzlichen Wege zu ebnen, ist eine von den wichtigsten Auf-
gaben der Staatskunst; und wo sie dieser Aufgabe genügend
nachzukommen vei*steht, wo den Gesetzen, den Einrichtungen,
den internationalen Beziehungen der Völker die Elasticität ge-
wahrt ist, sich ihrer fortschreitenden Entwicklung, ihren
wechselnden Bedürfiiissen anzupassen, da werden jene CoUi-
sionen des positiven und des natürlichen Rechts , von denen
ich so eben gesprochen habe, entweder gar nicht eintreten,
oder doch ohne tiefere Erschütterungen übei'wunden werden.
Wie nun aber, wenn diese Bedingung nicht eifüllt wird? Wenn
einer Reform, deren Bedürfhiss sich unabweisbar herausgestellt
hat, der gesetzliche Weg verschlossen ist? Dieser Fall ist,
wie die Erfahrung zeigt, nichts weniger als selten ; und er tritt
gerade da am häufigsten ein, wo eine Verbesserung am dringend-
sten noththäte. Der Druck ungerechter Gesetze, die nach-
theiligen Folgen zweckwidriger Einrichtungen werden sich nur
dann zum Unerträglichen steigern, wenn diejenigen, welche
zur Abhülfe Pflicht und Beruf hätten, diese Pflicht vei*säumen ;
und sie versäumen dieselbe bald aus Unfähigkeit und Trägheit,
bald aus üblem Willen; sie setzen den begründetsten Reform-
vorschlägen, den dringendsten Forderungen der Zeit nui* dess-
halb stumpfe Gleichgültigkeit oder hartnäckigen Widerstand
entgegen, weil bei einer Fortdauer der ven-otteten Zustände
ihre Bequemlichkeit, ihre Eigenliebe oder ihr Interesse seine
Kechnung findet, weil sie einer wirklichen und ernstlichen Ver-
392 ^ie Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht
besseiimg Opfer bringen müssten, zu denen sie sich nicht ent-
schliessen können. Es hat sich etwa in einem Volke eine
unumschränkte Monarchie zur Herrschaft gebracht; sie hat
vielleicht seiner Zeit diesem Volke grosse Dienste geleistet,
aber ihre Zeit ist jetzt voiilber: sie vennag sich selbst vor
Entartung, den Staat vor Verfall nicht zu bewahren ; die Wohl-
fahrt des Volkes, das Gedeihen des Staates, die Erhaltung
seiner Machtstellung, die Gesundheit seines sittlichen Lebens
fordert freiere Einrichtungen; allein die Regierung verweigert
dieselben, sie bleibt taub gegen alle Voi*stellungen , sie ant-
wortet auf alle Aeusseningen der Unzufriedenheit mit Mass-
regeln der Unterdiilckung, zu denen ihr die bestehende Staats-
verfassung ein foiinelles Recht gibt. Oder ein Staat ist —
wie diess z. B. in Polen der Fall war — in den Händen einer
übermächtigen Aristokratie, die auf ihre Privilegien pochend
alle Einheit des Staatslebens und alle bürgerliche Freiheit un-
möglich macht; die Masse der Staatsangehörigen befindet sich
in einem Zustand der Unterdrückung, die wesentlichsten Men-
schenrechte werden ihr vorenthalten, aber eine Aenderung
dieses Zustandes ist mit gesetzlichen Mitteln nicht zu er-
reichen. Oder es ist umgekehrt einer zügellosen Demokratie
gelungen, das Gemeinwesen in ihre Gewalt zu bringen ; sie hat
seine Verfassung nach ihrem Sinn umgestaltet, ihr System zum
anerkannten Gesetz erhoben; der Staat treibt unter ihrer
Leitung dem Untergang zu, aber es kommt ihi' nicht in den
Sinn, desshalb sein Steuer aus der Hand zu geben. Oder es
sind Theile eines Volkes durch ein Nachbarvolk von dem
Eöi*per, zu dem sie gehörten, abgerissen, und mit einem firemden
zusammengeschmiedet worden ; sie sehnen sich nach der poli-
tischen Vereinigung mit ihi*en Stammesgenossen, aber völker-
rechtliche Verträge haben dem unnatürlichen Verhältniss üur
Sigel aufgediilckt , und eine Aenderung dieser Verträge ist
in Güte nicht zu en-eichen. Oder ein Volk ist in viele kleifle
Gemeinwesen zerfallen. Es hat vielleicht in dieser SpaltoBg,
wie einst Griechenland in der seinigen, auf manchen Gebieteo
gi'osses geleistet, eine reiche Bildung entwickelt, es hat viel-
Die Politik in ihrem Yerhältnlss zum Recht. 39S
leicht auch von gesetzlicher Freiheit und bürgerlichem Gemein-
geist schöne Beispiele aufzuweisen. Nun treten aber an dieses
Volk grössere politische und wirthschaftliche Aufgaben heran,
denen ein kleines oder zersplittertes Staatswesen nicht ge-
wachsen ist; seine Nachbarn fassen sich zu starken Gross-
staaten zusammen, während es selbst aus der Unmacht der
Getheiltheit nicht herauskommt; nach aussen hin abhängig
und missachtet, kann es auch im Innern zu keinem gesunden
Staatsleben und 'keinem freiheitlichen Fortschritt gelangen, weil
seine besten Kräfte durch gegenseitige Beibung sich aufzehren,
weil sich die Thätigkeit des Volkes keinen klaren gemeinsamen
Zielen zuwendet, weil jede Bewegung in dem einen seiner Theile
durch die Bewegungen der anderen gekreuzt und gehemmt
wird: so reich es an Mitteln und an Kräften ist, so arm ist es
an politischen Erfolgen, selbst seine Geistesbildung droht aus
Mangel an politischer Lebensluft zu ersticken, und der Zwie-
spalt unter seinen Theilen, das Fehlen jeder gesunden staat-
lichen Organisation stellt ihm zunehmende Auflösung, stellt ihm
schliesslich das Schicksal der Völker in Aussicht, welche durch
ihre innere Zwietracht eine Beute der Fremden geworden sind.
Jedermann sieht ein, was einem solchen Volke noththut; aber
indem man sich um den Weg streitet , kommt man immer
weiter vom Ziel ab, und wenn es sich darum handelt, seine
Sonderstellung der Einheit des Ganzen zum Opfer zu bringen;
zeigt sich dazu wenig ernstliche Neigung; am allerwenigsten
natürlich in der Kegel bei denen, welchen der bisherige Zu-
stand Vortheile gebracht hat, die sie aufgeben, eine Stellung,
von der sie herabsteigen, eine Souveränetät, auf die sie ganz
oder theilweise verzichten müssten. So unhaltbar die Zustände
auch sind: auf dem Boden des bestehenden Bechts lassen sie
^ch einfach desshalb nicht gründlich verbessern, weil das be-
stehende Becht selbst nichts anderes ist, als der gesetzliche
Ausdruck jener Zustände, weil dieses Becht die Entscheidung
Über Einfühi*ung eines Neuen denen in die Hand gibt, deren
höchstes Interesse es ist, dass nichts neues geschehe, sondem
alles so viel wie möglich beim Alten bleibe.
394 ^16 Politik in ihrem Verhältiiiss zum Recht.
Wiederholen wir nun also die Frage: was soll und was
kann in Fällen geschehen, wie diejenigen, von denen so eben
gesprochen wurde? Es ist ein Zustand vorhanden, welcher
mit den wesentlichen Zwecken des Staates, mit den natür-
lichen Rechten eines Volkes oder vieler Einzelnen im Volke,
vielleicht mit der Sicherheit und dem Gedeihen des ganzen
Gemeinwesens unverträglich ist. Dieser Zustand wird durch
Gesetze und Verträge geschützt, und es ist keine Aussicht,
ihn imter Achtung derselben ändern zu können. Sollen nun
unter solchen Umständen jene Verträge und Gesetze unantast-
bar sein? Soll das Unrecht sich für alle Zeiten als Hecht
behaupten düifen, weil es ihm in irgend einem Zeitpunkt ge-
lungen ist, sich den Schein des Eechts zu geben, sich zum an-
erkannten Gesetz zu machen? Auf diese Frage lässt sich nur
mit Nein antworten. Eine gewissenhafte Politik wird es aUer-
dings nicht leicht nehmen, in irgend einem Fall über das posi-
tive Hecht hinwegzugehen. Sie wird sich sagen, dass diess
nur da sittlich erlaubt ist, wo sich die wesentlichen Be-
dingungen des Staatslebens, die unentbehrlichen Rechte des
Volkes und seiner Bürger auf keinem anderen Wege retten
lassen; sie wird erkennen, dass jede gewaltsame Aenderung
des bestehenden Bechtszustandes, ob sie nun B^volution oder
Staatsstreich oder Krieg heisse, so schwere Opfer kostet, eine
so tiefe Erschütterung des Vertrauens zu den öffentlichen Zu-
ständen, des Bechtsbewusstseins und des wii*thschaftlichen
Lebens, so grosse materielle und sittliche Uebel in ihrem Ge-
folge hat, wie sie den Völkern nicht ohne die dringendsten
Gründe zugemuthet werden düifen. Sie wird selbst empfind-
liche Uebel lieber ertragen, als sie durch grössere heilen. Aber
wenn wirklich die Erhaltung des Staates, die Gesundheit des
Volkslebens, der Bestand der gesellschaftlichen Ordnung in
Frage steht, so wird sie sich erinnern, dass das natürliche
Becht höher und ursprünglicher ist, als jede menschliche
Satzung, und dass für die Völker so gut, wie für die Ein-
zelnen, das Gesetz der Selbsterhaltung das erste Naturgeseti
ist Eine ungeheure Verantwortlichkeit ist es immer, die ein
Die Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht. 395
Staatsmann übernimmt, wenn er die Verträge oder die Gesetze
zu durchbrechen, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen wagt ; aber
eine Staatskunst, die ihrer Aufgabe gewachsen ist, darf auch
vor dieser Verantwortlichkeit nicht zurückschrecken, wenn es
wirklich keinen anderen Weg gibt, um einem Volke die un-
erlässlichen Bedingungen seines politischen Lebens zu erringen
oder zu erhalten, wenn die natürlichen Hechte desselben sich
nur auf Kosten des positiven Bechts retten lassen.
Ob nun freilich dieser Nothstand in einem gegebenen Falle
wirklich vorhanden sei, diess lässt sich in der Kegel nicht so
einfach entscheiden. Es fragt sich nicht blos, ob der bestehende
Zustand überhaupt einer Abhülfe bedürftig ist, sondern auch,
ob seine Uebel und Gefahren so gross sind, die Aussicht auf
eine gesetzliche und friedliche Heilung derselben so gering ist,
dass sich nur noch von gewaltsamer Abhülfe eine Bettung
hoffen lässt Es fragt sich femer, welche Aenderung der be-
stehenden Zustände angestrebt, was und wieviel von denselben
beseitigt, was an ihre Stelle gesetzt werden soll. Weiter ent-
steht die Aufgabe, den richtigen Zeitpunkt zum Handeln und
die geeigneten Mittel zu finden, und auch dieser Punkt ist von
entscheidender Wichtigkeit für das Urtheil, nicht blos über die
Klugheit, sondern auch über die sittliche und rechtliche Zu-
lässigkeit dessen, was geschieht. Ein gefährliches Wagniss mit
unzureichenden Mitteln unternehmen, ein Land leichtsinnig in
einen Krieg, eine Bevolution, einen Bürgerzwist stürzen, ist
nicht blos eine Thorheit, sondern es ist auch ein schweres Ver-
brechen. Wäre ein solches Unternehmen an sich selbst auch
noch so berechtigt, sein Ziel noch so löblich : es wird verwerf-
lieh, sobald die Wahrscheinlichkeit eines günstigen Ausgangs
nicht im Verhältniss zu der Grösse der Opfer und der Gefahr
steht; denn niemand hat das Becht, die höchsten Güter seines
Volkes für ein Abenteuer einzusetzen, durch unüberlegtes Vor-
stehen seine Wohlfahrt und seine Existenz zu gefährden. Ob
aber ein Unternehmen überlegt oder unüberlegt ist, ob es von
richtiger oder falscher Berechnung der Mittel und Kräfte aus-
geht, darüber kann sehr häufig nur der Erfolg endgültig ent-
396 1^16 Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht
scheiden, und es ist insofern nicht ohne Grund, wenn dem Er-
folge auch auf das Urtheil über seine moralische Zulässigkeit
ein gewisser Einfluss eingeräumt wird: ein schlechter Zweck
wird fireilich durch den äusseren Erfolg nie zu einem guten;
aber ob ein an sich selbst berechtigter Zweck mit gewissen
Mitteln verfolgt werden darf, diess wird allerdings neben an-
derem auch damach zu beuiiheilen sein, inwiefern diese Mittel
zum Ziele zu führen geeignet sind.
Schon diese Erwägungen werden es uns nun vollkommen
begreiflich machen, dass bei grossen geschichtlichen Umwäl-
zungen auch solche, die in ihren allgemeinen sittlichen und
politischen Grundsätzen einverstanden sind, doch in der Be-
urtheilung der Ereignisse oft so weit auseinandergehen. Es
handelt sich hier eben fast ohne Ausnahme nicht um ein-
fache und leicht zu durchschauende, sondern um sehr ver-
wickelte Fragen; es ist nicht auf der einen Seite schlechtweg
das Recht, auf der anderen das Unrecht; die gewaltsame
Lösung ist vielmehr gerade dadurch herbeigefühlt worden,
dass eine CoUision der Eechte und der Interessen stattfindet,
und wie die Entscheidung auch fallen mag, darauf muss man
sich unter allen Umständen gefasst machen, dass man empfind-
liche Opfer zu bringen, auf wohlberechtigte Wünsche zu ver-
zichten, das Gute, was man eneichen möchte, mit mancherlei
Uebeln und Misständen zu erkaufen hat. Können wii* uns
wimdera, wenn bei solcher Sachlage auch die Wohlmeinenden
und Verständigen in ihrem Ui-theile nicht immer einig sind?
Wenn der eine das Neue, was sich vollbringt, auch wenn es
an sich heilsam und nothwendig ist, doch wegen der Art, wie
es sich vollbringt, und der Uebelstände, die es mit sich führt,
zurückstösst; wenn es ein anderer im hoffnungsvollen Ausblick
auf die Zukunft mit diesen Uebelständen zu leicht nimmt, und
alles gutheisst, was ihm im Zusammenhang mit einer vieher-
sprechenden Bewegung entgegentritt? Müssen uns nun schon
diese Gründe zur Billigkeit und Duldsamkeit gegen abweichende
politische Meinungen auffordern, so kommt dazu auch noch
ein weiterer beachtenswerther Umstand. Wie es nur zu oft
Die Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht. 397
Torkommt, dass redliche und in ihren letzten Zielen ganz be-
rechtigte Absichten durch Fehlgreifen in den Mitteln zum Ver-
kehrten und Verderblichen führen, so kann es auch umgekehrt
geschehen, dass aus tadelnsweillien Beweggiünden eine der
Sache nach richtige und heilsame Politik heiTorgeht. Es ist
ja gar kein seltener Fall, dass eine Partei oder ein Einzelner,
um zur Macht zu gelangen, sich zum Verfechter refonnatori-
«cher Bestrebungen macht, dass eine Regierung die Interessen
des Volks fördert, um sich dadurch seine Unterstützung oder
«eine Duldung für ihre selbstsüchtigen Pläne zu erkaufen, dass
die Grösse und das Gedeihen eines Landes nicht als Selbst-
zweck, sondeiTi nui* als ein Mittel für die Macht der Re-
gierenden gesucht wird. Kommt es nun hiebei zu einem Kampf
der Pai1;eien, auf welche Seite soll man sich stellen? Gerade
in solchen Fällen entstehen die härtesten sittlichen Collisionen ;
in ihnen gerade kann der gewissenhafte Mann am leichtesten
in die peinliche Gefahr kommen, entweder mit dem Guten,
das er fördern möchte, auch das Schlechte und Verderbliche
durch seinen Beifall zu ermuthigen, durch seine Mitwirkung
zu unterstützen, oder andererseits, wenn er sich dem zu ent-
ziehen und sich ausserhalb des Parteikampfes zu halten ver-
bucht, eben durch seine XJnthätigkeit das Gemeinwohl zu
schädigen. Je klarer wir die Natur und die Gründe solcher
Collisionen erkannt haben, um so deutlicher werden wir auch
einsehen, dass in denselben mit gleich redlichem Willen ver-
schiedene Wege gewählt werden können, um so leichter es
begi'eifen, wenn über manche brennende Frage selbst mit
Männern, deren Charakter und Einsicht wir hochhalten, uns
keine Verständigung gelingen will. Aber überwinden lassen
sich diese Schwierigkeiten doch nur dadurch, dass man ihnen
festen Sinnes und unbewölkten Geistes entgegengeht. Je ge-
wissenhafter jeder Einzelne im Volke dieser Pflicht nach-
kommt, je besonnener er die Verhältnisse piüft, je entschlos-
sener er seine Ueberzeugung in Wort und That vertritt, um
so sicherer wird in diesem Volke der gesunde politische Sinn
398
Die Politik in ihrem Yerhältniss zum Recht.
und der opferbereite Gemeingeist zu einer Macht heranwachsen,
welche die Einseitigkeiten und In-thümer der Parteien zu be-
richtigen, welche auch solches, das nicht in der rechten Weise
begonnen wurde, zum Guten zu lenken, die ewigen Gesetze
der sittlichen Ordnung trotz aller Selbstsucht und Beschränkt-
heit der Menschen zum Siege zu führen die Kraft hat.
XI.
Das Recht der Nationalität und die freie Selbst-
bestimmung der Völker.
(1870.)
Als in dem letzten gi*oss6n Kriege die entscheidenden
3ge der deutschen Heere die Möglichkeit eröflftieten, Frank-
ch die Gebiete wieder abzunehmen, die es Deutschland zur
it seiner Unmacht geraubt und seitdem behalten hatte, trat
)sem Gedanken nicht blos in der ausserdeutschen Presse,
ideni auch in Deutschland selbst das Bedenken entgegen,
5S damit Rechte verletzt würden, deren Achtung auch von
n Feinde verlangt werden könne: theils das Recht der
tionalität, theils das Recht der Bevölkerung, ihre Staats-
rehörigkeit selbst zu bestimmen. So nebelhaft die Vorstel-
igen auch waren, auf welche dieses Bedenken sich stützte,
Hessen sich doch auch die Freunde der Annexion durch
äselbe nicht selten so weit in'e machen, dass sie um eine
Ltwort darauf verlegen waren. Bei den Gegnern ohnedem
m fast ohne Ausnahme eine so auffallende Begiiffsverwirrung
den Tag, dass es mir der Mühe werth schien, zur Aufkla-
ng der Fragen, um die es sich hier handelte, einen Beitrag
L geben. Ich versuchte diess in dem nachstehenden Artikel,
» in der zweiten Hälfte des Oktobers 1870 verfasst wurde
id unmittelbar darauf im Novemberheft der Preussischen
ihrbücher ei-schien. Jene Fragen sind nun hier allerdings
400 ^&s Recht der Nationalität
durchweg mit Beziehung auf die bestimmten Verhältnisse be-
handelt, weiche zu meiner Erörterung den nächsten Anlass
gaben; da ich mich aber zugleich bemühte, sie auf die all-
gemeinen rechtsphilosophischen Gesichtspunkte zurückzuführen,
aus denen sie allein entschieden werden können, darf ich viel-
leicht hoffen, dass die kleine Arbeit ihr Interesse auch jetzt
noch nicht ganz verloren habe. Andererseits wollte ich aber
das Gepräge nicht vei*wischen, welches ihr die Verhältnisse
und die Stimmung der grossen Zeit aufgedrückt hatten, in der
sie entstand. Ich lasse sie daher unverändert und nur mit
wenigen Anmerkungen vermehrt wieder abdiiicken.
Die Gesundheit der öffentlichen Meinung hat keinen schlim-
meren Feind, als die politische Phrase; und dieser Feind ist
doppelt gefährlich, wenn es eben keine ganz hohle und un-
wahre Phrase ist, um die es sich handelt, sondern eine halb-
wahre: eine solche, die das Urtheil der Menschen durch ihre
theilweise Richtigkeit besticht und sie üben-edet, das Falsche
mit in den Kauf zu nehmen, was sie von dem Wahren nicht
zu scheiden wissen. Es verhält sich damit, wie mit falschen
Münzen, Einen bleiernen Thaler nimmt niemand für einen
silbernen ; aber einen neusilbernen schon eher , wenn er mit
einigem Geschick versilbert ist. Solcher halbwahren Schlag-
wörter hat man sich neuerdings nicht selten bedient, und be-
dient sich ihrer fortwährend, um Deutschland, wenn es möglich
wäre, um die natürlichen Flüchte seiner heldenmüthigen An-
strengungen zu bringen ; und die obenbezeichneten sind es, die
uns am häufigsten in den Weg kommen, und die auch ohne
Zweifel bei manchen Personen den grössten Eindruck machen.
Ein praktischer Staatsmann lässt sich dadurch allerdings nicht
in-e führen 5 wer andererseits die Fragen des Rechts- und
Staatslebens mit wissenschaftlichem Vei-ständniss zu verfolgen
gewohnt ist, der wird gleichfalls im Stande sein, Wahrheit und
Irrthum auch hier auseinanderzuhalten; wie es ja überhaupt
niemals die wirkliche, auf den Grund der Sache vordringende
Wissenschaft ist , die sich mit dem praktischen Bedürfiiiss in
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 401
Widerepruch setzt, sondern immer nur jenes oberflächliche und
vermeintliche Wissen, jenes Halbwissen, von dem sich auch
solche, die sich für Praktiker |)ar excellence halten, und sie
oft gerade am meisten, imponiren lassen. Auf die Entschei-
dung der politischen Fragen, die uns zunächst vorliegen, wird
allerdings der Widerspruch keinen Einfluss ausüben, den demo-
kratische Versammlungen und socialistische Manifeste, belgi-
sche oder schweizerische Zeitungen im Namen der Nationalität
und der Volkssouveränetät dagegen erheben, dass Deutsch-
lothringen und das Elsass mit Deutschland wieder vereinigt
werden. Dazu ist die deutsche Politik in zu festen Händen:
wenn irgend einer unter den jetztlebenden Menschen, ist Graf
Bismarck der Mann, der sich durch Phrasen nicht beirren und
von der klar erkannten politischen Nothwendigkeit nicht ab-
lenken lässt. Aber doch ist es nicht ganz gleichgültig, ob
das deutsche Volk über die Gründe und die Berechtigung
dessen, was unfehlbar geschehen wird, sich vollkommen klar
ist, oder nicht; und wenn wir auch von diesem naheliegenden
praktischen Interesse ganz absehen, handelt es sich hier um
Fragen von einer so eingi-eifenden grundsätzlichen Bedeutung,
dass jede Erörteiung willkommen sein wird, welche zur Klä-
rang der Ansichten und zur Auflösung der Verwirrung etwas
beizutragen versucht, in der sich hier noch so manche zu be-
finden scheinen.
„Nationale Staatenbildung" rufen die einen, „Selbstbe-
stimmungsrecht der Völker" die andern, um Deutschland von
einer Ausdehnung seiner Grenzen auf Kosten Frankreichs zu-
mckzuhalten. Der erste von diesen Gmndsätzen soll uns die
Annexion des nordöstlichen Lothringens, der zweite auch die
des Elsass verbieten. Jener wird besonders von deutschen
Publicisten betont, die befürchten, unser Staatswesen könnte,
erst halbfertig, über seine natürlichen Grenzen hinausstreben
und sich einer ungesunden Vergrösserungssucht überlassen;
dieser theils von deutschen Demokraten, denen die Demokratie
mehr gilt als Deutschland, theils von der Presse solcher Län-
der, denen es unheimlich wird bei dem Gedanken, dass das
Zell er, Vorträge nnd Abhandl. 26
402 ^^ Recht der Nationalität
deutsche Volk den Willen habe und die Kraft fühle, seine ab-
gerissenen Glieder wieder zu sammeln und seinem nationalen
Organismus neu einzufügen. Beide Schlagwörter haben nun
neuerdings zwar von ihrem Zauber nicht wenig eingebüsst.
Beide sind ja vor allem von dem Frankreich des zweiten Kai-
serthums ausgegeben worden ; aber dasselbe Frankreich hat sich
durch diese Rücksichten weder von seinen Erobeinngsplanen
auf das halbdeutsche Belgien und das ganz deutsche linke
Rheinufer, noch von dem Schacher um Luxemburg, noch von
der Einverleibung Savoyens und Nizza's abhalten lassen, wel-
ches auch die neugebackene Republik seiner Selbstbestimmung
zurückzugeben durchaus keine Lust zeigt; und dass in dem
letzteren Fall die berüchtigte Abstimmungskomödie der An-
nexion vorangieng, hiess nur den Hohn zur Gewaltthat hinzu-
fügen. Von Mexiko und Cochinchina nicht zu reden. Aber
gegen die Geltung jener Gmndsätze würde diese thatsächliche
Verletzung derselben allerdings nicht viel beweisen ; die Frage
ist vielmehr, ob ihnen eine solche an und für sich, der Sache
nach, zukommt, und wie weit sie sich ei*streckt.
Einiges Bedenken erregt nun hier zunächst schon der
Umstand, dass die beiden Gesichtspunkte, von denen bald der
eine, bald der andere für unbedingt massgebend erklärt wiid,
nicht selten in Streit kommen. Ein solcher Fall liegt z. B.
in der Schweiz vor. Nach dem Grundsatz der Nationalität
müsste die deutsche Schweiz an Deutschland fallen, die fran-
zösische an Frankreich, die italienische an Italien; aber unter
den Bewohnern derselben sind vohl nur sehr wenige, die einer
solchen Zerreissung ihres Staatswesens nicht den äusserten Wi-
derstand entgegensetzen würden. Ebenso kann aber auch um-
gekehrt der Fall vorkommen, und er ist schon oft dagewesen,
dass Theile eines nationalen Gemeinwesens den Wunsch hegen,
sich von demselben zu trennen, sei es um einen eigenen Staat
zu bilden, sei es um sich einer fremden Nationalität anzu-
schliessen. Das neueste und grossartigste Beispiel dieser Art
bot der nordamerikanische Bürgerkrieg. Welche Rücksicht
soll nun in solchen Fällen der anderen weichen: die der
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 403
nationalen Zusammengehörigkeit, oder die der politisf^hen
Selbstbestimmung? Wie man sich auch entscheiden mag: so
viel liegt am Tage, dass nicht beide Gmndsätze zugleich un-
bedingte Geltung für sich in Anspruch nehmen können, denn
in dieser Unbeschränktheit würde jeder den anderen aufheben.
Kann es aber auch nur einer von beiden?
Fassen wir zuerst das Princip der Nationalität in's
Auge, so ist freilich unläugbar, dass die Stammesgemeinschaft
eines der allerwichtigsten von den Elementen ist, auf welchen
die Einheit und die Kraft der Staaten beniht. Alle Staaten
sind ursprünglich aus dem Stammesverband hei-vorgegangen,
und auch da, wo ein Volk im Laufe der Zeit anderweitige
Bestandtheile in sich angenommen hat, bildet doch immer
eine bestimmte Nationalität die Grundlage, auf welcher das
Volks- und Staätsleben mht, den Grundstock, dessen Ent-
wicklung durch fremde Pfropfreiser mitbestimmt sein kann,
dessen Tragkraft sich aber nicht entbehren lässt, und dessen
üi-spiüngliche Natur sich immer wieder, und gerade in den
tiefsten Beziehungen des Gemeinlebens am stärksten, geltend
macht. Schon an und für sich begründet die gemeinsame Ab-
stammung eine Gleichartigkeit der köi^erlichen und geistigen
Organisation, auf welcher die Gleichartigkeit der Denkweise,
der Interessen, der Einrichtungen und Gesetze sich natur-
gemäss aufbaut. Noch viel wichtiger sind aber die Beziehungen,
zu denen die weitere Entwicklung der Stammeseigenthüm-
lichkeit führt. Wie die Familienglieder durch das Familien-
leben und die Erziehung ein gleichai-tiges Gepräge erhalten,
so hat bei Stammesgenossen die Gleichheit der natürlichen
Bedingungen und der geschichtlichen Verhältnisse, unter denen
sie sich entwickeln, dieselbe Wirkung : es bildet sich jene Ver-
wandtschaft der Einzelnen in ihrer Vorstellungs - und Gefühls-
weise, in der Art, wie sie die Dinge ansehen und beui-theilen,
in den Neigungen, Gewohnheiten, Vonu-theilen und Leiden-
schaften, welche den Nationalcharakter ausmacht. Die wich-
tigste Trägerin dieser Verwandtschaft ist die Muttersprache;
denn das Woi-t ist es, durch welches die geistige Einwirkung
26*
404 ^a.s Recht der Nationalität
des Menschen auf den Menschen in erster Reihe vermittelt,
in dem uns alles, was wir von anderen lernen, mitgetheilt
wird; unsere psychische Gemeinschaft mit anderen ist an die
Möglichkeit der sprachlichen Verständigung mit ihnen geknüpft,
sie erstreckt sich daher nicht weiter, als diese Möglichkeit
geht; und wie jede Sprache der Ausdruck einer eigenthüm-
lichen Vorstellungs weise, einer bestimmten geistigen Daseins-
form ist, so wird auch jede nur die ihr entsprechende Form
des geistigen Lebens erwecken und nähi-en. Es ist desshalb
nicht blos eine äussere Unbequemlichkeit, die einem Volke
durch einen Sprachzwang auferlegt wird, wie wir ihn von
Russen gegen Polen, von Dänen. und Franzosen gegen Deut-
sche, von Wallonen gegen Flamänder haben üben sehen, son-
dern das Innerste seines eigenartigen Daseins wird dadurch
angetastet, zum Verkümmern und Verdursten vemitheilt; und
es ist nicht blos die Erschwerung des geschäftlichen Verkehrs
und des höheren Unterrichts, mit der mehrsprachige Staaten
zu kämpfen haben, sondern die Getheiltheit der Sprache bringt
einen inneren Gegensatz in das ganze Volksleben, sie erschwert
die Bildung eines einheitlichen nationalen Charakters um so
mehr, je antipathischer sich die verschiedenen Sprachen von
Hause aus sind, sie raubt dem Gemeinwesen eine von den
stärksten einigenden Kräften und nöthigt es, dem Zuge seiner
Theile zur politischen Verbindung mit Stammverwandten ent-
gegenzuarbeiten. Die Einheit der Sprache und der Abstam-
mung ist daher allerdings von der höchsten Bedeutung für das
Staatswesen, und man muss die menschliche Natur nicht kennen
und von der Geschichte nichts gelernt haben, wenn man meint,
es lasse sich aus vei-schiedenartigen Völkerschaften, die sich
an Zahl und politischer Kraft annähernd das Gleichgewicht
halten, oder aus Bruchstücken vei*schiedener Stämme ohne
festen nationalen Krystallisationskern ein Staat bauen; es
müssten denn einmal ganz ungewöhnliche Umstände diesen
Ausnahmsfall herbeiführen. Ein Reich lässt sich vielleicht
unter Umständen auf diese Art herstellen: ein Völkerhaufen,
welcher länger oder kürzer unter der Herrschaft eines Monarchen,
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 405
oder auch unter der einer Republik zusammengehalten wird;
aber ein Staat, ein einheitliches, von der freien Entwicklung
der verbundenen Volkskraft getragenes Gemeinwesen nimmer-
mehr. Wer je einen Beleg für diesen Satz braucht, der darf
nur nach OesteiTeich hinübersehen und sich fragen , wesshalb
sich dieses Land doch von der staatlichen Einheit in demselben
Mass entfeiTit hat, in dem es an verfassungsmässiger Freiheit
zunahm.
Aber so wahr alles dieses ist , so gewiss muss man sich
doch hüten, dass man nicht eine von den Bedingungen eines
kräftigen Staatslebens zur alleinigen mache. Die Nationa-
lität ist eines der festesten unter den Banden, welche den
Staat zusammenhalten, aber sie ist nicht das einzige. Die
Stammesgemeinschaft selbst verdankt ihre Bedeutung fllr die
Einheit des Staatslebens nur den geistigen und sittlichen Be-
ziehungen, die sie zwischen den Menschen begründet. Die
gleichen Beziehungen bilden sich aber auch aus anderen Ur-
sachen; und der Einfluss dieser letzteren kann unter Umstän-
den so stark sein, dass er die Gegenwirkungen der ei*steren
überwiegt. Nicht blos Abstammung und Sprache, auch Re-
ligion, Bildungsfonn, Verkehrsverhältnisse, wii-thschaflliche In-
teressen, auch das politische Leben, die politische Verfassung
und die politischen Bedürfnisse verbinden und trennen die
Menschen ; ursprünglich getrennte Theile der menschlichen Ge-
sellschaft können im Laufe der Zeit zusammenwachsen, durch
verjährte Gewöhnung und bedeutende geschichtliche Erinne-
rungen verknüpft werden, ursprünglich zusammengehörige durch
die gleichen Umstände sich fremd werden. Ihrer Nationalität
nach gehört die deutsche Schweiz zu Deutschland, so gut wie
Schwaben oder das badische Oberland; auch politisch war sie
mit dem Mutterlande bis gegen das Ende des Mittelalters ver-
bunden; diess hat aber nicht verhindert, dass sie sich losriss,
und mit Bevölkerangen von romanischer Abstammung eine
staatliche Verbindung eingieng, welche so fest geworden ist,
dass jetzt das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Eid-
genossen bei . der gi'ossen Mehrzahl der deutschen wie der
406 ^^ Recht der Natipnalität
romanischen Schweizer unläugbar weit stärker ist, als das der
ursprünglichen nationalen Beziehungen. Einen ähnlichen Ver-
schmelzungsprocess sehen wir in Belgien sich vollziehen ; wenn
auch hier allerdings der Erfolg noch unsicher ist und dadurch
in hohem Grad ei'schwei-t wird, dass das deutsche und das
i-omanische Element in diesem Staate sich der Zahl nach nahe
kommen , dass auf das letztere bisher Frankreich eine starke
Anziehung ausgeübt hat, das ei*stere in Zukunft von dem ge-
einigten Deutschland eine solche erfahren wird, dass endlich
dem numerisch überlegenen, aber in politischer und socialer
Beziehung zurückgesetzten deutschen Theil die Gleichberech-
tigung seiner Sprache bisher beharrlich verweigei-t wui'de.
Noch viel häufiger ist aber der Fall, dass mit einer stamm-
verwandten Mehrzahl eine ihr stammesfi*emde Minderheit sich
zu Einem Staatswesen verbunden hat; ja dieser Fall ist so
häufig, dass es in unserer Zeit fast keinen grösseren Staat
gibt, der nicht solche fremde Elemente in bedeutender Aus-
dehnung in sich aufgenommen hätte; und wenn da und dort
die politische Einheit allerdings dadurch nothlitt, ist sie doch
anderswo durch dieses Verhältniss theils gar nicht, theils nur
unerheblich geschädigt worden: nicht blos da, wo die fremden
Elemente in die eigene Stammesart aufgenommen oder zu
einer neuen Nationalität mit ihr vei*schmolzen wurden, wie das
fränkische in Frankreich, das französisch -normannische in
England, das slawische im östlichen und nördlichen Deutsch-
land, sondern auch, wo sie sich in ihrer Eigenthümlichkeit er-
hielten. England z. B. hat zwar mit den Irländern fortwährend
seine Noth, weil hier die politische Einigung durch den con-
fessionellen Gegensatz und durch die Nachwehen der Un-
gerechtigkeiten und Missgiiffe erschwert wird, welche von den
angelsächsischen Eroberem Jahrhunderte lang gegen die ur-
sprünglichen Landeseinwohner begangen wurden ; aber in Wales
und in Hochschottland ist dieselbe durch die gälische Natio-
nalität nicht im geringsten verhindert worden. Frankreich hat
das Elsass kaum 200 Jahre besessen, und trotz aller Vernach-
lässigung, allem kirchlichen Druck und allem Sprachzwang,
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 407
war die Mehrzahl der Elsässer, während sie ihr alemannisches
Deutsch beibehielt, seit der Revolution zu guten fi*anzösischen
Bürgern geworden. Für Preussen waren die Polen in West-
preussen, Posen und Schlesien noch vor 20 Jahren eine ernst-
liche Verlegenheit, heutzutage sind sie es nicht mehr. In
Nordamerika leben Millionen von Deutschen, und sie gehören
zu den tüchtigsten und zuverlässigsten Bürgern der gi-ossen
Republik. Die nationale Grundlage eines Staatswesens schliesst
mit Einem Wort eine Beimischung von Theilen einer anderen
Nationalität nicht aus, und wenn dem Gegensatz der Nationa-
litäten in den sonstigen Beziehungen des Staatslebens zusam-
menhaltende Kräfte und Interessen von ausreichender Stärke
gegenüberetehen, wird seine Einheit und Gesundheit durch ihn
nicht gefährdet. Gerade die neueren Staaten sind viel weniger,
als die alten , an die Nationalität gebunden und auf sie be-
schränkt; sie haben an dei-selben wohl ihre natürliche Grund-
lage, aber die Mischung der Stämme in den heutigen Kultur-
ländern, die ausserordentliche Steigeiung und Erleichterung
des Verkehre, der Universalismus unserei* Religion, der Kosmo-
politismus unserer Bildung haben die Ausschliesslichkeit der
alten Nationalstaaten gesprengt und die Möglichkeit geschaffen,
dass Angehörige verschiedener Stämme und Sprachgebiete
gleichberechtigt in Einem Staate zusammenwohnen und als
Bürger dieses Staates sich wohl fühlen. Wenn sich daher ein
Theil einer Nation von dem Hauptstamm getrennt und sich
sein eigenes Staatswesen eingerichtet hat, oder wenn er mit
einem Volke von anderer Abstammung staatlich verbunden ist,
so gibt dieser Umstand für sich genommen den Stammesver-
\7andten desselben noch kein Recht, ihn um seiner Nationalität
willen für sich in Anspruch zu nehmen und gewaltsam zu sich
herüberzuziehen; dieses Recht könnte sich vielmehr, wenn es
überhaupt vorhanden ist, nur darauf gründen, dass aus der
Abtrennung jenes Gliedes von seinem Volksköi'per für jenes
oder für diesen Uebelstände erwachsen, die auch abgesehen von
der Quelle, aus der sie entspmngen sind, zur Selbsthülfe be-
Techtigen würden. Ebensowenig kann aber auch umgekehit
408 I>as Becht der Nationalität
einem Volke blos auf das Princip der Nationalität hin die Be-
fugniss bestritten werden, eine stammesfremde Bevölkenmg in
seinem Staatsverband festzuhalten oder in denselben aufzupeh-
men, wenn es dafür anderweitige Gründe bat, die schwer
genug wiegen, um die Schwierigkeiten zu überwinden, mit
welchen die Verbindung verschiedener Nationalitäten in Einem
Staatswesen, wie diess nicht verkannt werden darf, immer zu
kämpfen hat.
Nach den gleichen Gesichtspunkten ist auch die Frage
nach der Vereinigung des Elsasses und Deutschlothringens mit
Deutschland zu beurtheilen. Die deutsche Nationalität der
Elsässer wäre hiefÜr allerdings, für sich allein genommen, noch
kein genügender Bechtsgrund. Die deutschen Schweizer stehen
uns ihrer Sprache und Abstammung nach ebenso nahe, in
ihrem Geistesleben wohl noch näher als die Elsässer; und
doch würde, auch wenn die Sache weniger unausführbar wäre,
als sie ist, kein uiiheilsfähiger Mensch in Deutschland an einen
Eroberungskrieg zur Annexion der deutschen Schweiz denken.
Nicht einmal der Umstand ist unbedingt entscheidend, dass das
Elsass seiner Zeit durch die empörendsten Mittel einer ge-
waltthätigen und gewissenlosen Politik von Deutschland los-
gerissen worden ist. Diese Thatsache war allerdings im höch-
sten Grade geeignet, unseren Schmerz um den Verlust des
schönen Grenzlandes zu schärfen und den Wunsch nach seiner
Wiedererwerbung immer neu anzufachen. Aber trotzdem würde
sich Deutschland in jenen Verlust schliesslich ebenso gefunden
haben, wie es sich in den der Schweiz und Hollands gefunden
hat, wenn es sich hier nur um etwas in der Vergangenheit
liegendes, nicht um eine fortwährende Gefahr für die Gegen-
wart und die Zukunft handelte. So wenig auch die Verträge
von 1815 unseren Wünschen und Interessen entsprachen: nach-
dem sie einmal geschlossen waren , würden wir unserei'seits
sie gehalten haben, wenn Frankreich sie gehalten hätte. Wenn
es die Elsässer zufrieden waren, Franzosen zu heissen, und
wenn Deutschland aus diesem Verhältniss keine Gefahr drohte^
so hätten wir nicht das Recht gehabt, und würden auch nicht
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 409
den Willen gehabt haben, zur Wiedergewinnung ihres Landes
den Frieden mit Frankreich zu brechen. Aber wir haben ihn
ja auch nicht gebrochen, sondern Frankreich ist es, das ihn
gebrochen hat. Frankreich hat den alten Vertrag zerrissen;
unsere Sache ist es, nach den heldenmüthigen Anstrengungen,
den furchtbaren Opfern, den beispiellosen Erfolgen unserer
Heere zu entscheiden , unter welchen Bedingungen wir einen
neuen mit ihm schliessen wollen. Wenn Wir jetzt auf die alte
Streitfrage zuiiickkommen , wenn wir erklären, das hundert-
jähiige Unrecht müsse gesühnt, die Glieder unseres Volkes,
die durch biiitale Gewalt und schnöden Verrath von ihm ab-
gerissen wurden, müssen wieder mit ihm vereinigt werden, so
überschreiten wir unser Kecht auch nicht um ein haarbreit,
und wir würden es selbst dann nicht überschreiten, wenn die
Fortdauer des bisherigen Besitzstandes für die Sicherheit
Deutschlands weniger gefährlich wäre, als sie diess in Wirk-
lichkeit ist. Selbst in diesem Fall würde es sich nicht um
öine Erobenmg handeln, die keinen weiteren Eechtsgrund für
uch anführen könnte, als das Princip der Nationalität, sondern
am die Zurückforderung eines Gutes, dessen unrechtmässiger
Besitzer die Bedingungen nicht erfüllt hat, unter denen wir
ihn im Besitz seines Baubes gelassen hatten. Die Nationalität
ist nicht der entscheidende Kechtstitel, auf dem Deutschlands
Anspi*uch an das Elsass ruht; wenn sie auch immerhin eine
der gewichtigsten unter den Bücksichten ist, die es bestimmen
müssen, auf jenen Anspruch um keinen Preis zu verzichten,
Qachdem ihm anderweitige Gründe das Eecht, ihn zu erheben,
gegeben haben.
Wäre aber die deutsche Nationalität der Elsässer für sich
allein kein ausreichender Giund, sie für Deutschland zuiiick-
zufordem, so wird auch umgekehrt die französische Nationalität,
oder richtiger: die französische Sprache der Lothringer kein
Grund sein, welcher die Erwerbung Deutschlothringens zum
voraus unmöglich machte. Es ist an sich nicht wünschens-
vrerth für Deutschland, sich mit einer solchen, dem deutschen
Wesen entfi-emdeten Bevölkerung zu belasten; es müssen ge-
410 ^fts Recht der Nationalität
i
nichtige Giiinde sein, die ihm diesen Entschluss aufdriDgen,
wenn er in seinem Interesse liegen soll ; aber dass es zu die-
ser Aneignung eines Landstrichs, dessen grösserer Theil ausser
seinem Sprachgebiet liegt, kein B echt habe, kann man nicht
^agen, und am allerwenigsten können es die sagen, welche es
ganz in der Ordnung gefunden haben, dass die Elsässer zu
Frankreich gehörten, und welche diess wohl gar auch femer
in der Ordnung finden würden. Wenn alle anderen Staaten
einzelne ihrem Hauptstamm fremde Bevölkerungen in sich
haben, so kann diess unmöglich Deutschland allein verboten
sein; das fi-emde Volk , das uns durch einen räuberischen
TJeberfall die Waffen zur Nothwehr in die Hand gedrückt hat,
kann nicht den Anspruch machen, blos desshalb, weil es ein
fi-emdes ist, gegen jede Abtretung der Gebietstheile geschützt
zu sein, deren wir bedürfen , um uns für die Zukunft vor sei-
ner Baubsucht zu sichern. Ob Metz und die nordöstliche Ecke
von Lothringen ein solches Gebiet ist, haben wir hier nicht
zu untei*suchen ; so sehr es auch selbst dem Laien einleuchtet,
dass die Feste, deren Bezwingung unserem Heere diese un-
sägliche Mühe und diese schweren Opfer gekostet hat, in den
Händen des Feindes eine grosse Gefahr, in den unsrigen ein
unschätzbares Bollwerk für Deutschland sein muss, und so be-
deutend in beiden Beziehungen der Umstand in's Gewicht fällt,
dass duixb den von Frankreich eneichten Verzicht auf Luxem-
burg die deutsche Vertheidigung gerade an dieser gefährlichen
Stelle geschwächt wurde. Hier war nur zu zeigen, dass, jenes
vorausgesetzt, aus der französischen Nationalität der Lothringer
(so weit diese überhaupt geht) sich kein Eechtsgi'und gegen
die Besitznahme jenes Landstrichs herleiten lässt. Dass aber
wenigstens die politische Zweckmässigkeit sie verbiete, glauben
wir nicht. Mag man auch die Bedeutung der nationalen Ein-
heit für die Staaten noch so hoch steUen, so gilt doch dieser
Grundsatz immer nur im ganzen und gi'ossen. Einzelne Bei-
mischungen fremden Landes und Blutes kann, wie gesagt, kein
Staat vermeiden , die Grenzen zwischen den Nationalitäten
lassen sich nie ganz schaif ziehen ; und es ist diess auch so
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 411
mig ein Unglück, dass vielmehr gerade diese Veimischung
T Stämme dazu dient, ihre Ausschliesslichkeit zu mildein,
re gegenseitigen Voruilheile zu berichtigen, die Einseitigkeit
les auf sich beschränkten Volksthums zu ergänzen. Nur
.rauf kommt es an, dass das richtige Verhältniss hierin nicht
»erschritten, dass einem Staatswesen an fremder Nationalität
cht mehr aufgebürdet wird, als es ohne Schaden für seine
nheit, seine Selbständigkeit und die Eigenartigkeit seines
3bens eintragen kann. Wenn in einem Staat ungleichartige
id sich äbstossende Nationalitäten ihrer Zahl nach sich nahezu
eich stehen, wie in Belgien, so können ihm daraus allerdings
5hr ernste Gefahren erwachsen. Wenn mit einem überwiegend
ermanischen und protestantischen Lande eine compacte eifrig
atholische celtische Bevölkerung von mehreren Millionen ver-
unden ist, wie in Grossbritannien, so ist diess begreiflicher-
weise eine Quelle fortwährender Misstände. Auch ein solches
'erhältniss der Nationalitäten, wie es die Schweiz aufweist,
t an sich selbst immer noch sehr ungünstig, und die Unbe-
lemlichkeiten, die es mit sich bringt, und die sich auch bis-
>r schon in vielen Fällen recht fühlbar gemacht haben, können
ir durch so ganz eigenthümliche Umstände, wie die republi-
inische Verfassung der Schweiz, mitten unter monarchischen
aaten, und ihre von Europa verbürgte Neutralität, aufgewogen
irden. Aber wenn im deutschen Staat neben 39 Millionen
futschen in einer Grenzprovinz einige hunderttausend fran-
sisch Redende von gemischtem Blut wohnen, so kann seine
litische Einheit und seine nationale Eigenthümlichkeit da-
JTch unmöglich gefährdet werden; und ebensowenig werden
derei'seits jene die Verbindung mit einem Volke unerträglich
den können, dessen Mehrzahl zwar eine andere Sprache, als
i selbst, redet, das aber weder ihrer Sprache noch ihi'er
itionalität überhaupt zu nahe tritt, und sie in die volle Gemein-
:iaft seines eigenen Staatswesens aufnimmt. Was sonst überall
5glich ist, wird auch in Deutschland nicht unmöglich sein,
d wenn Frankreich das deutsche Elsass Jahrhunderte lang
sessen und sich dabei ganz wohl befunden hat, werden auch
412 ^^ Kecht der Nationalität
wir ein kleines Grenzland mit französischer Sprache besitzen
können, ohne dass wir daran zu Ginnde gehen.
„Wenn aber die Elsässer und die Lothringer nicht deutsch
werden wollen? Ist es denn erlaubt, über Völker, selbst
gegen ihren Willen, zu verfügen, wie über eine Schafheerde?
Heisst das nicht in die schlimmsten Ueberlieferungen ver-
gangener Zeiten zui-ückfallen, die angeborenen Menschenrechte,
das unveräusserliche Selbstbestimmungsrecht der Völker mit
Füssen treten ? " Dieses Thema ist vorzugsweise von der ausser-
deutschen, der englischen, der schweizerischen, und vor allem
natürlich der französischen Presse mit Vorliebe ausgefohrt
worden; auch die deutsche Demokratie hat aber bekanntlich
in denselben Ton eingestimmt, wenn auch meistens mit der
ZuiUckhaltung, die den einen durch äussere Rücksichten, den
andem, was hiemit ausdrücklich anerkannt sei , durch die un-
zerstörbai'e Macht ihres eigenen patriotischen Gefühls auferlegt
war. Seitdem man vollends in Frankreich den republikanischen
Mantel umgehängt hat, ist bei manchen, zumal in der Schweiz,
in dieser Beziehung unverkennbar ein Umschwung eingetreten,
der ihrem politischen Charakter zu keiner grösseren Ehre ge-
reicht, als ihrem politischen Verstände. Man schwärmt für
den Namen der Republik, ohne Rücksicht darauf, was dahinter
steckt; man faselt von Verhinderung der fi'eien Völker, wäh-
rend gerade von den republikanischen Behörden und von dem
Pöbel, vor demsie kriechen, unsere friedlichen Landsleute zu
vielen Tausenden veijagt, misshandelt, geplündert, bei Ver-
brechern in Gefängnissen hemmgeschleppt wurden ; man feiert
die Befreiung eines Volkes, das seiner überwiegenden Mehr-
zahl nach von der Republik nichts wissen will , während es
von Parteien und Pai-teiführern terrorisii-t wird; man steDt
sich an, als ob die Sittlichkeit wunder wie viel gewonnen
hätte, wenn die officiellen Lügen von Gambetta unterschrieben
sind, statt von Palikao, und die Freiheit wunder wie viel, wenn
dem souveränen Volke im Namen der Republik, statt in dö»
des Kaiserreichs , der Mund zugehalten wird. Aber auch sol-
chen, die von der Hohlheit dieses Treibens sich femhaltefl,
und die freie Selbstbestiinmang der Völker. 413
kann die Sache selbst immerhin ein Bedenken erregen; und
e vollständiger sie es zugeben , dass es ein mchloser Eaub-
kiieg war, den das kaiserliche Frankreich gegen uns unter-
aommen hat, um so nöthiger mag es ihnen vielleicht scheinen,
ms zu warneD , dass wir die Grenzen der Nothwehr nicht
Iberschreiten und uns nicht auf die Wege einer Eroberungs-
30litik veriiTon , die nicht blos eine Geissei für andere , son-
Jem immer auch, wie eben das Beispiel Frankreichs zeigt, ein
Fluch für das eigene Volk ist.
Solchen wohlmeinenden, wenn auch oft etwas unberufenen
RÄthgebern Hesse sich nun zunächst schon die Frage entgegen-
bialten, wie denn Lothringen und das Elsass an Frankreich
jekommen sind? und wie das linke Eheinufer an Frankreich
gekommen wäre, wenn die französischen Waffen so glänzende
Erfolge gehabt hätten, wie die deutschen? Auf die freie
Selbstbestimmung der Bevölkerung ist dort bekanntlich und
wäre ganz sicher auch hier nicht die geringste Rücksicht
genommen worden. Nun wird freilich niemand, der es mit
Deutschland wohl meint, ihm den Rath geben, dass es sich
die Politik der Treulosigkeit und der Gewaltthat, die blutigen
Kriege, die scheusliche Verwüstung blühender Landstriche, die
heimlichen Ränke und die offenen Raubzüge zum Vorbild
nehme, denen Ludwig XIV. und Heinrich U. den Besitz jener
deutschen Reichslande verdankten, oder dass es zur Erweite-
rung seiner Grenzen Eroberungskriege unternehme, wie der,
■welchen Frankreich eben jetzt nach dem Vorbild des ersten
KaiseiTeichs vom Zaune gebrochen hat. Aber es ist zweierlei :
den friedlichen Nachbar berauben, und dem Räuber einen
Baub abnehmen, der ihm überdiess noch die Mittel zu weiteren
Käubereien gewährt. Jenes hat Frankreich gethan, dieses
wollen wir thun; und es müsste um das Völkerrecht eigen-
thümlich bestellt sein, wenn wir dazu erst diejenigen um Er-
laubniss bitten müssten, die durch ungerechte Gewalt uns
entfremdet und selbst in den Krieg mit uns verwickelt, im
?Bgenwärtigen Augenblick begreiflicherweise nur die siegreichen
^einde, nicht die künftigen Mitbürger in uns zu sehen wissen.
414 ^AS Hecht der Nationalität
Sollte dieser Ginindsatz gelten, so brauchte der Eroberer seinen
unrechtmässigen Besitz nur lange genug in Händen zu haben,
er dtiifte nur alle die Mittel anwenden, durch die man eine
widerspenstige Bevölkerung mürbe macht oder besticht, sie im
Nothfall vernichtet oder austreibt, und seine Usurpation wäre
geheiligt. Wanim sollte dann aber einem andern nicht das-
selbe erlaubt sein? warum sollte nicht auch er sagen können:
lasst mich einmal gleichfalls den Versuch machen; ich will
dieses Land vorerst nehmen, in einem Menschenalter werde
ich es dann schon so weit bringen , dass ein Plebiscit ftr
mich entscheidet ? Wird die rechtliche Möglichkeit einer Ge-
bietserwerbung , zu welcher die Zustinunung der Bevölkerung
fehlt, schleicht weg geläugnet, so wären Elsass und Lothring^
noch als deutsche Gebiete zu betrachten , denn sie sind noto-
risch gegen ihren Willen mit Frankreich vereinigt worden;
genügt es umgekehrt, wenn diese Zustimmung nur irgend ein-
mal, sei es auch noch so lange nach der ersten Erwerbung^
eingeholt wird, nun dann muss es auch Deutschland freistehen,
sich vorläufig wieder in den Besitz des geraubten Gutes zu
setzen, und sich der Hofihung zu getrösten, dass die Zeit schon
kommen werde , in der seine neuen Bürger sich mit einem
Verhältniss versöhnt haben , in welches vereinst allerdings die
Mehrzahl von ihnen ohne Zweifel nur widerwillig eintritt
Schon diese vorläufige Erwägung kann darthun , dass der
Grundsatz, den man uns als unbestreitbare Wahrheit verkün-
digt, keineswegs unzweifelhaft feststeht, dass er jedenfalls m&
genaueren Bestimmung in hohem Grade bedürftig ist Wir
müssen ihn aber noch etwas eingehender prüfen.
Vei-suchen wir es zunächst, die Frage selbst richtig n
stellen. Ein Land, sagt man, kann nicht ohne die Einwilligoog
seiner Bewohner von dem Staate , zu dem es bis dahin ge-
hörte, losgetrennt oder einem anderen einverleibt werden;
denn die Menschen sind keine Sachen, es kann über sie nicht
von Dritten, ohne ihre eigene Zustimmung, verfügt werden.
Man setzt also voraus, dass es sich hier unmittelbar um ^
Verfügung über die Menschen, als solche, handle; dass abo
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 415
z. B. die Bestimmung des Friedensvertrags, welche Deutsch-
land verlangt, ihrem eigentlichen Sinne nach lauten müsste:
„Die sämmtlichen Bewohner von Elsass und Deutschlothringen
gehören in Zukunft zu Deutschland.^ Allein diess ist eine
ungenaue und iiTefiihrende Vorstellung. Wenn ein Landes-
theil von einem Staat an einen andern abgetreten wird, bilden
den direkten Gegenstand dieser Abtretung nicht die Men-
schen, welche in diesem Lande wohnen, sondern das Land
selbst, oder genauer die Landeshoheit, die Tenitorial-
gewalt, Dieses beides ist aber nicht dasselbe, weder formell^
nach seinem rechtlichen Charakter, noch materiell, nach seinen
Wirkungen. Die Landeshoheit ist das Ganze der Rechte,
welche der Staatsgewalt als solcher in einem Lande zustehen ;
das Subjekt dieser Rechte, der Träger der Landeshoheit, sind
nicht die Bewohner dieses Landes als Einzelne, sondern der
Staat, zu dem es gehört. Wenn daher die Landeshoheit über
ein bestimmtes Gebiet von einem Staat an einen andern über-^
geht, so kommt der letztere zwar in den Besitz aller der
Rechte, welche der ei-stere bisher in diesem Gebiet ausgeübt
hat; aber man kann desshalb doch nicht sagen, dass die Be-
wohner dieses Landes, sondern immer nui*, dass dieses Land
in seine Gewalt komme. Jenes wäre nur dann der Fall, wena
die Bewohner an die Scholle gebunden wären; ist es ihnen
dagegen fi'eigestellt, ihi*en bisherigen Wohnsitz zu verlassen,
wofern sie sich dem neuen staatsrechtlichen Verhältniss nicht
unterwerfen wollen,*) so ist ihr Verbleiben in dem Lande^
das seine Herrschaft gewechselt hat, immer als ein freiwilliger
Akt zu betrachten, wie gewichtig auch die Gründe des Inter-
esses oder der Anhänglichkeit an die Heimath oder welche
sonst sein mögen, die ihnen diesen Akt anrathen. Es ist da-
her nicht richtig, dass in einem solchen Fall über Menschen
in derselben Weise verfügt werde, wie über Sachen, und die
Frage ist nicht die, ob es erlaubt ist, sich eines Volks oder
*) Wie diess ja nach der Annexion von Elsass • Lothringen wirklich,
geschehen ist.
416 ^^ Recht der Nationalität
Volkstheils gegen seinen Willen zu bemächtigen , sondern ob
ein Staat die Landeshoheit über ein gegebenes Gebiet ohne
die Zustimmung seiner Einwohner erwerben kann.
Zur Beantwortung dieser Frage reicht man aber nicht
mit allgemeinen Betrachtungen über angeborene Menschen-
rechte und öffentliche Moral aus, sondeni sie ist aus der eigen-
thümlichen Natur des Rechtsverhältnisses zu entscheiden, um
das es sich hier handelt. Man kann auf's festeste überzeugt
sein, dass Personen nicht als Sachen behandelt werden dürfen,
und dass es desshalb unzulässig ist, die Kriegsgefangenen oder
die Einwohner einer eroberten Stadt zu Sklaven zu machen;
man kann mit vollkommener Deutlichkeit einsehen, dass der
I Staat nicht allein das Interesse , sondeni auch die Pflicht hat,
seine Angehörigen durch ihren eigenen guten Willen an sich
zu fesseln, dass man kein Volk auf die Dauer in ein Staats-
wesen hineinzwängen kann und darf, dem es nur mit Wider-
willen angehören könnte und durch seine Widei-spenstigkeit
fortwährend Verlegenheiten bereiten würde; und man kann
dennoch der Meinung sein, die Landeshoheit über einzelne
Theile eines Staatsgebiets oder auch über das Ganze könne
unter Umständen ohne die vorgängige Zustimmung seiner Be-
wohner von ihrem bisherigen Inhaber auf einen neuen über-
gehen. Das Interesse der letzteren wird allerdings durch
eine solche Verändemng in der Regel aufs tiefete beillhrt
werden; aber die Rechte, um deren üebertragung es sich
handelt, stehen nicht ihnen zu, sondern dem Staatsganzen, dem
sie angehören; wenn daher dieses durch seine gesetzlichen
Organe jene Rechte an einen anderen Staat abtritt, oder wenn
es ihm durch seine Handlungen einen ausreichenden Rechts-
grund gibt, um sich derselben zu bemächtigen , so müssen sie
sich die Folgen dieser staatlichen Akte gerade so' gut gefaDen
lassen , wie die aller andern. Es kann dem Einzelnen auch
sehr unangenehm sein , wenn seine Regierung das Land mit
Schulden überbürdet; aber wenn er nicht auswandeni willt
muss er die nachtheiligen Folgen dieses Leichtsinns mitti-agen.
Es kann eine Bevölkerung in das tiefste Elend stürzen, wenn
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 417
ein unbesonnener Krieg die feindlichen Heere über die Grenzen
fühil;; aber sie kann sich der Kriegslast nicht durch die Ein-
rede entziehen, dass man sie vor der Kriegserklärung nicht
gefragt habe. Die Gültigkeit der Verträge, die ein Staat ab-
schliesst, die rechtlichen Folgen, die seine Handlungen für sein
Verhältniss zu Dritten nach sich ziehen, können nicht von der
Zustimmung der Einzelnen abhängig gemacht werden, die bei
denselben mit ihrem Interesse 'betheiligt sind. Was die ver-
fassungsmässigen Organe eines Staats thun und beschliessen,
das ist als That und Beschluss des Staatsganzen zu betrachten,
dem der Einzelne als Bürger dieses Staats sich nicht entziehen
kann. Nicht anders verhält es sich auch im vorliegenden Fall.
Glaubt die Regierung, die einen Theil ihres Gebiets abtritt,
oder die einen Krieg unternimmt, welcher zu einem Gebiets-
verlust führen kann , der Zustimmung ihres Volkes zu bedür-
fen, — wie diess allerdings ganz in der Ordnung ist, — nun
dann ist es ihre Sache, sich dieser Zustimmung in der ver-
fassungsmässigen Weise zu versichern; der Staat, welcher die
Gebietsabtretung annimmt, oder aus dem eingetretenen Kriegs-
zustand die dem Kriegsrecht entsprechenden Folgen ableitet,
braucht dazu wohl die Zustimmung seines eigenen, aber nicht
die des fremden Volkes. Auch der Staat aber, dessen Gebiet
abgetreten werden soll, wird seine Entschlüsse nicht davon
abhängig machen können, ob die Bewohner des abzutretenden
Landestheils ihrer Mehrzahl nach denselben zustimmen; —
bei einem solchen Verfahren könnte dasjenige, was für das
Ganze unbedingt nothwendig ist, durch den Widerspruch eines
Bmchtheils vereitelt werden; — sondern wenn das Volk als
Ganzes durch die Mehrheit seiner Stimmen oder seiner Ver-
treter die Massregel gutheisst, wird er verlangen, dass auch
jeder Theil sich ihr füge, wie empfindlich sie ihm vielleicht
an sich selbst sein mag. Diess ist Selbstbestimmung des
Tolkes; das andere wäre ein der Minderheit eingeräumtes
Teto gegen die Beschlüsse der Mehrheit; eine Einrichtung,
die zwar von manchen angeblichen Demokraten und Republi-
kanern im vorliegenden Fall ungestüm verlangt wird, die aber
Zell er, Vorträge und Abhandl. 27
418 ^^ Recht der Nationalität
ü-otzdem von einer wirklichen Selbstregierung der Völker,
einer wirklichen Demokratie, das gerade Gegentheil ist.
Es wird diess noch deutlicher werden, wenn wir die ver-
schiedenen Bedingungen in's Auge fassen, unter denen über-
haupt ein Land oder Landestheil an einen anderen Staat über-
gehen kann. Diess geschieht nämlich entweder freiwiUig,
durch einen Vertrag, welchen die betreffenden Staaten mit
einander schliessen; oder durch Zwang ohne Vertrag, dmxh
Erobei-ung; oder endlich durch einen ei-zwungenen Vertrag,
wie bei einem dem einen Theil abgenöthigten Friedensschluss,
Aber an die Zustimmung der Bevölkemng , deren Wohnsitz
einer neuen Landeshoheit untei*worfen werden soll, ist diese
Verändeining der Natur der Sache nach nur in dem Fall ge-
bunden, der in der Wirklichkeit jedenfalls sehi* selten vor-
kommt, wenn ein selbständiges Volk sich freiwillig entschliesst,
mit seinem ganzen Gebiet in einen fremden Staat einzutreten;
weil eben in diesem Fall jene Bevölkerung zugleich das Volk
ist, mit dem dieser Staat seinen Vertrag schliesst. Damit
z. B. der Luxemburger Handel vom Jahr 1867 perfekt werden
konnte, wäre freilich die verfassungsmässige Zustimmung der
luxemburgischen Volksvertretung nöthig gewesen. In allen
anderen Fällen dagegen ist diese Zustimmung keine unerläss-
liche Bedingung des neuen staatsrechtlichen Verhältnisses.
Setzen wir nämlich für's ei-ste, dass zwei Staaten in ihrem
beiderseitigen Interesse, etwa zur Auflösung eines Condominats
oder zur Gewinnung bequemerer Grenzen, sich über einen Ge-
bietstausch verständigen , so wird zwar jeder von beiden den
Wunsch haben, dass seine bisherigen Unteilhanen mit diesem
Tausche zufrieden seien; wenn sie aber diess nicht sind, wenn
sie in ihren bisherigen Verhältnissen zu bleiben verlangen, wie
diess auch wirklich bei solchen Veranlassungen vermöge der
Kraft der Gewohnheit in der Regel geschieht , so lässt man
sich dadurch von der Ausführung dessen, was man für zweck-
mässig erkannt hat, nicht abhalten. Man sucht seinen An-
gehörigen den Uebergang in die neuen Verhältnisse möglichst
zu erleichtem, man sucht ihre Wünsche zu berücksichtigen,
und die freie Selbetbestimmung der Völker. 419
man sucht sie zu belehren; aber man räumt ihnen nicht das
Recht ein , das , was die Gesammtheit in ihrem Interesse be-
schlossen hat, durch ihren Widerspruch zu verhindeni; man
erkennt den Grundsatz nicht an , dass jede Gebietsabtretung
an die Zustimmung der betreffenden Bevölkerung geknüpft
sei, und man kann ihn nicht anerkennen, wenn es nicht in die
Hand einer vielleicht winzigen Minorität gelegt sein soll, dem
Staate unter Umständen die nothwendigsten und gemeinnützig-
sten Massregeln unmöglich zu machen. Auch die bekannten
neueren Vorgänge, das Verfahren Louis Napoleon's und Victor
Emanuel's, kann man dem nicht entgegenhalten: wenn sie es
zweckmässig fanden, ihre neuen Erwerbungen durch Volks-
abstimmungen bestätigen zu lassen, so folgt nicht, dass auch
alle anderen verpflichtet sind, diesem Beispiel zu folgen. Bei
Nizza und Savoyen ohnedem war die Abstimmung eine blosse
Formalität: wäre das Ergebniss anders ausgefallen, so würde
man schon die Mittel gefunden haben, es zu berichtigen.
Eine zweite Art der Gebietserwerbung ist die Erobemng.
Dass auch diese Erwerbungsart eine rechtmässige sein könne,
wird freilich bestritten. Man muss die Thatsache einräumen,
dass es kaum einen Staat gibt, der nicht einen Theil seines
Landes auf diesem Wege gewonnen hätte; aber man findet,
iass diess nur in einer barbarischen Vorzeit für ehrenhaft imd
erlaubt habe gelten können ; wogegen das Rechtsgefühl unseres
Jahrhunderts diesen Besitztitel mit Enti-üstung zurückweise.
Allein hier scheint eine kleine Begriffsverwechslung mitunter-
nilaufen. Die Thatsache der Eroberung als solche kann frei-
lich keinen Rechtsanspruch begründen, denn Macht ist nicht
Recht; aber die Erobemng kann die Form sein, unter der ein
Anspruch seine Befiiedigung findet, dessen rechtliche Begi-ün-
iung anderswo liegt. Wenn ein Staat seinen schwächeren
Nachbar tiberfällt und ihm sein Land raubt, so ist diess frei-
lich keine rechtmässige Eigenthumserwerbung. Aber wenn ein
Staat von seinem Nachbar ohne jeden Rechtsginind angefallen
srird, und es gelingt ihm, den Angreifer zurückzuschlagen und
ias Land desselben in Besitz zu nehmen: soll er dann nicht
27*
420 I^äs Eecht der Nationalität
das Recht haben, sich durch seine Einverleibung gegen die
Gefahren zu schützen, die ihm sofort wieder drohen würden,
wenn er es dem besiegten Feinde zurückgäbe ? Die Umstände
können so liegen, dass diese Besitzergi-eifung vollkommen be-
rechtigt, ja ohne die augenscheinlichsten Gefahren und Nach-
theile gar nicht zu umgehen ist. Aber von einer Befragung
der Bevölkerung kann doch in diesem Fall nicht die Rede
sein. Entweder wäre sie ohne alle reale Bedeutung, wenn
nämlich Massregeln getroffen wären, um den Befragten keine
Wahl zu lassen; — eine solche Volksabstimmung wäre aber
doch unstreitig weit schlimmer, als gar keine; — oder sie
wäre eine unverzeihliche Thorheit, ein Selbstmord; denn wie
lässt sich denken , dass ein Volk sich dem Feinde , den es so
eben auf Tod und Leben bekämpft, von dem es alle üebel
des Krieges und alle Demüthigung einer Niederlage erlitten
hat, freiwillig unterwerfen, dass es sich durch eine wirklich
freie Abstimmung dem feindlichen Staat einverleiben lassen
werde? Wenn man verlangt, dass der Sieger das Land des
Besiegten nur mit der Zustimmung der Bevölkerung an sich
ziehe , so verlangt man mit anderen Worten , dass er diess
überhaupt nicht thue; man will nicht blos, dass keiner einen
anderen ungerecht angreife , sondern man will auch , dass der
ungerecht Angegriffene darauf verzichte, seinen Gegner ftti' die
Zukunft unschädlich zu machen. Wer von einem Wegelagerer
angefallen wird , der soll zwar das Recht haben , sich zu ver-
theidigen ; aber das Versteck, in dem ihm dieser am nächsten
Morgen wieder auflauern wird, soll er ihm nicht wegnehmen
dürfen, es wäre denn, dass der Räuber selbst in sich gienge
und ihm sein Raubschloss auf höfliches Ansuchen überliesse.
Dass eine solche Theorie den Franzosen im gegenwärtigen
Augenblick sehi- gelegen käme, begteift sich; aber wenn an-
geblich Unparteiische ihren Neid und ihre Angst vor Deutsch-
lands aufleuchtender Grösse hinter so faule Vorwände ve^
stecken , so ist diess doch gar zu dreist ; und wenn es in
Deutschland selbst einzelne Doctrinäre gibt, denen die ver-
meintliche Consequenz ihres demokratischen Piincips höher
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 421
steht, als die Sicherheit ihres Vaterlandes, so mag man zwar
billig annehmen, dass sie nicht wissen, was siethun; nur wird
man leider in diesem Fall an das sokratische Paradoxon er-
innert, es sei besser, mit Wissen, als aus Unwissenheit, die
Unwahrheit zu sagen.
Ein Beispiel mag die Sache erläutern. Algier war Jahr-
hunderte lang der Hauptsitz der Seeräuberei iin Mittelmeer,
der Schrecken aller europäischen Seefahrer. Endlich kam
Frankreich in Krieg mit dem Raubstaat und eroberte das
Piratennest. Und es begieng den unverzeihlichen Fehler, die
Stadt, nachdem sie genommen war, dem fiüheren Besitzer
nicht wieder zurückzugeben, ja es behielt auch noch das Land,
was dazu gehörte. Auf das Princip der Nationalität konnte
es sich dabei freilich nicht belaufen: die Turco's sind ei-st
später in die französische Aimee aulgenommen und dadurch
gewissermassen für Angehörige der „grossen Nation" erkläit
worden. Auch nach dem Willen der Bevölkerung wurde nicht
gefragt: die Annexion durch Plebiscit war damals noch nicht
erfunden, und an Kabylen und Arabern wäre auch am Ende
selbst die Kunst des Henn Pietri verloren gewesen. Das war
nun allerdings noch das bourbonische Frankreich, welches sich
diese Missachtung der demokratischen Ginindsätze zu Schulden
kommen liess; aber auch das Bürgerkönigthum und das Kai-
serreich, die zweite und die dritte Republik hat es versäumt,
den Schaden wieder gutzumachen, und ihrer Hen*schaft über
die Kabylen des Atlas und die Beduinenstämme der Wüste
durch das alleinseligmachende Salböl des Plebiscits die Weihe
zu geben. Und was noch mehr zu verwundem ist: kein
Mensch in Europa hat an dieser himmelschreienden Ungerech-
tigkeit Anstoss genonunen. Man war wohl in England nicht
ohne Sorge über die Ausbreitung Frankreichs am Mittelmeer;
man hat wohl vielfach bezweifelt, ob es die Seeräuberei an
der Küste nothwendig machte, die französische Heri-schaft bis
in die Sahara auszudehnen, ob die Ohrfeige, welche der Dey
>ron Algier dem Gesandten Karl's X. gegeben hatte, die Ge-
nerale seines Nachfolgers berechtigte, unabhängige Völker-
422 ^^3 Becht der Nationalität
Schäften gewaltsam zu untei'werfen , und wenn sie sich nicht
fügten, niederzuhauen oder in ihren Zufluchtsorten durch Rauch
zu einsticken. Aber was die Eroberung Algiers betrifft, so
ist gegen ihre Rechtmässigkeit meines Wissens niemals ein
Bedenken erhoben worden ; dass dieser Landerwerb erst durch
die Zustimmung der Besiegten hätte legalisirt werden müssen,
ist nicht von dem eingefleischtesten Demokraten behauptet
worden. Nun, Deutschland befindet sich heute gegen Frank-
reich in demselben Falle, wie Frankreich vor viei-zig Jahren
gegen Algier; nur dass Frankreich eine ausser allem Vergleich
gi-össere Gefahr für uns ist, als der kleine Barbareskenstaat für
Frankreich war. Frankreich hat uns seit drei Jahrhunderten
bei jeder günstigen Gelegenheit übei-fallen, geplündert, unseres
Gebietes beraubt. Vergi-össeiung auf Kosten Deutschlands ist
der stehende Lieblingsgedanke der französischen Politik, und
die Ausführung dieses Gedankens stellt sich , . abgesehen von
den Grössenverhältnissen , den Thaten der muhamedanischen
Piraten würdig zur Seite. An Treulosigkeit und Verachtung
des Völkerrechts konnten Ludwig XIV. und die beiden Napo-
leon mit jedem von den Nachfolgern Jugurtha's wetteifern; die
Schaaren Türenne's und Melac's haben im südwestlichen Deutsch-
land schlimmer gehaust, als die türkischen Galeeren auf dem
Meere; an Raubsucht blieben die Sansculotten der Republik
und die Marechälle des ersten Kaisen^eichs hinter Chaireddin
Barbarossa und seinen Helden kaum zurück; und damit die
Aehnlichkeit vollkommen sei, führte das zweite Kaiserreich die
Nachkommen dieser Seeräuber, den Auswurf der nordafrikani-
schen Küste und die Wilden der Wüste, gegen unsere Fluren,
mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Kriegführung Melac's n .
wiederholen und „auch die Frauen nicht zu schonen**. Die
Regierung der Nationalvertheidigung hat von diesen schätz-
baren Bundesgenossen nicht mehr viele zur Veiiügung, sie
muss sich mit Garibaldi begnügen ; aber um ihrer Vorgängerin
nicht allzu unähnlich zu sein, ermuntert sie zum Meuchehnord
gegen unsere Soldaten, autorisirt sie den Ehrenwortsbruch
ihrer Offiziere, hat sie die ruchlose Austreibung und Miss-
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 423
handlung der friedlichen deutschen Bürger noch empörender
betrieben, als die kaiserlichen Behörden. Und einem solchen
Volke, einer solchen Regierung gegenüber verlangt man von
Deutschland, dass es irgend welche andere Rücksichten nehme,
als die seiner eigenen Sichei-ung; dass es die Bewohner der
Bezirke, die es hiefür nicht entbehren kann, erst befifage, ob
es ihnen gefällig ist, in die XJmwallung miteinzutreten, deren
Breschen wir nun endlich gegen den unverbesserlichen Nach-
bar für immer verstopfen wollen! Deutschlands Sache ist es,
sein Haus zu verschliessen ; wem es darin nicht gefällt , der
mag es verlassen; aber er verlange nicht, dass wir das Thor
offen lassen, damit er und seine Freunde bequemer darin aus-
und eingehen können.
Wenn jemals ein Land nach dem Recht der Eroberung
besessen werden konnte, so sind es die Gebiete, welche Deutsch-
land eben jetzt von Frankreich zuiückverlangt. Um ungerechte
Eroberung, um Vergrösseiningssucht kann es sich hier gar
nicht handeln, sondern einfach um Selbsthülfe zur Erlangung
dessen, was unser gutes Recht ist. Deutschland besitzt diese
Gebiete jetzt schon thatsächlich, und es wird sie nicht wieder
zurückgeben. Aber es will sie nicht blos auf dem Wege der
Eroberung besitzen, es will sich darüber mit Frankreich ver-
ständigen, es verlangt, dass sie ihm inx Frieden förmlich ab-
getreten werden. Die fifanzösische Regiemng verweigeit diess
zur Zeit noch; aber wenn die Zeit kommt, wo sie es nicht
mehr verweigern kann, oder wenn statt der augenblicklichen
Regieining eine solche eintritt, die es nicht mehr verweigert,
ist dann die Zustimmung der elsässischen und .deutschlothiin-
gischen Bevölkerung zu dem Friedensvertrag nothwendig, der
diese Abtretung ausspricht? Nach allem bisherigen können
wir diess nur verneinen. Die Sachlage ist einfach diese.
Deutschland ist von Frankreich mit einem ruchlosen Erobe-
rungskrieg überzogen worden. Es hat den Angriff zurück-
geschlagen und den Feind zu Boden geworfen. Es verspricht
ihm unter gewissen Bedingungen den Fiieden zu gewähi*en,
und unter diesen Bedingungen nimmt die Abtretung von Elsass
424 ^^ Hecht der Nationalität
und Deutschlothringen die erste Stelle em. Ob diese Be-
dingung billig oder unbillig ist, daiiiber kann kein Dritter
entscheiden, so lange die streitenden Theile nicht beide seine
Entscheidung anrufen; denn eben desshalb kommt es zum
Kriege, weil unabhängige Staaten keinen Richter über sich
haben, dem sie ihre Streitigkeiten vorzulegen vei-pflichtet wären.
Deutschland aber wii*d sich wohl hüten, einen fremden Schieds-
richter anzurufen, oder eiAon unbeinifenen , der sich ihm auf-
drängen möchte, anzunehmen. Es wird ebensowenig freiwillig
auf seine Bedingungen verzichten. Frankreich hat demnach
nur die Wahl, ob es diese Bedingungen annehmen, oder ob
es den Krieg mit Gefahr seines Untergangs bis zur gänzlichen
Erschöpfung seiner letzten WideMandskraft fortsetzen will.
Entscheidet es sich nun für das erstere, mit welchem Rechte
könnten die Bewohner der abzutretenden Provinzen verlangen,
dass der Friedensvertrag ungültig sein solle, wenn sie ihm
nicht beistimmen? und von wem können sie es verlangen?
Von Frankreich ? Aber Frankreich hat nicht die Veipflichtung,
gegen das, was die Nation durch ihre gesetzlichen Organe be-
schliesst, einem kleinen Theil derselben ein Einspruchsrecht
einzuräumen; das Interesse des Ganzen, welches den Frieden
um jeden Preis fordert, den Wünschen und Interessen emes
Theils unterzuordnen. Von Deutschland? Aber Deutschland
schliesst den Friedensvertrag nicht mit ihnen, sondern mit
dem Staate, von dem sie nur ein Theil sind, und den Gegen-
stand dieses Vertrags bilden, wie schon gezeigt wui'de, nicht
ihre Privatrechte, sondeni die Rechte, welche der französische
Staat bisher in dem von ihnen bewohnten Gebiet ausgeübt
hat. Es kann allerdings in den Vertrag über eine Gebiets-
abtretung die Bedingung aufgenommen werden , dass er un-
gültig sein solle, wenn die Bevölkeining der betreflfenden
Landestheile nicht damit einverstanden ist; aber durch die
rechtliche Natur eines solchen Vertrags ist dieser Vorbehalt
nicht gefordei-t, und wenn er nicht ausdrücklich gemacht wird,
so ist die Gültigkeit des Vertrags durch jenes Einverständniss
nicht bedingt.
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 425
Doch wenn diess auch dem strengen Rechte gemäss sein
mag, ist es auch billig, ist es auch klug? Kann man von
denen, welche seit Jahrhunderten mit Frankreich verbunden
waren, verlangen, dass sie sich jetzt als Deutsche fühlen sollen,
von denen, welche uns bis auf diesen Augenblick als Feinde
gegenüberstanden, dass sie jetzt bereitwillig in unsem Staat
eintreten? Was kann andererseits Deutschland an Bürgern
gelten sein, die ihm nur widei*willig und gezwungen angehören,
deren Besitz ihm nur ein Element der Schwäche, eine Gefahr
wäre? Auf diese weichmüthige Frage ist in der Hauptsache
bereits geantwoi*tet. Man kann den Elsässern und Lothringern
allerdings nicht zumuthen, dass alle ihre politischen Gefühle
sich mit einemmaJe verwandeln; aber man kann gerade dess-
halb auch Deutschland nicht zumuthen, dass es seine Sicher-
heit und seine Interessen von diesen Gefühlen abhängig mache.
Deutschland bedari zu seiner Sichemng gegen einen ehrgei-
zigen, eroberungssüchtigen, friedlosen Nachbar einer besseren
Grenze, das hat es während zwei Jahrhunderten mit Schmerzen
erfjEthren, und es hat Recht und Pflicht, diese Grenze so zu
bestimmen, wie sie jenem unbedingt massgebenden Zweck am
besten dient. Es bedarf aber aus dem gleichen Giund auch
einer ausreichenden Sühne für den Frevel, den jener Nachbar
durch seinen räuberischen Angriff begangen hat. Frankreich
hat uns mitten im Frieden übeiiallen, um uns die schönsten
Provinzen zu entreissen, unser werdendes Staatswesen zu zer-
stören ; und nachdem es von der deutschen Volkskraft nieder-
geworfen worden ist, wie noch nie ein so mächtiger Staat
gleich rasch und gleich vollständig niedergeworfen wurde, sollte
es schliesslich wesentlich unbeschädigt aus dem Kampf her-
vorgehen, es sollte ihm selbst ein massiger Gebietsverlust er-
spart bleiben , während es uns einen viel grösseren zugedacht
hatte? Deutschland hätte das edelste Blut in Strömen fliessen
sehen, um nichts weiter zu en-eichen, als eine vorübergehende
Abwehr des Angriffs und eine Geldentschädigung, welche nicht
einmal die Verluste decken würde, die der ruchlos begonnene
Krieg für den Wohlstand unseres Volkes herbeigeführt hat?
426 I>as Hecht der Nationalität
Das deutsche Gefühl empört sich bei diesem Gedanken; aber
auch die kälteste politische Berechnung wird bekennen müssen,
dass es damit Recht hat, dass ein solches Ende des riesigen
Kampfes die grösste Gefahr in sich schliessen würde. *) Durch
Grossmuth wird ein Sieger seinen Gegner überhaupt nur selten
entwaffnen; dass sich Frankreich auf diesem Wege nicht
entwafhen lässt, haben die letzten fünfzig Jahre zum Ueber-
mass dargethan. Man war im ersten und zweiten Pariser
Frieden gi-ossmüthig gegen Frankreich, und was war der Dank
dafür? Dass es fortwährend zu dem älteren Raube, den man
ihm zur Ungebühr gelassen hatte, auch noch den späteren, den
man ihm wieder abnahm, hinzu verlangte , dass es unablässig
seine Hände in den deutschen Dingen hatte, nach deutschem
Gebiet ausstreckte, dass es das Recht, uns politisch zu bevor-
munden, als selbstverständlich für sich in Anspruch nahm, dass
es nicht eher ruhte, bis es den schrecklichen Völkerkampf
entzündet hatte, dessen Geissei es selbst nun am schwersten
zu fühlen bekommt. Um kein Haar anders gienge es auch in
Zukunft, wenn Deutschland schwach genug wäi-e, den Fehler
zum zweitenmal zu begehen, den es damals, Dank seinen Ver-
bündeten und seiner östeiTeichischen Vormacht, begangen hat
Auf die Franzosen, so wie sie ihrer unendlichen Mehi-zahl nach
sind, würde die Grossmuth in diesem Fall schlechterdings kei-
nen anderen Eindmck machen, als den der Schwäche. Sie
würden uns auslachen, uns verachten, sich über unseren Un-
verstand lustig machen. Der Grössenwahnsinn , den dieses
Volk mit der Muttermilch einsaugt, der Glaube an das be-
*) Ein Volk, das zwar feindliche Angriffe abwehrte und auch etwa
von dem Angreifer Schadensersatz forderte, das sich aber nicht für berech-
tigt hielte, ihm eine weitere Strafe aufzulegen, wäre andern Völkern gegen-
über um nichts besser gesichert, als es der innere Rechtszustand in emem
Staat wäre, der kein Strafgesetz hätte, wo sich also z, £. der Dieb keiner
grösseren Gefahr aussetzte, als der, dass man ihm das gestohlene Gnt wie-
der abnähme. Die Bestrafung des Angreifers wird aber, wenn dieser ein
fremder Staat ist, in der Begel nur in einer Gebietsabtretung bestehen
können; denn eine Geldbusse ist, wie gerade unsere neuste Erfiihrong mit
Frankreich zeigt, zu schneU verschmerzt, um erfolgreich zu wirken.
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 427
rechtigte üebergewicht Frankreichs, an den unwiderstehlichen
Zauber seines Namens würde neue Nahrung erhalten. „Unsere
Heere sind besiegt worden, aber der Feind hat es nicht ge-
wagt, unser Gebiet anzutasten ; Frankreich erhob sich in seiner
Majestät, und die nordischen Barbaren entwichen von seinem
heiligen Boden." Diess allein würde der Eindruck sein, der
von den Erfahrungen dieses gewaltigen Jahres im Gedächtniss
des leichtsinnigen Volkes haften bliebe. Der Durst nach Rache
würde dadurch natürlich nicht vermindert werden: ein Volk,
das sich fünfzig Jahre lang die Bache für Waterloo nicht aus
dem Sinn schlagen konnte, das in der Verblendung seiner
Eifersucht selbst für Sadowa Rache forderte — ein solches
Volk wird uns Wörth und Forbach, Gravelotte und Sedan,
Sti^assbui-g und Metz und Paris und wie seine Niederlagen
alle noch heissen, niemals verzeihen. Aber zum Durst nach
Rache käme zuverlässig, wenn es ohne empfindliche Einbusse
aus dem Krieg hervorgienge, noch die Meinung, es könne ihn
befriedigen, ohne für sich selbst etwas erhebliches aufs Spiel
zu setzen. Es liegt auf der Hand, dass damit die Wahrschein-
lichkeit einer baldigen Erneueining des Kampfes um vieles
näher gerückt wäre. Eine Gebietsabtretung allein gewährt
die moralischen, wie die materiellen Bürgschaften gegen die
Gefahr, mit der Deutschland von Frankreich bedroht ist.
Ebendesshalb aber hat Deutschland das unbedingte Recht,
eme solche zu fordern, und es ist eine Thorheit, ihm dieses
sein Recht für den Fall zu bestreiten, dass es der Feind nicht
nach seinem Geschmack findet
Aber gerade der Umstand, dass wir mit Frankreich im
Krieg liegen, wird von manchen mit einer Unbefangenheit
ignoiirt, die man bewundem könnte, wenn sie nicht eine
ebenso grosse Gedankenlosigkeit wäre. Von England aus
wamt man uns mit tugendhafter Salbung vor den Lastern der
Eroberungslust und des Blutdurstes ; man findet es unverzeih-
lich, dass wir durch unsere übertriebenen Forderungen die
friedliebende Nation zur Foitsetzung des Krieges zwingen, mit
der sich durch Verkauf von Waffen und Munition zum Todt-
428 ^as Hecht der Nationalität
•
schiessen unserer Soldaten ein so gutes Geschäft machen lässt;
und in angesehenen Schweizer Blättern wird eine Sprache ge-
führt, als ob Deutschland, wenn es heute Lothringen oder das
Elsass ohne die Zustimmung der Bevölkeiung in Besitz ninunt^
sich morgen auf Basel und Schalfhausen stüi-zen würde. Dass
jene Gebiete einem feindlichen Land angehören, diese dagegen»
so lange die Schweiz nicht etwa, wie Frankreich, einen Er-
oberungskrieg gegen Deutschland untenaimmt, einem befreun-
deten, finden die ehrenwerthen Verfasser jener Artikel nicht
nöthig in Betracht zu ziehen. Nicht anders machen es auch
unsere Socialdemokraten und alle, die mit ihnen gegen die
Gewalt protestiien , welche dem Bi-udervolk in Frankreich an-
gethan werden solle. Die Kleinigkeit, dass dieses Bindervolk
zuerst uns Gewalt angethan, dass es sich nicht blos gegen
unsere Soldaten, sondern auch gegen unsere Arbeiter nebst
ihren Frauen und Kindeni sehr unbrtiderlich benommen hat,
dass feiner der Krieg darin besteht, Gewalt mit Gewalt zu
vertreiben, und die Folgen desselben dem Besiegten niemals
angenehm sind, haben diese Apostel der Völkerverbiiidening
gleichfalls vergessen. Wenn die Deutschlothringer und Elsässer
erst Bürger des deutschen Staats sind, dann werden ihnen
selbstvei-ständlich auch die Rechte dieser Bürger nicht ver-
kümmert werden. Aber zur Zeit gehören sie noch dem Staat
an, mit dem wir Krieg führen, und dass ein Volk über die
Massregeln, die es zu seiner Sicherung ergreifen will, Theile
des feindlichen Volkes mitbeschliessen lässt, ist doch wirklich
nicht üblich.
Ist es nöthig, nach allem bisherigen auch noch der Be-
hauptung zu erwähnen, das französische Volk als solches habe
deu Krieg gar nicht gewollt, ei* sei ihm gegen seinen Wunsch
von einer despotischen Regiei-ung aufgenöthigt worden, und es
dürfe desshalb für denselben nicht verantwortlich gemacht
werden? Diese Behauptung ist bekanntlich nicht nm- von
Jules Favre in seinem ersten B.undschreiben aufgestellt wor-
den, um Deutschland, falls es auf der Gebietsabtretung bestehe,
den frechen Vorwurf zu machen, dass es jetzt der Angreifer
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 429
geworden sei, der aus schnöder Eroberungssucht seine Nach-
barn beraube: auch Männer wie Renan und Guizot haben es
nicht verschmäht, sich hinter eine so nichtige Ausflucht zuillck-
2uziehen; während der gefangene Kaiser seinerseits versichert,
er habe mit der Kriegserkläining nur dem unwiderstehlichen
Andringen der öffentlichen Meinung nachgegeben. Es ist diess
allerdings für die gegenwärtige Lage bezeichnend: nach der
vermessenen Siegeszuversicht des kaiserlichen, neben den kin-
dischen Grossprechereien und den officiellen Lügen des repu-
blikanischen Frankreichs dieses Bekenntniss, dass seine Sache
nicht blos im Felde verloren, dass sie auch innerlich faul sei.
Denn etwas anderes ist es ja doch nicht, wenn für das, was
geschehen ist, niemand die Verantwortlichkeit tragen will, und
jeder auf den andern die Hauptschuld schiebt. In Wahrheit
ist dieselbe zwischen den verschiedenen Persönlichkeiten und
Pai1;eien zwar ungleich vertheilt ; allein es ist kaum irgend ein
Einzelner, ganz sicher aber keine Partei in Frankreich, die für
ihren Theil davon frei wäre. Alle ohne Ausnahme haben den
nationalen Dünkel von einem berechtigten Uebergewicht Frank-
reichs, die eigentliche Quelle alles Unheils, gehegt und gepflegt;
alle haben an dieses Nationalvorurtheil appellirt, bald um sich
selbst zu vertheidigen und in's Licht zu stellen, bald um die
Gegner anzuklagen, dass sie ihm zu nahe treten; fast alle
haben auch in den Ruf nach der ßheingi*enze , nach Wieder-
vergeltung für Waterloo und für Sadowa eingestimmt: die
einen direkt, indem sie diese Dinge verlangten, die anderen
indirekt, indem sie die Regierung angriffen, weil sie die Ver-
grosserung Preussens nicht verhindert habe, indem sie den
Sieg Preussens als eine Niederlage Frankreichs, die Einigung
Deutschlands als eine Gefahr und Demüthigung für seinen
Nachbar darstellten. Alle haben daran gearbeitet, die Lage
zu schaffen, deren Frucht der Krieg war. Für das Recht
Deutschlands, sich nach eigenem Ermessen und Bedürfniss
einzurichten, hat sich nur hie und da eine vereinzelte Stimme
erhoben, gegen die Befugniss Frankreichs, alle Nationen der
Erde zu beaufsichtigen und zu hofmeisteni , überhaupt keine.
430 I>äs Kecht der Nationalität
Die gleichen Leute, welche jetzt das Selbstbestimmungsrecht
französischer Landestheile bis zur Spitze des Widersinns trei-
ben, waren vollkommen bereit, das Selbstbestimmungsrecht
Deutschlands mit Füssen zu treten.
Als der Kiieg erklärt wurde, feierte nicht allein in der
kaiserlich gesinnten Mehrheit des gesetzgebenden Körpers der
Chauvinismus mit wüstem einmüthigem Kriegsgeheul seine
Orgien, sondern auch von der Opposition machte die gi'össere
Hälfte mit ihr gemeinsame Sache ; und unter den wenigen, die
einen Widei'spruch wagten, war nicht Einer, welcher den räu-
berischen Ueberfall gegen einen friedlichen Nachbar als einen
Frevel und ein Unrecht veinirtheilt hätte, sondern nur das
wurde bezweifelt, ob das Unternehmen nicht zu gefährlich, ob
man auch hinreichend gerüstet, ob es zur Ausführung des
Planes, mit dessen Zweck man ganz einverstanden war, nicht
zu fi1ih oder zu spät sei. Der Hauptsprecher der Opposition
war der Mann, welcher seit 40 Jahren mehr, als irgend ein
anderer, dafür gethan hatte, dass die napoleonischen Traditio-
nen bei seinen Landsleuten lebendig erhalten, die napoleoni-
schen Legenden geglaubt und ausgeschmückt, die napoleonischen
Schlachten und Eroberungen als der Höhepunkt französischer
Grösse, als das Ideal jedes ächten Franzosen gefeiert, dass die
Begierde nach Länderraub und nach Kriegsiuhm immer neu
aufgestachelt, der Rechtsanspmch auf das linke Rheinufer zum
nationalen Glaubensartikel gemacht wurde. Wo ist da die
Partei, welche die Mitverantwortlichkeit für das, was geschehen
ist, von sich abwälzen könnte, imd wie leicht zu zählen sind
auch die einzelnen Männer, die diess können! Es ist mög-
lich, dass die Mehrheit der Franzosen, wenn ihnen die Frage
über Krieg oder Frieden so nackt zur Entscheidung vorgelegt
worden wäre, für den Frieden gestimmt hätte ; der Bürger und
der Landmann scheut sich ja immer mit Recht vor den Opfern,
die der Krieg mit sich bringt. Aber es ist höchst wahrschein-
lich, dass eine mindestens ebenso grosse Mehrheit den Krieg
begehrt hätte, wenn die Frage nur gehörig für sie zm-echt-
gemacht und die Antwort, die man wünschte, der bestinunbaren
und die freie Selbstbestimmung der Völker. 431
Masse mit den vielvermögenden Mitteln der Regierung*) em-
pfohlen wurde; und es ist ganz sicher, dass der Zweck, welcher
sich nur dui-ch einen Krieg erreichen liess, die Demüthigung
Preussens, die Befestigung des französischen Prestige, die Er-
werbung der deutschen Rheinlande, von allen ohne Ausnahme,
oder mit kaum nennenswerthen Ausnahmen , gebilligt worden
wäre. Den unglücklichen Krieg verdammt man, dem erfolg-
reichen würde man einstimmig zugejauchzt haben. Doch es
ist ganz übei-flüssig, daiüber zu streiten. Die rechtlichen
Beziehungen zwischen den Völkeni richten sich nicht nach
dem, was unter Umständen geschehen sein würde, sondern
nach dem, was geschehen ist, nicht nach den Vermuthungen,
sondern nach den Thatsachen, und auch das Verhalten Deutsch-
lands gegen Frankreich hat sich nur danach zu richten. That-
sache aber ist es, dass Frankreich seit Jahrhunderten unter
allen Dynastieen und Regieiningsfoi-men Händel mit Deutsch-
land gesucht, bei jeder günstigen Gelegenheit, die sich ihm
darbot, unser Land mit Krieg überzogen und Stücke von ihm
abgerissen hat. Thatsache ist es, dass es den letzten Krieg
ohne jeden Rechtsgiaind , ja selbst ohne jeden Rechtsvorwand,
in der Absicht, deutsches Land zu rauben und die politische
Unabhängigkeit Deutschlands zu vernichten, nach vorbedach«
tem Plane und umfassender Rüstung angefangen hat. That-
sache ist es, dass bei allen diesen Ueberfällen und Raubkriegen
die Deutschland entrissenen Länder und Festungen für uns die
gi'össte Gefahr, für unsere Feinde der unberechenbarste Vor-
theil waren. Thatsache ist es, dass die Schonung, welche man
Frankreich beim ersten und zweiten Pariser Frieden angedeihen
liess, die fortwährende Bedrohung der deutschen Grenze so
wenig, wie den neuesten Angriff, irgendwie zu hindern ver-
mocht hat. Ob das französische Volk bei diesem Verhalten
gegen Deutschland mehr seiner eigenen Neigung oder mehr
*) Und des ultramontanen Klerus, dessen Betheiligung an dem Angriff
auf Preussen sich inzwischen ebenso unzweifelhaft herausgestellt hat, wie
der Zusammenhang dieses Angriffs mit den Planen, deren Frucht das va-
ticanische Concil war.
432 ^&s Hecht der Nationalität u. die freie Selbstbestimmung d. Völker.
fremder Führung folgt, und ob es dieser Führung zu wider-
stehen nicht den Willen oder nicht die Fähigkeit hat, ist fü>
uns gleichgültig;*) die Gefahr ist für Deutschland in dei^
einen Fall ganz dieselbe, wie in dem andern: die Nachbac-
Schaft einer Nation, von der es unablässig mit unbefugter Ei^
mischung in seine Angelegenheiten, mit Krieg und Länderravxi
bedroht ist. Dieser Gefahr zu begegnen, gibt es nur Ein
Mittel : dass das deutsche Volk , in sich selbst stark und ge-
einigt, dem Friedensstörer die Gebiete wieder abnimmt, die
ihm bisher als Ausfallsthore gegen Deutschland gedient haben,
und dass es ihn ebendadurch zugleich überaeugt, Frankreich
habe nicht allein unter allen Völkern das Vorrecht, Erobenings-
kriege unternehmen zu dürfen, bei denen es im Fall des Miss-
lingens keinen Gebietsverlust für sich selbst zu befürchten
hätte.
*) Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus konnte indessen gerade bei
dem letzten Krieg um so weniger bezweifelt werden, dass das französische
Volk die Verantwortlichkeit für die Handlungen der kaiserlichen Regierung
ihrem vollen Umfang nach mitzutragen habe, da eben dieses Volk dem
Kaiser unmittelbar zuvor die Vollmacht, es zu vertreten, durch das Ple-
biscit vom 8. Mai 1870 mit der überwältigenden Mehrheit von TVa Millionen
Stimmen bestätigt hatte.
XII.
Nationalität und Humanität.
(Vorgetragen in Berlin 1873.)
Unter den Verbindungen, in welche die Natur selbst den
Menschen gestellt hat, sind zwei die umfassendsten: die Ver-
bindung des Einzelnen mit seinem Volke und seine Verbindung
mit der Menschheit In dem Ganzen der Beziehungen, welche
uns mit unseren Volksgenossen verknüpfen, besteht unsere
Nationalität; auf dem Gefühl unseres Zusammenhangs mit
der Menschheit beruht die Humanität. Diese zwei gi*ossen
Formen der menschlichen Gemeinschaft stehen aber zu ein-
ander in einem gewissen Gegensatz, welcher unter Umständen
sogar zum Widerstreit fortgeht. Die Nationalität hat den
durchgi-eifendsten Einfluss auf alle realen Lebensverhältnisse;
sie bedingt für die meisten, mit der Gleichheit der Sprache,
die Möglichkeit des gegenseitigen Verkehi-s ; auf ihrem Gnmde
baut sich das Staatsleben auf, welches unser Dasein nach allen
Seiten mit seinen Ordnungen umfasst und durchdringt. Dieser
realen Gemeinschaft gegenüber ei*scheint der Satz von der Zu-
sammengehörigkeit aller Menschen als der Ausdinick eines
sittlichen Ideals, nicht eines thatsächlichen Verhältnisses ; denn
in der Wirklichkeit stehen wir ja nur mit dem kleinsten Theile
des Menschengeschlechts in Verbindung, alle anderen dagegen
sind uns theils ganz unbekannt, theils haben sie wenigstens
auf unseren Zustand so wenig einen Einfluss, als wir auf den
Zeller, Vorträge und Abhandl. 28
434 Nationalität und Humanität
iluigen. Aber doch hängt die Reinheit und Allgemeinheit
unseres sittlichen Bewusstseins von der Kräftigkeit ab, mit der
jenes Ideal in uns lebt, und es zeigt sich uns so beides gleich
unentbehrlich: während die Stärke und Tüchtigkeit unseres
staatlichen Gemeinlebens auf der Kraft des nationalen Geistes
und Gefühls ruht, ist doch alle höhere Bildung dadurch be-
dingt, dass wir uns zur Idee der Menschheit erheben und uns
durch sie von den Schranken der Nationalität befi-eien lassen.
Wie lässt sich nun aber dieses beides vereinigen? Je kräf-
tiger unser Nationalgefühl sich entwickelt, um so ausschliess-
licher, scheint es, wird auch unser Interesse sich auf unser
Volk beschränken, um so weniger werden wir andere unbe-
fangen zu würdigen, ihre Eigenthümlichkeit und ihre Rechte
zu achten geneigt sein, um so mehr stehen wir in Gefahr, aus
Vorliebe für das eigene Volk die Pflichten der Humanität und
der Gerechtigkeit gegen andere zu verletzen. Je bereitwilliger
wir andererseits fremde Vorzüge und Leistungen anerkennen,
das Gute und Schöne, wo wir es auch finden mögen, uns an-
eignen, von jedem, der uns belehren kann, woher er sei, lernen,
um so leichter kann es uns begegnen, dass wir im Vergleich
mit dem blendenderen Ausländischen den Werth des Ein-
heimischen verkennen, mit der fremden Eigenthümlichkeit auch
fremde Anmassungen in den Kauf nehmen, aus idealer Be-
geisterung für die Menschheit die realen Interessen unseres
Volkes vemachlässigen. Es scheint so zwischen den Anforde-
Hingen der Nationalität und denen der Humanität ein natür-
licher und unvermeidlicher Widei'streit stattzufinden, und es
fragt sich, ob wir überhaupt und auf welchem Wege wir Aus-
sicht haben, diesen Streit zu versöhnen und beiden Seiten
gleich sehr gerecht zu werden.
Diese Frage ist uns Deutschen ganz besonders nahe ge-
legt. Wir haben die Zeit noch in frischer Erinnerung, wo
man